Schlaflos. Eine Mutter und das Gedankenkarussell „Ich schaff das alles nicht“


Wir haben einen wunderbaren Text geschenkt bekommen, das Einblicke in das Leben einer Mama eines autistischen Kindes, die selbst autistisch ist… und es geht um ihr Alltag und wie sie das Gedankenkarussell „Ich schaff das alles nicht“ bewältigt hat. Lest selbst.

Es sieht lang aus, liest sich aber echt locker-flockig!

Hier schreibt Tanja Erdmann von Authenta-Blog –  Bloggerin, Autistin*, Autorin, Mutter

Sonntag…
Nein, wartet.
Eigentlich ist es schon Montag.
Die Uhr zeigt 0:34.
Es ist eine ganz raffinierte Erfindung. Es sind diese blinkenden Zahlen, die an der Decke meines Schlafzimmers leuchten und mir jede Minute mitteilen, dass ich längst schlafen sollte.
Aber ich kann nicht. Die letzten 4 Nächte nicht.
Mein Kopf ist beschäftigt. Mit dem einzigen, kurzen Satz.
„Ich schaff das alles nicht.“
Es ist wie ein Ohrwurmlied. Kaum will ich die Augen schließen, kommt wieder mein „Ah, Macarena…“

Der ganz normale Sonntag

Heute Mittag stand ich in der Küche. Ich hörte die Waschmaschine piepsen und den Trockner singen. Beide verlangten nach mir. Süße Dinger, vergessen mich nicht.
Die Kartoffeln kochten vor sich hin. Unser Robin (10) auch. Er hasst Kartoffeln. „Wieder nix zu essen“, murmelte er vor sich hin.
Mein Mann hielt mir eine Visitenkarte vor die Nase.
„Du, dem Petermann muss man Hauspläne zuschicken. Wegen Alarmanlage und so.“
Ich hatte keine Ahnung wovon er redete. Und ich wusste nicht mal annähernd, wer dieser Petermann war.
Da fällt mir auf, ihr kennt mich ja auch nicht.

Ich heiße Tanja Erdmann. Bin Mutter, Ehefrau und Schwester.

Ich habe 3 Kinder, 3 Etagen, die ich ständig putzen muss und 3 Jobs, die mich sehr beanspruchen.
Einer ist ehrenamtlich: Familienmanagerin.
Einer ist bezahlt: meine Schreibtätigkeit als Autorin und Bloggerin.
Und einer ist auf s.g. Basis: bei meinem Mann. Ich mache die Buchhaltung und bin so zu sagen seine persönliche Assistentin. Ja, ja, ich weiß, der eigene Mann als Chef. Furchtbar.
Manchmal vermischten sich geschäftliche und private Dinge. In diesem Fall wusste ich nicht, welchem der drei Jobs jetzt die Visitenkarte zuzurechnen war. Hm, eine Alarmanlage.
„Wozu brauchen wir eine Alarmanlage? Fahrrad ist doch schon geklaut. Was sollen die Diebe noch holen?“, fragte ich meinen Mann.
„Ha-ha“, sagte er. „Schreib ihm. Dem Petermann. Das kannst du doch sooo gut“, dehnte er das O unnatürlich lang.

Der Montag wird wieder lang…

Oder kurz, je nachdem wie man’s nimmt, dachte ich.
Dabei wollte (oder besser gesagt sollte – Bitte des Chefs) ich noch dem Anwalt aus München und der Firma mit dem unaussprechlichen Namen eine E-Mail schreiben.

Und Lena (3) hat doch Geburtstag. Also organisieren, schmücken, backen. Sie hat sich Regenbogenkuchen gewünscht. Oh, Gott die Stützräder! Zum Geburtstag haben wir ihr ein lang ersehntes (hässliches Anna-und-Elsa-)Fahrrad gekauft. In lila. Ich kann lila nicht ausstehen. Leider waren die Stützräder nicht drin. Also, nicht dran, wollte ich sagen. Die muss ich jetzt besorgen.

Dann wollte ich noch die Rechnung von H&M für die zwanzigste Jogginghose, Marke „Ja, Mama, das trägt man heute außerhalb der Sporthalle“ dringend begleichen. Obwohl. Vielleicht sollte ich warten. Dann sperren sie mich und das Kind muss eine normale Hose tragen. Eine bei der die Knie nicht wie bei einer Heuschrecke nach vorne zeigen, OBWOHL das Kind aus der Hocke hoch kam. Und mein Buch!
Und ich wollte doch noch meinen Ratgeber für Eltern von autistischen Kindern fertig schreiben. Und endlich Fliegengitter montieren lassen. Bastian (13, Asperger-Autist) weigert sich, die Fenster in seinem Zimmer zu öffnen. Das Wespennest haben wir bereits vor 3 Monaten entfernen lassen. Er meint, eine Wespe hätten wir bestimmt vergessen. So langsam ist der Duft seines Zimmers körperlich spürbar.

„Am besten, du scannst dem Petermann die Baupläne ein“, redete mein Mann weiter auf mich ein und holte mich aus meiner Denkblase heraus.
„Aber ich habe morgen schon so viel zu tun“, sagte ich quengelig und pustete auf den Löffel mit dem Kartoffelwasser. Hm. Zu wenig Salz.
Die Waschmaschine piepte, der Trockner sang. Und beide nervten langsam.
„Das schaffst du schon!“, sagte mein Mann aufmunternd.

Nachts im Bett

Bei Sonnenlicht und mit dem Waschmaschinen-Trockner-Sound glaubte ich selbst daran. Jetzt im Dunkeln bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher.

Vielleicht ein Witz zur Ablenkung? Ich finde einen im Internet:
– Guten Morgen!
– Was wollen Sie damit sagen? Wünschen Sie mir guten Morgen oder wollen Sie mir sagen, dass der Morgen gut ist, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was ich davon halte? Oder wollen Sie mir sagen, dass Sie die Güte des Morgens heute bereits erlebt haben? Oder finden Sie, dass alle heute Morgen gut drauf sein sollten? Hä? Was meinen Sie?
– Ehm…

Also… Den Witz finde ich gar nicht lustig. Der erinnert mich an das Gespräch mit meinem Kind von vor 5 Stunden und das ging so:

Mama: – Schatz, in deinem Plan steht „Duschen“
Bastian: – Hab ich.
M.: – Deine Haare sehen, ehm, unsauber aus
B.: – Hab sie gewaschen.
M.: – Mit was?
B.: – Was für eine Frage! Mit Wasser!
M.: – Ohne Duschgel?
B.: – Ja, klar.
M.: – Du musst Duschgel benutzen.
Kind holt Luft.
– Also wenn du meinst, ich soll Duschgel benutzen, dann musst du dich genau so ausdrücken. Ich kann doch nicht wissen… Und du sollst doch bedenken… Mich erinnern…

Ich hörte nur noch Bruchstücke. Wartete eine Pause ab.
„Ok, mein Fehler. Ab sofort gilt: Duschen mit Duschgel. Danke.“ Bastian schimpfte noch ein bisschen.

Bastian ist 13, Asperger-Autist und diskutiert leidenschaftlich gern.

Nein. Das mit dem Witz war eine schlechte Idee. Ich schalte mein Smartphone aus. Wieder kommt mein Macarena-Lied.
Schade, dass wir die nette Dame aus der Innenstadt nicht mehr sehen können. Vielleicht würde sie mir einen guten Rat geben, wie ich das alles schaffen könnte. Ich fand sie nett. Bastian auch. Er fand sie sogar super nett. Und doch sagte er mit breitem Lächeln: „Da gehe ich nicht nochmal hin“.

Mein ebenso breites Lächeln verschwand. Meine Hoffnung auf erwachsenen Beistand auch. Ich startete den Motor. Wir fuhren durch die Innenstadt.
„Fandest du die Dame nicht eben super nett?“, fragte ich meinen Sohn. Wir redeten über die Kinderpsychotherapeutin. Und ich erhoffte mir eine klitzekleine Hilfe von ihr.
„Die war sehr nett. Hat mir richtig gut gefallen. Aber ich gehe da nicht wieder hin“, sagte Bastian.
„Vielleicht einmal die Woche?“, fragte ich mit Hoffnung.
„Nein.“
„Einmal im Monat?“
„Nein.“
„Einmal…“
„Nein!“
Ich schluckte. Schaute aus dem Fenster. Ablenken. Nicht heulen. Komisch. Der Laden dort drüben heißt „Samsun“. Ohne G. Wo ist das G abgeblieben?
„Darf ich fragen, warum du nicht hin willst? Möchtest du deine Probleme nicht lösen?“, fragte ich meinen Sohn.
„Doch. Klar. Aber dafür brauche ich keine fremde Person. Du kannst all meine Probleme lösen!“
Ruhig bleiben. Nur ein langer Tag. Bleib locker.
„Weißt du, Basti, ich liebe dich sehr. Aber manchmal, nur manchmal, sind mir die Probleme ein bisschen zu viel. Ich kann sie nicht alle lösen.“
„Ach, das schaffst du schon, Mama!“ Sagt’s, stopft sich die Kopfhörer in die Ohren und macht seine Fahrstuhlmusik an.
Ich schaute aus dem Autofenster. Die Ampel war immer noch rot. Was für ein komischer Ladenname. Samsun. Wo ist das G abgeblieben?…

Ich würde so gerne einschlafen.

Ich wälze mich im Bett. Wenn ich doch bloß einschlafen könnte und aufhören zu denken. Ich gehe Milch holen. Warme Milch. Hilft immer. Meistens. Ok, ok. Manchmal.

Ich schaff das alles nicht…

Meine Milch dreht sich in der Mikrowelle. Ich schaue ihr zu. Schön sieht das aus.
Plötzlich hab ich eine Idee. Was genau schaffe ich nicht?
Im Grunde sind es 5 Sachen, die nach Aufmerksamkeit schreien. Neben all den anderen Sachen, die leise sind und sich trotzdem nicht von allein erledigen wollen.
1. Handwerker für Fliegengitter finden
2. Stützräder kaufen
3. Anwalt aus München schreiben
4. Buch fertig schreiben
5. Petermann mit seiner Alarmanlage

Was ist dringend? Was kann warten?
Luft zum Atmen ist dringend. Also Punkt #1 als erstes morgen erledigen.

Stützräder sind zwar wichtig, können aber auch nach dem Geburtstag gekauft werden. Ja, Lena könnte sauer werden. Oder sogar weinen. Aber sie wird noch mehr weinen, wenn ich durchdrehen und z.B. nackt und schreiend durch die Stadt laufen würde. Also: Punkt #2 kann warten.

Punkt #3: Anwalt. Der bekommt seine E-Mail. Denn das ist wichtig. Ich weiß nicht, ob Anwälte gerne warten. Ich will es nicht heraus fordern.

Punkt #4: Buch. Da brauche ich Zeit und Ruhe. Mit Gewalt kann ich nicht kreativ sein. Also auch auf die Warteliste.

Punkt #5: Ich habe keine Ahnung wie ich mit meinem DIN-A4-Drucker Hauspläne von Ausmaßen meines Esszimmertisches einscannen soll. Ich ruf dort an.

Meine Liste wird kürzer
Drei Dinge stehen jetzt drauf:
1) Anwalt schreiben
2) Handwerker suchen
3) Petermann anrufen

Zurück im Bett, mache ich mir klar, dass ich mir selbst den Stress mache. Nur manchmal ist mir das nicht klar. Noch weniger nachts, wenn ich wegen Schlafentzug nicht richtig denken kann.

Und ich bin nicht die Einzige mit dem hausgemachten Stress. In einer Studie der ELTERN-Zeitschrift (Ausgabe:2/2015) hat man herausgefunden, dass 73 Prozent der Frauen „Sehr hohe Ansprüche an sich selbst“ haben (56 Prozent der Männer).

Ich habe den leisen Verdacht, dass die Welt nicht untergeht, wenn ich sogar diese 3 Dinge nicht erledige. Aber es ist immer so ein Gefühl. Alles schaffen zu müssen.

„Das schaffst du schon, Mama!“
Wirklich? Schaffe ich das alles?
Nein, das schaffe ich nicht.
Das ist die Wahrheit.

Und das Tolle ist: Ich muss es nicht schaffen!!!
Zumindest nicht am Stück und nicht gleich morgen.

Was ich morgen schaffe, ist genau richtig. Und das ist genug.

Ist das befreiend!

Was war das nochmal, das mich 4 Nächte lang gestresst hat? Stützräder für Anwalt, Regenbogen-Buch und Petermann… Oder war es anders?…

Ich schlafe endlich ein.

Autorin: Tanja Erdmann ist Autorin, Bloggerin und dreifache Mutter. Der älteste Sohn ist Asperger-Autist. Auf ihrem Authenta-Blog.de schreibt sie aus der Mutterperspektive und hilft anderen Müttern von Autisten, das nicht immer einfache Leben weniger ernst zu nehmen; sich selbst ein bisschen mehr zu lieben und dadurch für die Kinder stark zu sein.

Wie ist das für euch? Kennt ihr das Gedankenkarussell „Ich schaff das alles nicht“?

Liebe Grüße,

Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

DAS KÖNNTE DIR AUCH GEFALLEN

Meine Mutter hat sich bei meinen Lehrern eingeschleimt … und es beschämt mich bis heute
28. Mar 2023
„Ich liebe meine Eltern, aber ich schäme mich für ihr Weltbild“ – Frage aus der Community
26. Sep 2022
Eltern als Cheerleader – Wann wird Unterstützung zur Grenzüberschreitung?
03. Aug 2022
Eltern „glorifizieren“? Sie sind keine Heilige…
01. Aug 2022
Zwiespalt Zoo – Ist ein Zoobesuch pädagogisch verantwortbar?
27. Jun 2022
Wenn Eltern einem seltsames Zeug von zu Hause mitbringen – Ist das nicht der süßeste Tick überhaupt?
13. Apr 2022
„Mama, du wolltest nicht das Beste für mich, sondern für dich!“ – Gastbeitrag einer Tochter
04. Apr 2022
Für das Zusammenleben in einer harmonischen Symbiose – Eltern sollten sich nicht für ihre Kinder „aufopfern“
04. Jan 2022
Mutter sein mit Autismus oder Wie ich nach der Diagnose anfing zu lernen, mein Kind anders zu lieben – Gastbeitrag von Johanna Mainzer
28. Dec 2021

2 Kommentare

SilkeAusL
Antworten 30. September 2018

Ich bin abends so erledigt, dass ich es gar nicht denken KANN!
Wenn dann doch mal die Gedanken kreisen à la "das und das und das misst du morgen machen", schreib ich es auf, versuche es zu strukturieren und überlege wie Tanja später auch, was ich liegen lassen oder vielleicht absagen kann. Ich habe niemanden, an den ich VERLÄSSLICH etwas abgeben kann(auf Nachfrage kommt maximal ein "muss ich mal gucken", "vielleicht" etc.), also plane ich für mich und die Kinder immer mit Plan B. Der dann eben auch mal bedeutet: der Ausflug mit dem Kindergarten wird abgesagt, der Kuchen für das Sportfest nicht gebacken, das schaffe ich nicht.
Ich lege auch so wenig "private" Termine wie möglich in die Woche.Die Kinder haben erst um 16:30 "Feierabend", dann braucht keiner mehr Programm(auch wenn sie gerne noch dies das und jenes machen würden). Ich bin dann halt ne blöde Mama, aber ich hoffe, sie merken irgendwann mal, dass der Tag irgendwann lang genug ist und etwas Ruhe auch gut tut. Bleiben dann ja nur noch 3 Stunden, bis es ins Bett geht.
Jetzt sind sie den Opa besuchen und ich hätte mal Zeit zum Nachdenken, wie ich es nächste Woche alles schaffen soll. Abteilung unterbesetzt, einer fehlt komplett, Kollegin in Urlaub und meine Kollegin (Vollzeit)und ich (25 Stunden)sollen das jetzt irgendwie auffangen. Ausserdem habe ich noch ne Blasenentzündung, die eigentlich keinen Stress mag...fragt nur leider keiner nach. Also: Augen zu und durch...
Achso ja, und natürlich noch 2 Kinder, die irgendwie versorgt werden wollen.
Gut, dass bald Herbstferien sind.

Gruß Silke

    Béa Beste
    Antworten 3. Oktober 2018

    Oh je, liebe Silke... vor allem bei der Blasenentzündung kann ich total mitfühlen, die hatte ich neulich auch... Ganz viel gute Erholung in den Herbstferien!
    Liebe Grüße,
    Béa

Einen Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem Stern (*) markiert.

Schreibe einen Kommentar zu SilkeAusL Abbrechen