Hochbegabte – „automatisch“ sozial schwierig? Aus dem Leben eines Schulleiters. Gastbeitrag von Gottfried Thomas


Sind eigentlich Hochbegabte „automatisch“ sozial schwierig? Diese Frage ergab sich vor einiger Zeit in einer Diskussion über das Thema Förderung und Schulintegration. Der ehemalige Schulleiter von Phorms Hamburg, Gottfried Thomas, von dem ihr hier schon einiges lesen konntet, hat uns folgende Erinnerungen aufgeschrieben:

Hochbegabte – „automatisch“ sozial schwierig? Aus dem Leben eines Schulleiters

Sie saß in der zweiten Reihe, ganz links am Fenster, neben einem Jungen. Über ihrem blauen Rollkragenpullover leuchteten ihre schulterlangen blonden Haare. Mit ihren blauen Augen schaute sie mich neugierig an und erwartete offensichtlich, dass ich mich vorstellen würde – und ich begann:

Nach vier Jahren Aufenthalt in Argentinien war ich zu Beginn des neuen Halbjahres an dieses Ham-burger Gymnasium gekommen, sollte hier nun in dieser fünften Klasse Mathematik und Sport unter-richten und auch der neue Klassenlehrer sein. Da ich noch keine Namensliste aus dem Sekretariat bekommen hatte, verschob ich einen ersten Namensvergleich auf die nächste Stunde.

Aber ihre Lieblingsfächer und Hobbys sollten mir die Kinder doch schon einmal nennen.

Und so begannen die ersten mit Englisch, Musik, Sport usw..

Sie, das Mädchen am Fenster in der zweiten Reihe, sagte, dass ihr eigentlich alle Fächer viel Spaß machen würden, nur im Sport hätte sie manchmal Probleme, und deshalb wäre sie da nicht so gerne dabei…

Am nächsten Tag hatte ich die Namensliste, verglich die Anzahl von Jungen und Mädchen und wunderte mich, weil es nicht stimmen konnte – dachte ich. Und als ich dann die Namen aller Schülerinnen und Schüler mit meiner Liste verglichen hatte, erkannte ich meinen Irrtum:

Das Mädchen am Fenster in der zweiten Reihe hieß Max und war ein Junge.

Na gut, warum auch nicht? Die Haare waren eben nur außergewöhnlich, und der Stimmbruch war natürlich noch ein paar Jährchen entfernt.

Bald erkannte ich, dass sie – nein: ab jetzt natürlich „er / Max“ – wirklich ein Sonnyboy der ganzen Klasse war!

Er war bei allen beliebt (schon in diesem Alter besonders bei den Mädchen, woraus er sich aber noch gar nichts zu machen schien), war stets hilfsbereit und engagiert (natürlich war er Klassensprecher geworden), und durch sein nettes und stets freundliches Auftreten auch bei den Lehrern (natürlich auch bei mir) äußerst beliebt. Ebenso freuten sich alle beim Zusammenstellen der Fußballmannschaften in der Klasse, wenn Max mit in ihrer Mannschaft war, obwohl er sicher nicht zu den begnadetsten Fußballern gehörte.

Aber er war eben auch da ein Vorbild, als Teamplayer und im Kampfgeist für seine Mannschaft.

Im Laufe des ersten Halbjahres hatten alle Fachlehrer von Max festgestellt, dass seine Leistungen wirklich überdurchschnittlich waren. In Absprache mit den Eltern sollte schließlich im April ein Intelligenztest durchgeführt werden – und das Ergebnis überraschte kaum jemanden: „IQ 141“ stand auf dem Papier, und Max (mit 11 Jahren) kommentierte es mit den Worten: „Das ist ja fast eine Primzahl, wenn da nicht der Faktor 3 drin stecken würde…“. (Die langen Haare fielen übrigens etwa zwei Jahre später – Max wollte dann wohl doch eher wie ein „normaler“ Junge aussehen…)

Eine ganz ähnliche Bescheinigung eines Psychologen über einen IQ von 139 wurde mir etwa zwei Jahre später über einen Jungen aus einer neunten Klasse vorgelegt, als ich mich – nach den ersten äußerst problematischen drei Unterrichtsstunden in seiner Klasse – genauer über ihn informieren wollte.

Er hatte sich stets mit anderen als den Unterrichtsinhalten beschäftigt (saß auch schon an einem Einzeltisch), war nie bereit, eine Antwort auf meine Fragen zu geben, aber er löste an der Tafel bei einem kleinen Mathematik-Wettbewerb mit anderen Schülern plötzlich und völlig überraschend die gestellte Aufgabe nicht nur rasant schnell sondern vor allem mit ungewöhnlichen Lösungswegen. Aber auf sein sonstiges Verhalten in der Klasse und in der Schule möchte ich lieber nicht weiter eingehen…

_____

So weit die Erinnerungen von Gottfried. Wir merken: Menschen sind komplett unterschiedlich, und „hochbegabt“ bedeutet fürs soziale Verhalten erstmal gar nichts. Kinder sind Kinder, und alle Kinder sind individuelle Wesen!

Ihr kennt ja meinen Beitrag zum Thema „Gleichmacherei“. 

Welche Erfahrungen macht ihr mit begabten Kindern und soziales Verhalten?

Liebe Grüße,

Béa

Titelbild: Photo by Ayo Ogunseinde on Unsplash

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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2 Kommentare

Conny
Antworten 7. November 2018

Liebe Bea, meine Tochter ist 6 Jahre alt und aufgrund von Auffälligkeiten und Problemen haben wir sie mit 4 Jahre bezüglich Hochbegabung testen lassen. Es wurde dann auch bestätigt. Sie ist ein sehr schlaues Mädchen und sehr, sehr wissbegierig. Leider steht die so gar nicht auf Glitzer und Ponys, so wie die anderen Mädchen in Ihrer Klasse. Sie wird sehr ausgegrenzt. Manchmal weint sie, weil sie keine Freunde hat. Eigentlich wär sie eine richtig tolle Freundin, aber keiner gibt ihr eine Chance. Viele Mädchen werden schön von klein auf zu Modepüppchen erzogen. Ich hab meine Tochter ihren eigenen Weg gehen lassen. Sie konnte anziehen was sie wollte, auch wenn es Mal unterschiedliche Socken waren. Ich hoffe, mein Kind findet seinen Weg, wenn bis dahin leider vermutlich auch noch so einige Tränen fließen werden. Liebe Grüße Conny

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