Regeln befolgen oder: Wie lernen Kinder, ihr Gehirn einzuschalten?


Ihr kennt bestimmt die Situation, wenn ihr ohne Kind unterwegs seid: Rote Ampel, weit und breit kein Auto. Sind da nur Erwachsene, gehen sie alle selbstverständlich über Rot.

Auch ich.

Steht da auch nur ein einziges Kind, gibt es selten den Fall, dass ein Erwachsener trotzdem geht. Auch ich mache es nicht. Diese gemeinsame gesellschaftliche Erziehungsaufgabe gibt als moralischer Imperativ. Wir haben das so gelernt, und basta.

Als meine Tochter älter wurde, und bei jedem Kind als „Erwachsen“ hätte durchgehen können, habe ich es ihr genau so beigebracht. Also auch mit der Präzisierung: „Ist kein Kind da, natürlich können wir auch über Rot. Wir können abschätzen, ob ein Auto kommt oder nicht,“

Das hat sie einmal sogar 60 Euro gekostet.
Tja: Die Berliner Polizei braucht Geld. Mitten am Ku’damm fingen sie im letzten Winter Rote-Ampel-Gänger ein und wer nicht blitzschnell als Tourist tat, musste zahlen. Ich habe ihr die Hälfte gegeben.
Weder sie noch ich haben daraus gelernt, es nie wieder zu tun – sondern uns nur nicht erwischen zu lassen. (Die Sache mit den Strafen habe ich bei Scoyo beschrieben, das ist ein anderes Thema.)

Hier geht es mir um etwas anderes:

Regeln befolgen oder Regeln in Frage stellen – was ist richtig? Wir sehr gehen wir mit unseren Kindern auf eine Suche nach dem Ausmaß der Regelbefolgung, und wie sehr ermuntern wir sie, einen eigenen Spielraum zu finden? Grundsätzlich bin ich dafür, dass Kinder lernen, ihr Gehirn stets eingeschaltet zu lassen – lieber eine Frage mehr zu stellen, eine Maxime mehr zu hinterfragen und sich ihr eigenes Urteil zu bilden.

Ich kann mit Essen spielen UND es aufessen.

Jedes Mal, wenn ich bei Facebook entweder Food-Art poste… so etwas hier :

Food_Art_Kinder

…kann ich die Uhr danach stellen, dass ich auch Kommentare der Sorte erhalte: „Das ist böse, mit dem Essen spielt man nicht!“

Auch bei einer Bastelei , bei der ein Buch das Bastelmaterial ist 

Basteln_aus_buechern

…regen sich die Gemüter auf, weil „man zerstört Bücher nicht.“

Das ist meiner Meinung nach völlig unreflektiert, gebetsmühlenartig eingetrichtert und stur wiedergegeben. Es ist den Food- & Book-Moralaposteln herzlich egal, dass die Kunstwerke restlos verputzt werden, oder dass dieses eine Buch, mit dem gebastelt wurde, einfach von einem Autor geschrieben wurde, der sein Beruf verfehlt hat. Nein, es wird die Regel zitiert und basta! Die Gehirnzellen stehen gerade an der roten Ampel.

Ich muss doch nicht mehr essen, weil Kinder in Afrika hungern.

Die Sache mit dem Essen erinnert mich zudem an meine Kindheit. Wie oft bin ich von meiner Großmutter ermahnt worden, über meinen Hunger hinaus meinen Teller leer zu essen, weil Kinder in Afrika hungern würden. Ich habe ihr immer dann gesagt: „Ja, eben, gib ihnen doch mein Essen, ich brauche es nicht.“ Das fand sie damals nicht witzig. Aber meine Mutter fand es logisch und hat mich verteidigt. Und vor allem hat sich mich darin bestärkt, eine eigene Logik aufzubauen.

Genau das habe ich auch an mein Kind weitergegeben

Mit meiner Tochter habe ich unabhängiges Denken und Vernunftfähigkeit trainiert – immer unter Abschätzung der Gefahren und Konsequenzen. Rote Ampel: Kommen Autos? Können aus einer Ecke schießen? Ist da ein Kind, das mich nachahmen könnte und das ich deswegen in Gefahr bringen würde? Ist die Polizei da und droht Strafe? Wäre es nicht doch besser, wenn wir uns alle aufeinander verlassen könnten und wirklich die Regeln so wie sie sind, befolgen? Solche Diskussionen und Argumentationen kosten Zeit und Mühe. Und Kinder sind schlauer, als man denkt. Carina war 14 als sie mich fragt, ob die Sache mit der Förderung der Urteilsfähigkeit, also dass ich auf solche Denkprozesse so viel Wert lege, doch nicht auch etwas ist, was ich selbst als Regel gelernt habe.

Bei längerem Nachdenken stelle ich fest, das war ins Schwarze getroffen. Und schickte ein Schmunzeln nach oben zu der Wolke, auf der ich meine Eltern mich liebevoll beobachtend vermute. Auch ich gebe das weiter, was sie mir als Imperativ beigebracht haben: Regeln befolgen oder brechen, nachdem ich sie ordentlich in Frage gestellt habe.

Wie seht ihr das mit den Regeln befolgen? Was gebt ihr an eure Kinder weiter?

Liebe Grüße,

Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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4 Kommentare

denise mühlemann
Antworten 24. Februar 2017

Amen. ich wünschte, mein Nachbar würde das lesen. Einer von der Sorte, Gesetze müssen nach dem i Pünktchen eingehalten werden, ohne Nachzudenken, unabhängig ob es nützt oder schadet oder stört. Oder die Gesetzesänderung bereits in Planung ist, weil es für die Mehrheit nicht mehr passt...

Kati
Antworten 20. August 2018

Danke dir, das sehe ich genauso. Ab welchem Alter würdest du sagen macht es Sinn Regeln aktiv zu besprechen und diese Unterscheidungsfähigkeit zu lernen?

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