Depression – Erfahrungen mit Gutachtern – Gastkommentar


Hallo Béa,

ich habe nochmal über deinen Brief an die Krankenkassen nachgedacht. Du hast darum gebeten, dass Leser ihre Erfahrungen schreiben. Ich hätte da vielleicht was:

Ich habe seit ca 25 Jahren eine psychische Erkrankung, das Borderline-Syndrom, das heute offiziell anders heißt, aber von den meisten als solches bekannt ist. Deshalb bleib ich dabei. Ja, das sind die, die sich die Arme aufschneiden. Das ist dass, was den meisten bekannt ist (obwohl es so gar nicht stimmt) und vielleicht noch, dass wir häufig zu Sucht neigen und noch häufiger unsere Partner wechseln.

Dass die Allgemeinheit diese Bilder im Kopf hat, ist noch nicht das Schlimmste.

Ich entscheide ja selber, wem ich etwas über mich erzähle und wem nicht. Schlimmer wird es, benötigt man von offizieller Seite Hilfe. Borderline ist eine komplizierte Erkrankung, die tatsächlich andere psychische Erkrankungen auslösen kann. Suchtverhalten, das erwähnte ich schon, aber auch Depressionen und Essstörungen. Glaube auch Narzissmus und anderes…  In meinem persönlichen Fall sind es die Depressionen, die mich am meisten flachlegen. Stimmungsschwankungen gehören auch dazu, Selbstzweifel, die dazu führen dass ich so lange grüble und mich hasse, bis wirklich nichts mehr geht.

Darunter leidet in den Extremphasen vor allem mein Haushalt.Wäre ich alleine, wäre das noch nicht so wild. Bin ich aber ja nicht.

Ich bin alleinerziehende Mama von zwei Kindern, die mir das wichtigste auf der Welt sind.

Für die kämpfe ich. Für sie stehe ich auch in stark depressiven Phasen morgens auf (klingt leichter als es ist), schaffe es seit 10 Jahren, dass beide Kinder pünktlich in Schule und Kindergarten sind, saubere Klamotten tragen, gesund essen und trinken, ein soziales Umfeld haben und in ihrer Freizeit etwas tolles Unternehmen. Klingt selbstverständlich. Ist es auch. Aber trotzdem Schwerstarbeit. Aufstehen ist Schwerstarbeit. Bis in den Keller zur Waschmachine zu kommen wie ein Marathon.

Mit Panikstörung und Platzangst an einem Sonntag in den Zoo zu gehen eine Mutprobe sondergleichen. Die Kinder sind es wert.

Darunter leiden andere Bereiche meines Lebens. Ich zum Beispiel. Und der Haushalt. In den schlechten Phasen bin ich morgens schon durch, wenn die Kinder auf Kiga und Schule verteilt sind. Schlafe im Sitzen in der Küche ein, wenn ich mich nicht sowieso wieder ins Bett lege. Ja, ich gebe zu, dass es hier in den schlechten Phasen schlimmer aussieht als bei den berühmten Hempels unterm Sofa. Viel schlimmer. Und dass das für Kinder kein gesunder Lebensraum ist, weiß ich auch. Es ist nicht so, dass ich nicht versuche etwas zu ändern. Oft sind meine guten Phasen aber gar nicht lang genug um alles, was in den schlechten liegen geblieben ist, zu beheben.

Hilfe annehmen ist etwas, was mir aufgrund meiner Geschichte sehr schwer fällt.

Den Kindern zu Liebe habe ich es trotzdem…versucht. Seit 2011 habe ich eine ambulante Betreuerin (betreutes Wohnen) die mir helfen Soll, Struktur in die Lage hier zu bekommen. Eine sozialpädagogische Familienhilfe hatte ich auch mal. Das heißt, das Jugendamt ist auch längst in der Sache drin. Offenbar scheitern an mir und meiner Geschichte alle bekannten Ansätze. Es ist aber auch sehr viel bürokratischer Mist. Stunden fallen aus, müssen verschoben werden, alle halbe Jahre neu begründet, neu beantragt.

Jedes mal neu erzählen, warum es so ist wie es ist. Meine Diagnosen, meine Geschichte. Seelenstriptease.

Es wurde viel versucht und nichts erreicht und es schleicht sich schon manchmal der Verdacht ein, dass man nicht ernst genommen wird… zumindest anders behandelt als z.B. eine Mama mit einer körperlichen Behinderung.

Mein letzter Versuch war ein Antrag auf eine Pflegestufe. Mit dem Geld könnte ich eine Haushaltshilfe anheuern, die mir hier unter die Arme greift. Rein theoretisch hat man auch mit einer psychischen Erkrankung einen Anspruch darauf. Vor zwei Jahren wurde der erste Versuch eine Pflegestufe zu beantragen abgelehnt. Vor ca. 4 Wochen der zweite. Um festzustellen, ob eine Pflegestufe vergeben werden kann, schickt die Krankenkasse einen Gutachter raus. Man sitzt mit einem fremden Menschen in einer Wohnung in der man sich selber nicht wohl fühlt und erzählt alles. Wirklich alles. Ich war so offen wie irgend möglich. Egal, wie schwer es mir fiel, Schwächen zu zu geben. Dinge einzugestehen. Etwas über mich zu verraten.

Der Antrag wurde abgelehnt.

Für mich ziemlich willkürlich, denn ich weiß, dass nach einem Punktekatslog vorgegangen wird, in dem ich mit meinen Symptomen vielleicht nicht viele aber doch einige Punkte erreiche. Für die kleinste Pflegestufe könnte es reichen. Und es würde mich so sehr entlasten.

Die Dame, die das Urteil schrieb sah sich zwar genötigt, dass Jugendamt aufgrund des Zustandes… meiner Wohnung zu informieren (keine Gefahr weil das Jugendamt ja schon Bescheid weiß) aber nicht, mir die nötigen Punkte zu geben.

Ich bin in den Widerspruch gegangen. Aber ohne Hilfe von Aussen würde ich das gar nicht schaffen. Hätte schon längst den Kopf in den Sand gesteckt. Jetzt habe ich zum zweiten mal einem Gutachter meine Geschichte erzählt, meine Wohnung, meine Narben, meine Seele gezeigt und warte auf ein neues Gutachten. Inzwischen bin ich der Ungewissheit ausgeliefert.

Es gäbe noch so viel zu schreiben…aber ich belasse das hier mal. Vielleicht kannst du damit etwas anfangen?

Die anonyme Mama, die immer noch kämpft!

P.S. von Béa:

Ich bin sprachlos!!! Und fühle mit! Ich fühle den Frust über diese Ungerechtigkeit.

Liebe Menschen in den Krankenkassen, wie steht ihr dazu? Ich hätte gern eine Stellungnahme zu dem Thema!

Müssen bei Depressionen und Borderline solche Erfahrungen mit Gutachtern sein?

Liebe LeserInnen hier: Bringt ihr auch diesen Beitrag bitte unter die Menschen, indem ihr teilt? 

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

DAS KÖNNTE DIR AUCH GEFALLEN

Wenn Krankenkassen bei der Bewilligung von Hilfsmitteln sich quer stellen – Gastbeitrag von Carmen
19. Aug 2021
Warum Überlegungen wie die „Rastertherapie“ zeigen, dass psychische Krankheiten noch immer stigmatisiert werden.
02. Jun 2021
„Entscheide mich ganz klar für das Kämpfen. Beklage mich nur über die Steine, die mir in den Weg gelegt werden.“ – Gastbeitrag im Nachgang von Socken-Hellene
03. Jun 2019
Ein Brief an die Menschen in den Krankenkassen, die für Depressionspatienten zuständig sind
21. Apr 2018

4 Kommentare

Julia
Antworten 17. Mai 2018

Liebe Mama,

ich wünsche Dir viel Erfolg, dass der Antrag genehmigt wird, denn man kann lesen, dass Du die Kraft, die Du hast (und noch viel mehr) dazu nutzt, dass es Deinen Kindern an nichts fehlt. Und Du liebst sie sehr und machst das toll.
Es ist ungeheuerlich, dass Du Dich auch noch mit solchen Dingen befassen musst, wo Dir doch in einigen Phasen der Alltag schon schwer fällt.

Viel Erfolg und alles Liebe

    Béa Beste
    Antworten 17. Mai 2018

    Vielen lieben Dank für diese Zeilen! Wir geben sie weiter. Liebe Grüße, Béa

Franzi
Antworten 4. August 2021

Liebe Bea,

Ich habe unter einem psychiatrischen Gutachter gearbeitet als Psychologische Psychotherapeutin. Bei uns ging es allerdings um Gutachten für die Rentenversicherung. Vielleicht ergibt es dennoch Sinn: Die Schwierigkeit stellt häufig dar, dass die Aktenlage nicht "rein" ist: Bedeutet unterschiedliche Diagnosen und unterschiedliche Angaben von Dauer und Beeinträchtigungen eingeschätzt von Behandlern. Dazu kommen die Schilderungen der Patienten, die oft nochmal etwas ganz anderes darstellen. Da ist dann die Frage, wie kommt es zu diesen Unstimmigkeiten. Liegen die Ärzte falsch, dokumentieren sie nicht sorgfältig oder aggraviert der Proband eventuell. Zumindest bei der Rente ist es so, dass es sich um eine dauerhafte und austherapierte Erkrankung bzw Beeinträchtigung handeln muss (ich stelle mir das beim Pflegegrad ähnlich vor). Dies führt dann dazu, dass auch offensichtlich kranke Probanden keinen Leistungsanspruch haben, da sie bisher keine Therapien diesbezüglich wahrgenommen haben, sprich keine psychiatrischen Aufenthalte, keine medikamentöse Unterstützung und keine ambulante Psychotherapie. Damit ist die Erkrankung noch nicht austherapiert und man kann nicht einschätzen in wiefern es "bleibende" Beeinträchtigungen sind. In solchen Momenten ohne Vorbehandlungen stellt sich die Frage (die, wie ich weiß unsensibel klingt, aber es ist nunmal die Aufgabe von einem Gutachter "objektiv" einzuschätzen im Auftrag des Kostenträgers) wie stark "objektiv" gesehen eine Erkrankung ist, die seit 20 Jahren besteht allerdings bisher nicht behandlungswürdig war. Auch hier ist natürlich jedem bewusst, dass es dafür auch unterschiedliche Gründe oder (weggebrochene) Ressourcen geben kann. Das Einzelschicksal muss aber an dieser Stelle "messbar" gemacht werden, da es auch immer wieder Leute gibt, die das System an einer gewissen Stelle ausnutzen. Ich unterstelle es niemandem und schon gar nicht der Person aus dem Beitrag, bin mir aber bewusst, dass es diese Fälle gibt, so wie es sie auch in anderen Bereichen gibt. Sonst würde ja nicht zum Beispiel jetzt in den Flutgebieten geplündert werden. Wo manche Menschen Chancen sehen, nutzen sie sie aus. Auch dafür gibt es allerdings häufig triftige Gründe. Ist allerdings nicht der Sinn des Ganzen.
Ich hoffe, dass die Infos ein bisschen helfen die andere Seite zu beleuchten und wünsche der betroffenen Person natürlich alles Gute.

Solltest du die Infos weiterleiten wollen, wäre es schön, wenn es anonymisiert passieren würde.

Einen Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem Stern (*) markiert.

Schreibe einen Kommentar zu Franzi Abbrechen