Komplexe züchten bei Kindern: Bitte nicht!
„Nicht zu kurz! Und bitte unbedingt so schneiden, dass die Ohren bedeckt werden!“
Ich war 16 Jahre alt und saß zum ersten Mal bei einem richtigen Mode-Friseur.
„Aber waruuuuum, Herzchen?“
Der hippe Friseur mit der Leoparden-Hose und dem knallgrünen Seidenhemd mit dicken Schulterpolstern (es war 1986, wohl gemerkt) wollte sein Briefing nicht akzeptieren: „Du hast wunderschöööön gefooormte Oooohren, Schäääätzchen!“, legte er nach. „Wir können so einen richtig coolen Schnitt maaachen, Süße, bei dem man deine tollen Oooohren sieht!“
Ich gruselte mich. „Bitte unbedingt so schneiden, dass die Ohren bedeckt werden!“ war die Ansage meiner Ma an jeden Friseur in meiner Kindheit. Sie war überzeugt, dass ich abstehende Ohren hatte. Sie hat mir damit ein Komplex angezüchtet. Ich war immer ein selbstbewußtes Kind, traute mich, das Wort zu ergreifen und auf Bühnen zu gehen, mit Erwachsenen und Unbekannten jedes Gespräch zu führen… so lange meine „Segelohren“ oder das „Dumbo-Beiwerk“ gut versteckt waren. Ich habe eine Weile sogar mit Kopfband geschlafen, damit sie hoffentlich anliegender werden.
Ich hatte ein Ohren-Komplex, in der Kindheit gezüchtet, von genau dem Wesen, der mich am meisten geliebt hat: meine Mutter.
Der Trendfriseur hat es mir nicht ausgetrieben, aber in mir den ersten Revolte-Gedanken gezündet. Ich habe damals, mit 16, den ersten Haarschnitt meines Lebens mit sichtbaren Ohren akzeptiert und danach jeden zweiten Tag damit gehadert.
Viel, viel später, als ich selbst Mutter wurde und die wunderschön anliegenden Öhrchen meiner Carina bewunderte, habe ich beschlossen, dass ich kein Problem mehr mit meinen habe. Ich hatte perfekte Ohren produziert, jetzt könne auch Schluss mit meinem Komplex sein.
Ich zeige Ohren. Inzwischen. Aber ich beäuge sie immer kritisch auf jedem Foto von mir. Immer noch.
Wer von euch kennt Komplexe, die in der Kindheit gezüchtet wurden?
Das wollte ich von meiner Twitterblase wissen, und die Krassheit der Antworten hat mich erschüttert. Ganz ehrlich? Mein Ohrenproblem erscheint mir jetzt lächerlich…
Hier nur eine Auswahl aus der Vielzahl der Antworten, die ich bekam:
„Du könntest so ne Hübsche sein, wenn Du nicht so dicke Beine hättest. Und der Hintern halt.“ Meine Tante zu mir als ich so 15 war. Aber bis dahin hatte ich schon laaange Komplexe. Retrospektiv war es das Lästern über andere Frauen, was mich geprägt hat.
„Guck mal, DIE muss nun— Julia Hartmann (@gutekinderstube) September 5, 2018
„Wir helfen dir beim Abnehmen, dann kannst Du Dich endlich wieder wohl fühlen!“
„Das Snickers muss doch nun wirklich nicht mehr sein?“
„Ja, Du warst schon als Baby so kräftig“
„Aber für eine Dicke hast Du ein sehr schönes Gesicht. Beton doch die Lippen dafür.“
🤦🤷♀️— Julia (@mama_juja) September 5, 2018
„Du kannst dir doch nicht so nen kurzen Rock anziehen, dafür bist du zu dick. Und mit den roten Lippen siehst du aus wie ein Flittchen. So wird dich nie ein Mann ernstnehmen“ Hat fast 28 Jahre gedauert um solche Sprüche loszuwerden…
— TheSummerfeelingsMum (@GunzlingerMum) September 5, 2018
Ich war meiner Mutter immer zu dick und zu langweilig. Nutella war nicht für mich, sondern für meinen schlanken Bruder. Und meine Freundinnen fand sie immer öde. Außerdem hat sie um einen Lippenstift gewettet, ob ich mit meinem jetzigen Mann zusammenkomme oder nicht. War schön.
— Ms. Fossington-Gore (@Miss_Schnuck) September 5, 2018
„An dir ist ja gar nichts dran.“
„Männer wollen auch mal was zum anpacken haben.“
„Hach du die hast die Haare deines Vaters die sehen IMMER liederlich aus.“
„Du hast meine Beine, kurz, dick und so viele Besenreiser, am besten du trägst nur Hosen.“— Einhörnchen (@urban_Sqirrel) September 5, 2018
„Du bist so blass, bis du krank? Musst mal mehr raus!“ „Mensch bist du dürr. So’n Hungerhaken kriegt nie nen Mann ab.“ „Boah, du hast so eine durchdringende quakige Stimme!“
Und das Highlight:
„Werd‘ bloß nicht so wie XY!“ Leider war ich so und wusste das.Tja, Familie 🙄
— Madita Sternberg (@MaditaSternberg) September 5, 2018
Auch: Wenn du so weiter machst bringt sich Mama irgendwann wegen dir/euch um. (Kontext: Mama ist schwer depressiv und Papa nahm sie für unfaires Verhalten/ mein Aufbegehren dagegen in Schutz.) ich habe lange gebraucht bis ich ihre Krankheit nicht als meine Schuld gesehen habe.
— Ebsami – löst sich einsam im Meer auf (@ebsa_mi) September 5, 2018
„Du packst/verstehst nie etwas.“ Der Klassiker.
„Du hast zu labberige Titten.“ Mein Partner darf meine Brüste selten anfassen.
„Du frisst zu viel, aber nimmst nicht zu? Du frisst das Falsche, wir werden das beobachten!“ Nur selten esse ich, wenn andere dabei sind.— Motschekiebchenmuffin (@Birnenmuffin_3) September 5, 2018
“Du schaffst dein Studium eh nicht. Der Papa denkt das auch. Er darf aber nicht wissen, dass ich dir das erzähle!“ Ich weiß bis heute nicht, ob Papa das dachte. Aber tja, sie hatten Recht.
— Conny (@connymel) September 5, 2018
Und auch anonym erhalten:
<< „Wenn du so weiter frisst, wirst du irgendwann so fett, dass du verreckst.“ Da war ich… weiß ich nicht mehr. Jugendliche jedenfalls. Dass mir das weh tat, muss ich nicht betonen, was? „So kriegst du nie einen Mann ab. Du bist viel zu brutal.“ Das kam daher, dass ich Probleme mit der Feinmotorik hatte und eben den Druck meines Greifens als Kind nicht kontrollieren konnte. Bis ich meinen ersten Freund hatte (eher spät, mit fast 19), dachte ich, ich ende einsam. >>
Also, liebe Eltern! Komplexe züchten bei Kindern: Bitte nicht!
Die Lösung ist so einfach und sie kommt von meiner Bloggerkollegin Christine Finke von Mama Arbeitet:
Sagt euren Kindern, dass sie schön sind. Und genau richtig, so wie sie sind. Wer das als Kind hört und weiß, hat’s leichter im Leben.
— Christine Finke (@Mama_arbeitet) October 21, 2014
Hier, könnt ihr auch bei Pinterest pinnen…
Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Thema Komplexe aus der Kindheit?
Liebe Grüße,
Béa
- 06. Sep 2018
- 6 Kommentare
- 1
- Beauty, Erziehung, Komplexe, Körperbild, Mädchen und Körper, Scham, Schönheit, Selbstbild
Annie
8. September 2018Ich habe auch den Gewichtskomplex anerzogen bekommen.
"Du kommst halt nach deinem Vater" (der stark adipös ist)
"Hast halt dicke Beine und einen fetten Arsch, kann man nix dran ändern."
"Willst du das WIRKLICH noch essen?"
"Deine Schwester kann sich das ja leisten, aber du?"
Konnte selbst mit 58kg auf 170cm keine kurzen Hosen anziehen und muss mich zusammenreißen meine nicht mal dreijährige Tochter nicht als "zu dick" zu sehen.
Béa Beste
9. September 2018Oh je. Kann ich gut verstehen, liebe Annie! Aber es ist gut, wenn da acht gibst, das nicht an deine Tochter weiterzugeben... Liebe Grüße, Béa
Meike
11. September 2018Meine Mama meinte ganz überrascht zu mir, als ich meine Doktorarbeit verteidigt habe: " Du bist ja doch intelligent."
Ich habe es ihr aber nie übel genommen, sie hat mir, trotz dass sie mich anscheinedn für dumm gehalten hat, oft genug gesagt und gezeigt dass sie stolz auf mich ist.
Béa Beste
11. September 2018Das kann auch ein Witz gewesen sein? Oder nicht? Liebe Grüße, Béa
Anne
14. September 2018Der müsste man mal das Essen wegnehmen. (Zu mir als ich 16 war)
Wie dein Vater! ( Rundumschlag zu allem: klein, kurze beine, langer Oberkörper, Sitzriese, Bauchansatz, hohe Stirn, große Ohren, schwer von Begriff bei praktischen Angelegenheiten, aufbrausend, zu langsam... was auch immer)
Als ich mein Magisterzeugnis in Händen hielt, kam „ich hätte nie gedacht, dass du das schaffst!“ von meiner Mutter.
Du kamst Mathe genauso wenig wie alle in der Familie. ...
Blume
12. Januar 2019Eine ganze Menge Komplexe hab ich abgegriffen. Mein gesamtes Umfeld in meiner Kindheit war irgendwie darauf ausgerichtet, sich auf Kosten von anderen sich selbst irgendwie zu erhöhen. Oft nicht mal böse gemeint im Sinne von "Dich mach ich fertig" sondern eher im Gewand von "Ich mein es ja nur gut mit Dir". Da war zunächst einmal meine Mutter, die irgendwann traurig feststellte, dass ich "Kartoffelstampfer" als Beine hab. Meine Oma sprach von einem "hohen Magen" weil ich, selbst zu schlanksten Zeiten stets ein kleines Bäuchlein hatte. Als ich meinen ersten Freund hatte und anfing mit der Pille zu verhüten, ging ich etwas aus dem Kleister und bekam noch größere Brüste. Bei jeder Familienfeier wurde meine Figur kritischer beäugt. Vom Onkel kam ein "anerkennendes": "Wow, hast Du dicke T*tten bekommen!" und von einer Tante: "Jetzt musst Du nur etwas abnehmen!" Ich war 17. Und hab abgenommen. Bei der nächsten Feier wollte meine Oma mich dann füttern, damit "mal wieder was am Kind dran ist!" Mit 20 bekam ich meinen Sohn und ging nach der Schwangerschaft auf wie ein Hefekuchen (heute weiß ich, dass das an der Verhütung lag, damals konnte ich mir das nicht erklären). Zum 70. meiner Oma kam wieder die ganze Familie und der (T*tten-)Onkel dröhnte durch den ganzen Raum, als ich reinkam "Mensch, hast Du schon den nächsten Braten in der Röhre..?" Also hab ich wieder abgenommen, nur um von jemandem zu hören, dass ich ganz schön alt und blass aussehe..
Es gibt noch so viel mehr, was ich zu hören bekam. Positives war sehr selten dabei. Bestärkung oder Beistand seitens meiner Eltern? Fehlanzeige. Die wundern sich nur, dass ich bis heute kein Selbstvertrauen habe. Die standen meist nur daneben und haben nie was gesagt.
Das ist eine der Sachen, die ich heute eindeutig besser mache. Mein Sohn ging mit Gewichtsschwankungen durch die Pupertät und hat einen Brustansatz entwickelt. Der ist aber genetisch, viele Männer in meiner Familie haben sowas. Aber bei ihm hat man sich drüber lustig gemacht und mal gefragt, welche Körbchengröße er trägt :'( Da erst hatte ich den Mut, mich gegen meine Familie zu stellen und mir solche Kommentare strikt verbeten. Inzwischen muss er diesbezüglich nix mehr befürchten, ich hab den Kontakt überwiegend abgebrochen. Versteht auch keiner...
Bis heute bin ich stark verunsichert, was mich, meinen Körper und meine Persönlichkeit ausmacht. Bis heute bin ich sicher, nicht gut genug zu sein. Ich bin verunsichert, wenn ich mich in einer Gruppe befinde und zwei sich leise unterhalten. Reden die über mich? Was hab ich nun wieder falsch gemacht? In der Anonymität des Internets kann ich inzwischen gut darüber reden. Offen, mit Klarnamen und direkt kann ich es bis heute nicht.