ThüringenWahl 2019 – von meiner Jugend auf dem Schoß von Nazis


Liebe Leserinnen und Leser – guten Tag am Dienstag nach der Thüringenwahl,
ich bin Yvonne und ich habe in meiner Jugend nicht nur einmal auf dem Schoß von Nazis gesessen.

Weiße Schnürsenkel in den Springerstiefeln, gepaart mit oliv-farbenen Bomberjacken, kurz geschorenen Haaren und gebleichten Jeans gehörten zum Bild meiner Jugend kurz nach 1990 in Erfurt. Zu dieser Zeit mussten sich die Eltern in den neuen Bundesländern neu orientieren, die Jugend blieb oft allein und rottete sich in verschiedenen Gruppierungen zusammen.

Der oft besuchte Jugendclub befand sich auch offiziell in rechter Hand, aber man gewährte uns Mädels mit Palituch (= Palästinenser-Tuch) auch Einlass. Es war ein Miteinander, selbst Liebeleien zwischen Bomberjacke und Palituch fanden statt.

Für uns Mädels war das wenig gefährlich.

Jungs mit Palituch, mit bunten Dreads, TechnoJünger, Schwule wurden allerdings öffentlich beleidigt und auch zusammengeschlagen. Baseball-Schläger waren gegenwärtig – selbst in der Schule. Selten sagte jemand etwas.

Vieles wurde „übersehen“.

Was letzteres anbelangt: Ich nehme mich da auch nicht raus.

Später mit dem ersten Freund geriet ich in den Kreis von Fußballern, bei denen auch hin und wieder Samstagabend der Spruch „Ex oder Jude!“ fiel. Alle lachten, alle fanden das witzig. Selten waren wir uns sich der Reichweite und der Bedeutung des Spruches bewusst.

Ich nehme mich da auch nicht raus!

Ja – ich schäme mich für diesen Teil meiner Jugend, für den Kreis, in dem ich jahrelang verkehrte.

Wenn ich mir heute die Zahlen der Landtagswahl in Thüringen anschauen und sehe, dass bei den 30 bis 44-jährigen 29% die blauen Nazis gewählt haben, dann wird mir wirklich übel. Denn das ist meine Generation. Das ist mein Thüringen. Das sind meine ehemaligen Schulfreunde.

Ok, 22% dieser Altersgruppe wählen auch die Linke – Herr Ramelow, der amtierende Ministerpräsident, hat also ein recht gutes Standing auch in allen Altersgruppen (gesamt: 31%).

Aber was treibt so viele Menschen meines Alters an, so zu wählen?

Ich denke noch immer viel darüber nach – lese, höre, spreche:

Ist es reiner Protest? Die wirtschaftlichen Zahlen sehen in Thüringen nicht so schlecht aus!

Ist es Angst? Angst vor Verlust? Weil sich ein Leben aufgebaut wurde, fühlt man sich durch blumige und psychologisch sehr gut eingesetzte Worte verstanden?
Ist es deshalb die viel beschriebene Angst des Wortverlustes? „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“, „Und weil ich das bei allen anderen nicht sagen darf – bei denen darf man das mal aussprechen! So! Und deshalb erhalten die meine Stimme!“

Freunde der Freiheit, der Demokratie, seid wachsam!

Macht es euch zur Aufgabe, eure Kinder demokratisch zu erziehen. Ihnen Streitkultur und die Macht des Diskurs‘ beizubringen. Denn in einer Demokratie gibt es nicht nur eine Meinung! In einer Demokratie sind viele Meinungen, insoweit sie im demokratischen Rahmen geäußert werden, möglich. Aufgabe des Staates ist und bleibt, viele Meinungen unter einen Hut zu bringen. Das dauert manchmal, denn es sollte immer mit Bedacht gehandelt werden.

Ich für meinen Teil werde weiter laut sein, mit meinen Kindern weiter über Politik sprechen, über die Welt. Ich werde ihnen ganz unterschiedliche Sichtweisen zeigen – ihre Meinung sollen sie sich selbst bilden.

DAS ist Elternschaft!

Und ich würde es am liebsten ungeschehen machen, ihr Nazis, dass ich jemals auf eurem Schoß saß! Das wird nie wieder vorkommen!

Auf ein buntes Deutschland – ohne Hass, Fanatismus, Gewalt, Menschenverachtung und Faschismus,
eure Yvonne

 

Yvonne Petzke
About me

Berliner Mom of 3 * zert. PersonalTrainer * Laufcoach * Beckenbodenkursleiter (M/W) * * noch mehr Sport-/ BewegungsThemen und Persönliches über mich und mein Leben auch als UltraLäuferin findet ihr auf Instagram unter @yvonnepetzke

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3 Kommentare

Domi und Katja
Antworten 29. Oktober 2019

Danke Yvonne für diesen Text. Mir fällt wieder mal auf, dass Weimar nicht nur auf der Karte nah bei Erfurt liegt und es damals viele Parallelen gab. Vlg Domi und Katja

Vic
Antworten 30. Oktober 2019

Danke Yvonne für solchen Beitrag.
Klingt übrigens ähnlich wie meine Jugend in BW/Bayern auf dem Land. Darüber habe ich auch schon geschrieben, da war sogar die Polizei rechts... lg Victoria

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