Dankbarkeit oder etwas anderes?
Heute mal ein anderer Blickwinkel zu Dankbarkeit. Ich habe schon darüber geschrieben, dass Dankbarkeit auch Lebensenergie sein kann. Heute möchte ich das Thema weiter beleuchten. Beginnen möchte ich mit einem TikTok Video, was auf eine große Resonanz in mir traf. Das Video möchte ich mit euch teilen:
https://www.tiktok.com/@josh_ffw/video/7136197828132572422
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Ich werde jetzt aus dem Video zitieren und meine Gedanken mit euch teilen. (Video ist auf Englisch, ich übersetze.)
Vielleicht gibt es den einen oder anderen Menschen, der auch eine ambivalente Beziehung zu Dankbarkeitstagebüchern und Dankbarkeitslisten hat.
Hier wäre eine mögliche Auflösung.
„Dankbarkeitslisten. Ich erkenne an, dass viele Menschen sie wirklich mögen und als sehr nützlich empfinden. Und sie helfen ihnen. Das ist großartig. Was ich sagen werde, bedeutet nicht, dass du das nicht solltest. Ich reflektiere zu meiner Erfahrung und wie ich das erlebe. Mein Leben war nie: Ein Mangel an Dankbarkeit. Ich habe diese Dankbarkeitslisten geschrieben, weil ich dachte, das macht mich spirituell. Deswegen habe ich das gemacht. Und Menschen haben zu mir gesagt, dass das funktioniert. Also habe ich die Dinge aufgeschrieben und ich bin nicht blöd. Ich weiß, wofür ich dankbar sein sollte. Und nun saß ich da, mit einer Liste von 20 Dingen, für die ich dankbar sein soll. Und ich fühle die Dankbarkeit nicht. Also habe ich jetzt diese Liste vor mir und fühle mich schuldig, als wäre ich ein furchtbarer Mensch.“
Genau das ist mein erster Punkt. Diese Listen und Tagebücher haben für mich zwei Seiten. Ich habe auch in der Therapie gelernt, am Ende des Tages zu reflektieren, wofür ich dankbar war. Eben um mehr Achtsamkeit auf die schönen Momente zu legen und manches sehe ich ja auch als gegeben. Dann schrieb ich am Abend auf, wofür ich dankbar sein sollte!
Dankbarkeit ist für mich ein Gefühl. Das spüre ich in dem Moment oder auch nicht.
Und manche Dinge erfreuen mich, ich fühle mich gut damit, ich bewundere sie. Gleichzeitig fühle ich keine Dankbarkeit. Dabei zählen doch die anderen guten Gefühle auch! Der Fokus auf die Dankbarkeit ist das, was sich für mich oft nicht gut anfühlte. Ich habe mich zwar nie schuldig gefühlt, wie der Verfasser des Videos. Ich habe es hinterfragt und ich wünsche mir, statt Dankbarkeitstagebuch oder Dankbarkeitsliste würde es eben heißen: Dinge und Momente, die in mir gute Gefühle ausgelöst haben. (Oder so ähnlich, ich bin kein Marketingmensch)
Jetzt kommt eine sehr wichtige Aussage in dem Video, die auch 100% auf mich trifft. Das hat mich sehr bewegt:
„Mein Problem war nie der Mangel an Dankbarkeit. Ich hatte überhaupt keine andere Wahl, als in vielen Momenten in meinem Leben die Dankbarkeit zu suchen, das Licht am Ende des Tunnels, das Positive zu sehen, das Gute in schwierigen Situationen zu finden. Viele Menschen erleben in ihrer Kindheit, dass sie überhaupt keine andere Wahl haben, als dankbar zu sein und das Gute zu sehen. Und weißt du, was diesen Kindern fehlt? Raum dafür, ihre schwierigen Gefühle zu erforschen. Raum dafür, auch wütend zu sein, ohne dass andere sagen: Ach, die tun nur ihr Bestes. Es ist nicht ihre Schuld“
Ich war eines dieser Kinder. Wofür ich wirklich dankbar bin? In der Therapie endlich diesen Raum gefunden zu haben.
Ich bin dankbar dafür, dass ich die unangenehmen Gefühle zulassen kann. Ich bin dankbar, dass ich dadurch emotionale Regulation gelernt habe und Selbstmitgefühl. Und ich bin verdammt dankbar, dass mich dieses: „Denk positiv! Du musst das Positive sehen“ nicht länger tangiert. Denn genau wie Josh es in diesem Video beschreibt, das kann auch zu Schuldgefühlen führen oder Scham.
„Sei doch nicht so undankbar! Kannst du nicht sehen, was wir alles für dich getan haben? Ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch etc.“ Habt ihr das auch von euren Eltern gehört? Wie hat sich das für euch angefühlt? Ich war voller Scham.
Denn es hat mir in meiner Kindheit etwas gefehlt. Etwas, was in meinem Gefühl damals viel schwerer wog:
Geborgenheit, Vertrauen, Stabilität, das Gefühl von Sicherheit, bedingungslos geliebt werden, nicht ständig Angst vor Strafen haben, Verlässlichkeit, Wärme, Nähe.
Vor allem fehlte mir dadurch die Fähigkeit, überhaupt auszudrücken, wie ich mich wirklich fühle.
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Nun gut. Ich weiß auch, dass meine Eltern sich vielleicht mehr Anerkennung von mir für das gewünscht haben, was sie mir gegeben haben oder geben konnten. Und hier ist eben für mich auch ein Unterschied: Wertschätzung und Anerkennung gehen für mich nicht immer mit Dankbarkeit Hand in Hand.
Ich kann auch dankbar für etwas sein UND gleichzeitig kann mir etwas fehlen.
Das eine gleicht das andere auch nicht aus. Jemand kann zum Beispiel dankbar sein, wenn ihn ein Mensch anlächelt, auf der Straße. Und kann einsam sein, wenn er nach Hause kommt, weil da niemand ist. Welches Gefühl wirkt wohl länger und stärker?
Und das auszudrücken, ist eben auch wichtig.
Kennt ihr das? Ihr seid krank. Ich nehme jetzt mal meine chronischen Schmerzen als Beispiel.
Wenn ich höre: „Anderen geht es viel schlechter, die haben Krebs! Sei dankbar, dass du keinen Krebs hast.“
Zitiere ich erst mal im Kopf meine Söhne: WTF?!
Meine Antwort: Nicht hilfreich.
Ich habe Schmerzen und die beeinträchtigen mein Leben. Ja, ich fühle auch mit anderen Menschen, die krank sind. Deswegen werden meine Schmerzen nicht weniger. Und ich kann auch dankbar sein, keinen Krebs zu haben. An Tagen, wo die Schmerzen erträglicher sind, fühle ich diese Dankbarkeit auch.
„Anderen geht es viel schlechter“: Was wahrscheinlich ein Versuch sein soll, den Fokus auf die guten Dinge zu lenken, ist für mich oft die fehlende Anerkennung der Situation eines Menschen.
Wenn jemand einen Unfall hat, ein Bein verliert, ist ein: „Sei dankbar, wenigstens bist du noch am Leben.“ Für mich nicht hilfreich.
Das fühlt dieser Mensch vielleicht irgendwann mal (oder leider auch nicht). Erst mal geht es für mich um Empathie! Und Empathie ist anzuerkennen, wie er sich gerade fühlt und wie die Situation ist. Das Bein ist weg. Das ist ein massiver Einschnitt ins Leben.
Auch bei Menschen in Trauer: „Sei dankbar, dass er von seinem Leiden erlöst wurde.“ Da ist gerade ein Mensch gestorben! Das bedeutet Schmerz und Verlust. Auch wenn es eine andere Sicht gibt, die kann hilfreich sein oder auch nicht. Und manchmal kommt diese Sicht erst nach der akuten Phase.
Besonders wenn es um die Bedrohung der Grundbedürfnisse geht, steht das Gefühl der Dankbarkeit nicht unbedingt an erster Stelle.
Wenn mir das Wasser bis zur Nase steht. Ich strampele, um nicht zu ertrinken, hilft mir auch kein: „Sei dankbar! Am Ufer bedroht ein Brand andere Menschen.“ Das funktioniert nicht. Ich kann in diesen Momenten nicht dankbar sein. Im Gegenteil. Mein Gehirn schaltet in den Überlebensmodus. Das Gehirn unterscheidet bei Bedrohungen auch nicht. Bedrohung von Existenz durch Armut ist eine Bedrohung, zum Beispiel.
Zum Abschluss: Undankbar
„Du bist undankbar!“
Dankbarkeit ist nichts, was ich fordern kann. Wie ich bereits schrieb, Dankbarkeit ist ein Gefühl. Es ist da oder auch nicht. Ich kann auch lernen, achtsamer für Momente und Dinge zu werden. Sie schön finden und angenehm, ob das dann Dankbarkeit wird? Das hängt von jedem Menschen ab, von seiner Prägung, seinen Erfahrungen und was gerade noch in seinem Leben vorgeht.
Wenn ich also höre: „Du bist undankbar!“ gehe ich womöglich in die Defensive. Mit viel Empathie kann ich hinter die Worte schauen. Ich kann hören, dem anderen fehlt etwas: vielleicht Anerkennung, Wertschätzung, gesehen werden. Und in diesem Menschen kommen unangenehme Gefühle hoch, weil ihm eben etwas fehlt. Statt also mit dem Finger nach außen zu zeigen: „Du bist undankbar!“
Wie wäre es damit, auszudrücken, was wirklich in mir vorgeht?
Was ich mir wünsche? Und mir dann die andere Seite anzuhören?
Ich-Botschaften. Irgendwas wird in mir ausgelöst durch das Verhalten oder die Worte eines Menschen.
So wunderschön und wertvoll Dankbarkeit ist, das Thema hat viele Facetten.
Zurück zum Video vom Anfang: Das Thema, unter dem das Video gelistet ist, ist auch Umgehung. Mit dem alleinigen Fokus auf Dankbarkeit, unangenehme Gefühle umgehen. Bei sich selbst und bei anderen.
Und ich bin wahnsinnig dankbar, dass ich dieses Video gefunden habe.
mindfulsun
P.S. Für alle, die mehr von Josh zu Thema hören und verstehen möchten:
- 16. Sep 2022
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- dankbar, Dankbarkeit, Dankbarkeitstagebuch, Ich-Botschaften, Therapie