Der Brief meiner Mutter, der mir im Leben Mut macht


Ihr habt vielleicht meine Geschichte gelesen, wie ich mit 15 Jahren meine Eltern verlor und nach Deutschland flüchtete. Nach dem Tod meiner Mutter bekam ich noch einen Brief. Sie hat ihn für mich schon lange vor ihrem Tod geschrieben…

September 1984, goldener Herbst in Frankfurt am Main.
Ich war schon gut einige Wochen in Deutschland, die wie im Flug vergangen waren. Ich war bei der Familie meiner Schwester, die mit ihrem Mann und zwei unglaublich süßen Jungs von fünf und drei Jahren in Frankfurt lebte. Die Kleinen haben mir, wie Kinder sind, sofort ihre uneingeschränkte Zuneigung geschenkt. Sie wollten alles mit mir machen: Spielen. Vorlesen. Toben. Verstecken. Blätter sammeln. Kastanienketten. Pizza backen. Wir machten die Parks unsicher und bauten Höhlen aus Matratzen zu Abendzeit.

Gleich eine Woche nach meiner Ankunft in der freien Welt traf die Nachricht vom Tod meiner Mutter ein.
Damit hatten wir alle gerechnet. Sie war unheilbar krank und hatte alles daran gesetzt, mich aus dem von einem grausamen Diktator beherrschten Land heraus zu bekommen. Daher war das kein Schock, sondern… was war das eigentlich? Für mich war alles irgendwie unwirklich: Meine Schwester und auch mein Bruder in Deutschland stammten aus der ersten Ehe meines Vaters, wir kannten uns alle hauptsächlich durch Briefe und Telefonate – von denen wir die ganze Zeit ausgingen, dass sie vom rumänischen Geheimdienst Securitate mitgeschnitten und mitgelesen wurden. Wir lernten uns eigentlich erst jetzt kennen. Ich eroberte mir neue Beziehungen, eine neue Sprache, ein neues Verständnis von der Welt. Ich lernte Deutsch in der Schule, aber die Kinder meiner Schwester waren meine besten Lehrer. Mit mir, in mir war so viel los, dass ich nicht mal auf die Idee kam, mir leid zu tun. Die Welt war zu spannend dafür, auch wenn die Situation nicht einfach war. Mein Gehirn arbeitet auf solchen Umdrehungen, dass keine graue Zelle frei war für Selbstmitleid.

Und dann schafften es Freunde meiner Mutter aus Rumänien, mir einen alten Brief zukommen zu lassen.
Meine Mutter hat ihn geschrieben, als sie ihre erste Operation ein Jahr zuvor gegen ihren aggressiven Krebs hatte. Sie musste der Tatsache ins Augen blicken, dass die OP hätte tödlich ausgehen können. Da sie mich zu diesem Zeitpunkt gar nicht eingeweiht hatte, wollte sie mich im schlimmsten Fall nicht ohne eine letzte Liebesbotschaft alleine lassen.

Und jetzt war ich schon in meinem neuen Leben und durfte ihre wunderbaren Zeilen lesen.
(ich übersetze jetzt einige Auszüge für euch)

„Mein geliebter Liebling,

Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Ich stehe vor der Geburtsstation, wo du mir vom Leben geschenkt wurdest. Dieser Brief wird zu dir kommen, wenn uns das Schicksal trennen sollte. Verzeih mir, ich wäre am liebsten immer an deiner Seite und nur für dich da. 

Die Tränen solltest du dir aufheben für Filme und Bücher. Im Leben musst du stark sein.“

Hier muss ich kurz halt machen und mit Tränen in den Augen schmunzeln. Ich war immer die Tapfere unter uns beiden, die ganz cool trockenen Auges im Kino alle Schnulzen à la Casablanca überstehen konnte, während meine Mutter (peinlich!) so laut schluchzte, dass zwei Reihen vor uns und zwei Reihen hinter uns niemand den Film mehr verstehen konnte …

„Ich lasse dich in der Obhut von Menschen, die dich lieben und die dir helfen werden.

Höre ihre Ratschläge. Sie haben mir Frieden gegeben, indem sie mir versprochen haben, sich um dich zu sorgen.

Ich bitte dich, zu lernen. Ich bitte dich, tue Gutes. Und wenn du wenigstens nichts Gutes tun kannst, tue nichts Schlechtes. Im Leben können Situationen aufkommen, in denen du Menschen, die du wertschätzt, verletzen könntest. Kein persönliches Gefühl gibt dir das Recht, Schlechtes zu tun oder Leid zu verursachen. 

Sei heiter – sei so, wie du von Natur aus bist, wie ich mir dich immer gewünscht habe, wie du mich glücklich gemacht hast. 

Erhalte dein Gleichgewicht. Wenn du mich in deiner Seele wie eine liebe und helle Erinnerung behältst, bin ich glücklich – wo immer ich auch bin. 

Alle um dich herum und deine Schwester werden dir helfen, ein würdiges Leben zu haben. 

Versuche, mit einem jungen Mann ins Leben zu starten, den du wertschätzt und der dich wertschätzt. Und mit dem du Freunde bist. 

Das Leben ist es wert, schön gelebt zu werden, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ma

P.S. Ich habe diesen Brief geschrieben, weil, Gott bewahre, eine Operation kann auch ein Unfall sein.“

Diese Zeilen, ihr Lieben, begleiten mich seitdem und machen mich mutig. Gegenüber dem Leben, dem Neuen, dem Alten. Und jedes Mal, wenn ich sie lese, merke ich, dass die Liebe, die ich von meiner Mutter in meiner Kindheit bekommen habe, mich über ihren Tod hinaus begleitet. Und wiederum kann ich so wie ich geworden bin, meiner Tochter eine so große Portion Liebe geben, die sie auch durchs Leben trägt.

Und am wichtigsten bleibt:

Das Leben ist es wert, schön gelebt zu werden, mit einem Lächeln auf den Lippen.
Also: Das Leben ist es wert, mit Liebe und Optimismus gelebt zu werden und unseren Kindern dieses Grundvertrauen fürs Leben weiter zu geben.

Spürt ihr das auch? Gebt ihr das weiter an eure Kinder?

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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24 Kommentare

Vivi
Antworten 16. Dezember 2015

Oh Béa, jetzt habe ich Tränen in den Augen! So viel Liebe spricht aus ihren Zeilen. Wenn sie dich heute sehen könnte (und ich bin mir sicher, das tut sie!), wäre sie sicher sehr stolz auf die tolle selbstbewusste Frau, die aus dem jungen Mädchen geworden ist! Danke für's Teilen!!

Yvonne
Antworten 17. Dezember 2015

Danke, dass du auch den Teil des Originalbriefs abgebildet hast. Ich kann ihn lesen, ich sehe darin ein bisschen auch die Handschrift meiner eigenen Mutter, höre ihre Stimme im bekannten Sprachduktus. Auch meine Mutter ist schon lange tot, auch sie fehlt mir entsetzlich, jeden Tag. Und auch sie hat mir alles mitgegeben, was ich an Kraft und Liebe brauchte, zum Leben und zum Weitergeben an mein eigenes Kind. Unsere Mamas gucken von oben zu und lachen stolz: Bine ai facut, fata mea minunata!

JuSu
Antworten 17. Dezember 2015

Liebste Béa,

"Das Leben ist es wert, schön gelebt zu werden, mit einem Lächeln auf den Lippen." Welch ein wunderschöner Satz! Danke, dass Du ihn mit uns geteilt hast! Er passt so gut auch zu meiner Situation und ich werde ihn an meine Töchter weitergeben.
Danke & viele liebe Grüße,

JuSu

JuSu
Antworten 17. Dezember 2015

Liebe Béa,

"Das Leben ist es wert, schön gelebt zu werden, mit einem Lächeln auf den Lippen."
Danke, dass Du diesen Satz mit uns teilst! Er ist soooo wunderschön & wahr- und passt auch so gut zu meiner Situation.
Ich werde ihn an meine Töchter weitergeben.
Danke und liebe Grüße,
JuSu

Oana
Antworten 18. Dezember 2015

Doamne, ce ganduri frumoase!
De piatra sa fii si tot iti scapa o lacrima.
Multumesc pentru aceste randuri!

Salutari din Fürth.
Oana

    beabeste
    Antworten 18. Dezember 2015

    Draga Oana!
    Multumesc pentru cuvintele astea care imi fac bine! Multe salutari din Berlin, Béa

Frida
Antworten 19. Dezember 2015

... oh Mann jetzt hab ich auch Tränen in den Augen. So schön... was für ein tolles Geschenk dass der Brief noch den Weg zu dir gefunden hat! Eine Umarmung deiner Mutter und das Beste, was sie dir noch hätte mitgeben können: ihre Unterstützung bei allem was du tust. Ich hoffe, dass ich meinen Mädchen auch irgendwann solche Worte hinterlassen kann.

Ganz liebe Grüße, Frida

Adrian
Antworten 8. Mai 2016

Foarte emoțional!

Tanja von Zuckersüße Äpfel
Antworten 8. Dezember 2016

♥♥♥

linda Sobieski
Antworten 2. September 2017

Ich denke deine mutter wäre mächtig stolz auf dich?

Serban Pacuraru
Antworten 26. November 2021

Draga Bea,
Te-am cunoscut in casa parintilor tai si o vreme veneam destul de des pe la voi. Doamna OLTEA m-a ajutat oricand am avut nevoie neconditionat si asa am devenit si eu arhitect. La randul meu si eu am iubit-o si respectat-o iar cand a avut nevoie de ajutorul meu (cum ar fi inmormantarea tatalui tau, documentare despre casa Stendbal din Campina a tatalui tau, etc.) i l-am oferit la orice ora din zi. Ultima oara cand am vazut-o a fost la mine la institut (Romproiect) unde a venit sa-si viziteze fosti colegi. Apoi n-am mai stiut nimic de doamna Oltea pana in ziua fatidica de 28 august, iar cand am aflat am alergat la apartamentul vostru din Tineretului, am intrat si m-am asezat pe un taburet din sufragerie. Atunci a venit o prietena a mamei tale si mi-a povestit tot, ba chiar mi-a spus ca scaunul pe care stau este acel scaun.
Am plans toata ziua si inca mult timp apoi si regretul meu este ca nu am stiut niciodata unde a fost inmormantata, ca sa-i aprind si eu o candela.
Intotdeauna am considerat-o pe pe aceasta mare si lumunoasa doamna o eroina, care s-a jertfit (nu sinucis) pentru ca copilului ei (tu) sa-i fie bine.
A fost un gest extraordinar la fel si cum OlteaBordenache a fost un om extraordinar, pe care-l voi iubi si cinsti mereu.
Daca vreodata citesti asta si-ti mai amintesti de mine, sa sti ca ma gasesti oricand vrei, fiindca nu te-am mai vazut de aproape 40 de ani si as vrea sa merg macar o data la mormantul mamei tale.
Serban Pacuraru - 0723-742.986

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