Ich habe noch nie ein artiges Kind gesehen – Über Bewertungen und Prägungen und wie wir sie auflösen können


Weil ich es gerade jetzt in der Weihnachtszeit öfter höre und lese: „artig und brav“ möchte ich heute nochmals über Bewertungen schreiben. Das habe ich auch schon vor drei Jahren getan und meine Sicht auf die Dinge hat sich mittlerweile etwas geändert.

Zu diesem Thema möchte ich Teile eines Songs von Ruth Bebermeyer mit euch teilen.

Mich berührt dieser Song sehr, weil ich mich hier auch mit meinen Bewertungen erkannt habe und eben raus aus dieser Prägung wollte:

„Ich habe noch nie ein dummes Kind gesehen;
ich habe schon mal ein Kind gesehen,
das hin und wieder etwas gemacht hat, was ich nicht verstand,
oder etwas anders gemacht hat, als ich geplant hatte;
ich habe schon mal ein Kind gesehen, das nicht dieselben Orte kannte wie ich,
aber das war kein dummes Kind.

Bevor du sagst, es wäre dumm, denk‘ mal nach, war es ein dummes Kind, oder hat es einfach nur andere Sachen gekannt als du?“

Wie ist das also auch mit schlau oder intelligent?

Wenn ihr den Song umschreiben würdet, wie würde das dann klingen?
„Ich habe noch nie ein schlaues Kind gesehen…“
Das wünsche ich mir in den Kommentaren von euch und ich bin gespannt auf eure Antworten!

Jetzt nehme ich mal das Wort „artig“: Wie könnte der Song dann lauten?

„Ich habe noch nie ein artiges Kind gesehen.
Ich habe schon mal ein Kind gesehen,
was hin und wieder etwas getan hat, was für mich angenehm war und ich war erfreut.“

Es liegt bei uns, ob wir jemanden als artig oder unartig empfinden.

Eigenschaften, die wir anderen zuschreiben, sind unsere Bewertungen und es gibt auch jeweils die Kehrseite der Medaille: das Gegenteil und den Vergleich.
„Du bist unartig…“
„Du bist nicht so artig, wie…“

Und letztendlich, wer entscheidet und bestimmt die Kriterien? Wer entscheidet, ob jemand „faul oder fleißig“, „artig oder unartig“ ist?

Der Song von Ruth Bebermayer hat übrigens den Titel: „Ich habe noch nie einen faulen Mann gesehen“ und beginnt so:

„Ich habe noch nie einen faulen Mann gesehen;
ich habe schon mal einen Mann gesehen,
der niemals rannte, während ich ihm zusah,
und ich habe schon mal einen Mann gesehen,
der zwischen Mittag- und Abendessen manchmal schlief,
und der vielleicht mal zu Hause blieb an einem Regentag,
aber er war kein fauler Mann.

Bevor du sagst, ich wär‘ verrückt, denk’ mal nach, war er ein fauler Mann, oder hat er nur Dinge getan, die wir als „faul“ abstempeln?“

Und jetzt – frei Schnauze – einige Beispiele, die mir gerade durch den Kopf gehen:

„Ich habe noch nie einen hübschen Menschen gesehen.
Ich habe einen Menschen gesehen, dessen Äußeres mir zugesagt hat.
Ich habe auch noch nie einen hässlichen Menschen gesehen.
Ich habe einen Menschen gesehen, dessen Äußeres mir eben nicht zugesagt hat.“

„Ich habe noch nie ein unordentliches Kind gesehen.
Ich habe schon ein Kind gesehen, dessen Sachen auf dem Fußboden lagen.“

„Ich habe noch nie ein ungeschicktes Kind gesehen.
Ich habe schon ein Kind gesehen, dem eine Tasse heruntergefallen ist und sie ist zerbrochen.“

„Ich habe noch nie einen undankbaren Menschen gesehen.
Ich habe einen Menschen gesehen, der nicht die Worte der Dankbarkeit gefunden hat, die ich mir gewünscht habe.“

„Ich habe noch nie einen gefühlskalten Menschen gesehen.
Ich habe Menschen erlebt, die ihre Gefühle nicht so ausgedrückt haben, wie ich es gebraucht habe.“

„Für mich hat noch nie jemand etwas Ekelhaftes gekocht.
Manchmal hat jemand etwas für mich gekocht, was mir nicht geschmeckt hat oder etwas, auf das ich an diesem Tag keinen Appetit hatte. Vielleicht auch etwas, was ich nicht essen möchte.“

Das könnte ich jetzt weiter fortführen…

Es gibt so viele Bewertungen.

Und wer jetzt vielleicht denkt:

„Ich habe noch nie so einen Quatsch gelesen!“ bin ich erfreut und wie wäre es dann mit:

„Ich habe etwas gelesen, was in mir etwas ausgelöst hat.“

An diesem Punkt lade ich dich herzlich ein, in dich zu schauen: Was wurde denn bei mir ausgelöst?

Der Song von Ruth Bebermeyer endet so:

„Was die einen faul nennen,
nennen die anderen müde oder gelassen,
was die einen dumm nennen,
ist für die anderen einfach ein anderes Wissen.

Ich bin also zu dem Schluss gekommen,
dass es uns allen viel Wirrwarr erspart,
wenn wir das, was wir sehen,
nicht mit unserer Meinung darüber vermischen.

Damit es dir nicht passiert, möchte ich noch sagen:
Ich weiß, was ich hier sage, ist nur meine Meinung.“

Bewertungen passieren meistens automatisch. Es geht nicht darum, sie komplett abschalten zu können!

Am Anfang, als ich die Gewaltfreie Kommunikation erlernt habe, war das mein Ziel. Und ich habe mich geschämt, weil es mir nicht gelang. Heute weiß ich: Es ist die Achtsamkeit dafür, mir bewusst zu machen, wenn ich bewerte! Und dann Beobachtungen von meinen eigenen Bewertungen und Interpretationen zu trennen und entsprechend zu kommunizieren.

Wenn ihr euch inspiriert fühlt, in den Kommentaren den Song weiterzuführen: Mit Bewertungen, die ihr in euch gefunden habt.
Wir wären begeistert!

Eure mindfulsun

mindfulsun
About me

Mensch, Mama zweier Jungs, die versucht ihre Werte zu leben und die innere Balance zu halten. Ich schreibe über Achtsamkeit, vegane Ernährung, Nachhaltigkeit und verbindende Kommunikation von Herzen. Was ich mir wünsche? Einander mit mehr Mitgefühl und Empathie zu begegnen, überall auf der Welt.

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4 Kommentare

Tanja Radfang
Antworten 8. Dezember 2020

Mich hat die Frage, "warst du auch brav?" etwas anders inspiriert als die Songtexterin. Weil ich finde, brav sein ist doch überhaupt nichts, was irgendjemand sein sollte oder wollen sollte. Ich habe alles aufgeschrieben, was mein Sohn ist:

Mein Kind ist
mal leise und mal laut,
mal lustig, mal wütend,
mal fremd und mal sehr vertraut.
Mal duftend und mal stinkend,
mal belastet, mal unbeschwert,
mal traurig weinend und mal fröhlich winkend.
Mein Kind ist
mal kreativ und mal einfallslos,
mal konzentriert, mal abgelenkt,
mal noch so klein, mal schon so groß.
Mal stark und mal schwach,
mal neugierig, mal desinteressiert,
mal furchtbar müde und mal hellwach.
Mal großzügig, mal egoistisch,
mal langsam, mal schnell,
mal ehrlich und mal etwas hinterlistig.
Liebevoll und so viel mehr!
Jeden Tag liebenswert!
Einfach Kind.
Mein Kind.
Niemals brav
und das ist gut!

    mindfulsun
    Antworten 9. Dezember 2020

    Liebe Tanja, vielen Dank für deine Worte. :)

    In meinem Beitrag sind die Worte "brav und artig" einige Beispiele für Bewertungen.
    Bewertungen finden ja im täglichen Leben oft durch uns statt. Eigentlich sind alle Eigenschaften (lustig, egoistisch, desinteressiert, kreativ...)
    lediglich unsere Bewertungen = Zuschreibungen für diesen Menschen. Mir liegt es am Herzen, da mehr drauf zu achten. Und eher zu beschreiben, was in
    uns ausgelöst wird, wenn wir sehen oder hören, was ein Mensch sagt oder tut. VG, mindfulsun

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