Geht die Bildungsgerechtigkeit uns eigentlich gerade total flöten?


Aktuell erleben wir unheimlich diverse Erfahrungen, was das Lernen in der Schule und Zuhause angeht. Dazu der vorausgegangene Blogbeitrag: „Lernen die Schüler*innen nichts oder mehr als je zuvor? Was die Community zum Schulausfall zu sagen hat“.

Und der Vielfalt ist noch nicht genug:

Um eine Gruppe einzubeziehen, die in solchen Diskussionen oft vergessen wird, habe ich mich mit meiner Schwester Angela Krull über Distanzlernen bei Kindern und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen unterhalten.

Sie ist Leiterin der Arche in Hamburg-Harburg, einer Einrichtung, die sich insbesondere für Kinder in sozial benachteiligten Stadtteilen einsetzt, und ihnen mit Lern-, Freizeit- und Essensangeboten begegnet. Dabei wird ganz viel Beziehungsarbeit geleistet! Seit ein paar Wochen öffnet die Arche in Harburg auch vormittags schon die Räumlichkeiten, um den Kindern eine Lernzeit mit ruhigem Arbeitsplatz, Internetzugang, technischen Geräten und individueller Unterstützung beim Lernen zu ermöglichen.

Als eines der größten Probleme benennt Angela, dass den Kindern der strukturelle Rahmen für das selbstständige Lernen fehlt.

Homeschooling muss eben an vielen Ecken von den Eltern aufgefangen und ergänzt werden. Vielen Kindern fehlt die Tagesroutine, sie bleiben bis spät in die Nacht noch wach und werden dann morgens nicht von den Eltern für den Onlineunterricht geweckt. In vielen Familien ist weder ein ruhiger Arbeitsplatz vorhanden noch die technischen Mittel gegeben, die ja eigentlich zu den grundsätzlichen Voraussetzungen des Homeschoolings gehören.

Angela erzählte mir auch von ihren Bedenken was das Lernen selbst angeht: Sie beobachtet häufig, dass die Kids „das Arbeitsblatt abarbeiten, aber nicht in der Tiefe verstehen, Hauptsache die Aufgabe ist erledigt“. Das Erklären fehlt, das Verstehen und Nachvollziehen – dazu bräuchte es mehr Interaktion und Lebensbezug.

Konzentriertes Arbeiten und Selbstmanagement sind nur selten sichtbar – wie auch, wenn das vorher nicht erlernt wurde…

Hier wird ganz deutlich: Die meisten Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen sind echte Verlierer was das Aussetzen des Präsenzunterrichts angeht.
Eine Sache ist es, Distanzlernen kreativ und abwechslungsreich zu gestalten. Aber wenn noch nicht einmal die Rahmenbedingungen für das Lernen vorhanden sind, dann können wir uns doch ehrlich gesagt die Spucke für alles andere sparen!

Ich werfe mal das Stichwort Differenzierung ein. Wird oft in einem Atemzug mit der Heterogenität der Schulklassen genannt und meint: Jede*r Schüler*in ist einzigartig und muss deshalb individuell gefordert und gefördert werden.
Und: Auch die Lebenssituation, die Umstände und das Umfeld eines jeden ist anders. Trotzdem sollte jede*r die gleichen Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsweg haben.

Und damit wären wir bei der Bildungsgerechtigkeit.

Das Kniffelige an der Bildungsgerechtigkeit ist Folgende:

Viele in der Politik nehmen an, dass Gerechtigkeit = Gleichheit, also gleiche Chancen für alle ist.
Das würde aber nur gehen, wenn alle auch die gleichen Startbedingungen hätten.
Surprise, das ist nicht der Fall!!!
Es braucht eher eine Art individuelle Gerechtigkeit.
Die dann andere aber wieder ungerecht finden.
Da zwickt die Mühle.

Vielleicht könnte man die Rahmenbedingungen für das Homeschooling mal ganz konkret auf den Punkt bringen.

Ich würde sagen:

  • Arbeitsplatz (ein Tisch, ruhig, hell)
  • Technische Ausstattung (hängt von der Schule ab, Ipad/Laptop, WLAN, evtl. auch Handy)
  • Betreuung/Struktur durch Eltern/ältere Geschwister (jedenfalls in der 1.-6. Klasse)

Das sind die Top 3.

Auch wenn nur eine dieser Komponenten fehlt, ist Homeschooling nur sehr erschwert oder gar nicht möglich. (Und laut Béa nicht mal das ist echtes „Homeschooling“ – sondern Not-Homeschooling) Für Kinder mit Förderbedarf oder psychischen Belastungen durch das Distanzlernen ist Präsenzunterricht eigentlich ein Muss.

Für Kinder, bei denen diese Kriterien nicht erfüllt sind, muss es unbedingt eine Chance geben!

Wenn Messehallen in Impfzentren umgewandelt werden können, wieso dann nicht leere Theater, Veranstaltungsräume oder Bibliotheken in Lernorte? Wenn sich Studenten oder wer sich sonst angesprochen fühlt, gerade nicht wissen wohin mit ihrer Zeit – wieso nicht 1:1 Lernbegleitung einführen? Die haben mit Sicherheit auch einen funktionsfähigen Laptop!

Ich finde, bevor wir weiter darüber reden, wer wie wo was welche Art von Distanz- oder Präsenzunterricht erfährt, sollten wir erstmal dringend Lösungen für die Rahmenbedingungen schaffen!

Denn wer weiß wie lange das noch alles geht?
Auch wenn ich sonst für einheitliche Konzepte plädiere, mit denen jeder etwas anfangen kann, ist es hier absolut wichtig zu differenzieren:
Wie ist die Lage an unsrer Schule? In meiner Klasse oder der Klasse meines Kindes?
Welche Ressourcen hat der Stadtteil oder die Gemeinde?
Wo müssen wir mal ganz pragmatisch denken? Wo kreativ?
Was können wir einfach mal ausprobieren?

Was in der Theorie unter dem Stichwort Bildungsgerechtigkeit groß klingt, scheint in der Praxis meist gar nicht so bedeutsam.

Ich bin der Meinung:
Dass die Arche in Harburg ihr Konzept umwirft, Arbeitszeiten verlängert und dadurch Lernorte ermöglicht, scheint vielleicht gar nicht so spektakulär.
Aber für die Kids bedeutet es die Welt.
Und das ist es allemal wert.

Was sind eure Ideen?
Wie kann Bildungsgerechtigkeit Hand und Fuß bekommen in diesen Zeiten?
Habt ihr gute und wertvolle Beispiele aus der Praxis?

Eure Larissa

P.S. Das ist kein Werbepost für die Arche. Wir erhalten nichts dafür, dass wir darüber schreiben. Doch der Hinweis, dass ihr die Arbeit der Arche überall in Deutschland mit Spenden unterstützen könnt, möchte auch Béa euch ans Herz legen: https://www.kinderprojekt-arche.de/helfen-sie/geldspende/fur-die-arche-spenden Und wer nicht spenden mag oder kann, kann auch durch ein Teilen dieses Beitrags helfen, um andere Menschen zu erreichen. 

Larissa
About me

Studentin, Mentorin, Potenzialentfalterin. Lebt leicht. Liebt alles was mit Entwicklung zu tun hat: Schule, Menschen, Städte... und Blumen! Familienmensch. Hat große Träume für die Bildungslandschaft. Und ein überdurchschnittlich hohes Bedürfnis nach Schnörkeln.

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1 Kommentare

Otto Krull
Antworten 24. Februar 2021

Auf jeden Fall: Präsenzunterricht für Kinder mit Förderbedarf! Und wenn Punkt 3 der Voraussetzungen für Homeschooling nicht gegeben ist. Das hatte ich gerade heute in einem konkreten Fall einer 2. Klässlerin. Spontan hat die Klassenlehrerin sie im Rahmen des B-Zenario noch in die Notgruppe aufgenommen. Jetzt hat sie von Mo - Fr. Unterricht (Kontakte, Pausenspiele, Ansprache uvm inbegriffen. -:)
Toll wenn engagierte Lehrer*innen einfach handeln...
Gruß
Otto Krull
kommunale Sozialarbeit unter Geflüchteten

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