Ich hab ein Erdbeben überlebt – vom Glück-gehabt-Gefühl im Kindesalter


Ihr habt mich ermuntert, mehr von meinen Kindheitserinnerungen in Rumänien zu erzählen. Heute erinnere ich mich  an ein einschneidendes Erlebnis, das im kollektiven Bewusstsein meiner Landsleute eingebrannt ist. Am 4 März 1977, also vor genau 40 Jahren, gab es ein heftiges Erdbeben in Rumänien. Ich habe es als Kind erlebt – und überlebt, mit einer gehörigen Portion Angst, aber auch mit vielen „Glück-gehabt“-Gefühlen.

Ich war acht Jahre alt. Es war ein Abend der ruhigen Art, ohne Gäste, die bei uns recht üblich waren. Wir hatten zu Abend gegessen und ich sollte gebadet werden. Das warme Wasser war volle Pulle da, was nicht immer eine Selbstverständlichkeit war im armen Rumänien. Ich hampelte gerade in Strumpfhosen herum und äffte Abba nach, während meine Badewanne sich füllte. Dann ging es los…

Zuerst dachte ich: Mega Gewitter. Wow!

Ich kann mich natürlich nur diffus erinnern, aber den ersten Moment habe ich noch ganz klar – nicht vor Augen – aber in den Ohren. Das Geräusch klang wie ein unglaublich starkes Gewitter, das plötzlich da ist. Ich mochte als Kind Gewitter. Ich mag sie immer noch. Fragt mich nicht warum, aber ich verband es immer mit schönen Gefühlen von Aufregung, Rückzug, Freude über Blitze und dann die Erlösung durch den Krach. Seit Kindheit an überkommt mich bei Gewitter immer ein Partygefühl, das kein Feuerwerk der Welt auszulösen vermag. Deswegen hatte ich keine Angst, zunächst.

Dann brüllte mein Vater: „Raus hier, auf ins Treppenhaus!“

Jetzt muss ich euch eine Vorgeschichte erzählen, die meine Eltern in den Tagen nach dem Erdbeben allen, die es hören und nicht hören wollten erzählten: Einige Tage vor der Naturkatastrophe soll meine Mutter beim Abendessen gefragt haben, absolut aus dem heiteren Himmel: „Was machen wir, wenn es ein Erdbeben gibt?“

Zufall? Vorsehung? Jetzt muss man sagen, dass Rumänien in der Tat ein Erdbeben-Gebiet ist. Es soll schon in den 40ern ein ziemlich heftiges Erdbeben gegeben haben, an das sich meine Eltern noch erinnerten. Aber dass meine Mutter einige wenige Tage vor dem dramatischen Naturereignis genau daran denkt, mag Zufall gewesen sein, kann uns aber das Leben gerettet haben. Denn die wichtigsten Überlegungen hatten meine Architekteneltern bereits getan, und konnten blitzschnell reagieren. Als meine Mutter im Vorfeld gefragt hatte,  ist mein Vater im Kopf die Bauweise unseres Mehrfamilienhauses durchgegangen… (Pardon: Plattenbaus. Einer der renommiertesten Professoren der Architektur im kommunistischen Bukarest musste per Parteianordnung in einer Platte wohnen, aber das tut gerade nichts zu Sache, das ist nur eine der Absurditäten, mit denen ich aufgewachsen bin). Mein Vater schloss, der einzige sichere Ort sei das Treppenhaus, weil aus Stahlbeton.

In dem Moment, als es losging, wußte meine beiden Eltern genau, wohin. Meine Mutter schnappte mich und eilte aus dem Wohnzimmer. Mein Vater schob noch von hinten. Hinter uns hörte ich es krachen, und zwar massiv. Die Bibliothek meines Vaters, verteilt über drei Regale bis zur Decke, stützte runter, und zerstörte unseren massiven Esstisch. Wir konnten das nicht mehr sehen, nur noch hören. Es war Abends, das elektrische Licht war auch weg.

Ich kann mich nicht erinnern, wie lang alles dauerte. Ich glaube ich hatte etwas Angst, aber nicht viel. Ich kann mich eigentlich noch erinnern, dass meine Neugier größer war als die Angst. Ich wollte überhaupt kapieren, was da vor sich geht. Mein Vater, ganz der Professor, legte mit Dozieren schon los, bevor das Ganze zu Ende war. Er sprach von Erdplatten und Verschiebungen, und erzähle vom Vesuv, das er schon mal aktiv erlebt hatte. Das war so cool, dass ich gar keine Angst mehr hatte.

Aber dann hieß es: „Wir müssen unbedingt raus, ins Freie!“

Wir hatten alle nasse Füße, weil das Wasser aus der Badewanne rausgeschwappt war. Es war unangenehm, aber meine Ma beschloss, dass wir uns nicht mehr mit Umziehen aufhalten sollten und beorderte mich in Gummistiefel und Mantel. Wir schnappten die Jacken und gingen in den nächstgelegenen Park, wo bereits ganz viele Menschen waren.

Es war richtig kalt und meine Füße froren in den Gummistiefeln. Ansonsten war die Atmosphäre gar nicht mal so schlecht. Einige hatten Feuer gemacht, so wurden meine Strümpfe etwas später auf einem Stock in die Hitze gehalten und getrocknet. Ich glaube, die Erwachsenen hatte schon einiges an Alkohol und Essen organisiert, einige sangen. Es breitete sich unter allen, die da herum standen, sogar tanzten oder in Decken eingehüllt auf Parkbänken saßen, ein Glück-gehabt-Gefühl aus: Wir waren am Leben, das zählte. Ich spürte das. Ich spürte, dass es eine coole Sache ist, am Leben zu sein… Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann wir nach Hause kamen – laut meinen Eltern muss es in den Morgenstunden gewesen sein.

In den nächsten Tagen wurde der Ausmaß der Katastrophe klar

Bukarest war eine halbe Ruine. 35 Gebäude waren vollends eingestürzt, an vielen anderen gab es massive Schäden. Mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala und dem Epizentrum im Vrancea-Gebiet, am östlichen Rand der Karpaten, hatte das Erdbeben katastrophale Folgen für Menschen, Wohn- und Wirtschaftsanlagen. Der Verkehr war erlahmt, die Telefonleitungen tot, elektrisches Licht kam auch erst nach 1-2 Tagen, in machen Bereiche der Stadt war auch die Wasserversorgung ausgefallen. Wir gingen zu Fuß durch die halbe Stadt um zu meiner Großmutter zu gelangen. Wir sahen unterwegs viele Stellen in Schutt und Asche, wo Helfer versuchten, Überlebende zu finden. In den Straßen kochten Leute an Feuerstellen Wasser ab. Irgendwann kamen Bauern in die Stadt, und verkauften Milch, Gemüse, Eier direkt in den Straßen, aus den Kofferräumen sozusagen.

Schlimmer war zu erfahren, wer alles gestorben war: Freunde und Bekannte – aber auch Personen den öffentlichen Lebens. Schauspieler und Regisseure, die wir liebten, Schriftsteller, Sänger. Ein ohnehin armes Land war schwer getroffen worden.

Die große Angst war, dass die Natur erneut zuschlagen würde

Auch wenn der Moment selbst für mich nicht schlimm gewesen ist, mein verspieltes Köpfchen schnallte schon, dass das nichts war, was wir noch mal erleben wollen. Auch in der Schule trainierten wir, was zu tun sei, im Falle eines erneuten Erdbebens, nämlich unter die Schulbänke uns in Sicherheit zu bringen, falls es im Unterricht losgehen würde – ansonsten war auch das Treppenhaus die sicherste Konstruktion. Alle sprachen davon – und einige waren schon ganz schön erschrocken. Vor allem diejenigen, die jemanden aus der Familie verloren hatten – das war zum Glück bei uns nicht der Fall.

Ich erinnere mich mit Respekt und Ehrfurcht an diese Tage, aber ich muss sagen, dass sie mich im Großen und Ganzen nicht traumatisiert haben. Keine Ängste, keine Alpträume, ich bin relativ unbeschadet geblieben. Ich kann in vielen Augenblicken noch auf das Glück-gehabt-Gefühl zurückgreifen.

Es ist ein gutes Gefühl, das mir oft im Leben hilft.

Erdbeben_Bukarest_1977

Habt ihr auch schon mal so etwas erlebt? Kennt ihr das Glück-gehabt-Gefühl? 

Liebe Grüße,

Béa

Mehr zu meiner Kindheit:

Auch ich bin ein Flüchtling

Der Brief meiner Mutter, der mir im Leben Mut macht

Resilienz – warum ich nicht zerbrochen bin

…und vielleicht wird noch ein Buch daraus.

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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1 Kommentare

Sylvia
Antworten 5. März 2017

Hallo Béa,
Danke für einen weiteren Teil deiner Geschichte und Danke, dass du uns daran teilhaben lässt.

Am 29.11.16 hatte ich einen Autounfall. Ich kam von der Straße ab, mein Auto überschlug sich viermal.
Ich hatte Glück, Glück dass ich einem entgegen kommenden Auto noch ausweichen konnte, Glück, dass ich in einem Feld mit verblühten Sonnenblumen aufkam, Glück, dass da kein Baum stand.
Meine Großmutter war bei mir und schützte mich vom Himmel aus.

Das Glück dass Anna noch ihre Mama hat und dieses Jahr noch jemand zu mir Mama sagen darf.

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