Warum die Alzheimer Krankheit meines Vaters eine große Chance für unsere Beziehung war


Auguste Deter sagte 1901: „Ich habe mich sozusagen selbst verloren!“ Sie war die erste Patientin, bei der der Arzt Alois Alzheimer die Krankheit des Vergessens diagnostizierte. Mein Vater wurde 25 Jahre später geboren und auch ihn ereilte Jahrzehnte danach das gleiche Schicksal wie Auguste Deter. Er verlor sich selbst… und in diesem Verlieren fand ich eine besondere Nähe zu ihm.

Mein Vater kam als Kind sehr armer Leute zur Welt.

Diese gaben ihn ins Heim, weil sie nicht genug Geld hatten, um ihn zu ernähren. Das gleiche Schicksal ereilte wenige Jahre später den jüngeren Bruder meines Vaters, den er irgendwann durch Zufall im Kinderheim kennenlernte. Schon das allein ist eine so furchtbare Situation, dass es mir als Mutter das Herz bricht. Eine Pflegefamilie, in die mein Vater später kam, benutzte ihn eher als Haussklaven statt für ihn zu sorgen. Zuwendung und Zärtlichkeit kannte er als Kind nicht.

Geprägt von dieser Kindheit konnte er auch meiner Schwester und mir keine Zuwendung im körperlichen Sinne zeigen, uns in den Arm nehmen oder ähnliches. Trotzdem war er der liebste Vater, den ich mir vorstellen konnte, weil er das größte Herz hatte, dass je jemand besaß. Egal wer in Not war, mein Vater half. Für uns Kinder hätte er sein letztes Hemd gegeben und das spürten wir. Seine Liebe war auch ohne Umarmungen für uns greifbar.

Trotz dieser Liebe blieb jedoch immer auch ein wenig Distanz zwischen uns, weil eben diese körperliche Nähe fehlte. Mein Vater war immer da, er war eine feste Basis, machte mir Frühstück, brachte mich morgens zur Schule, baute mit mir Drachen und zeigte mir, wie man Rad fährt. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich an ihn zu kuscheln oder ihn intensiv zu umarmen. Das war ihm unangenehm, weil er nie gelernt hatte, damit umzugehen.

Nach dem Abitur zog ich nach London, und ich erinnere mich noch als wäre es gestern gewesen, wie mich mein Vater zum Abschied ganz fest in den Arm nahm. Das war so einmalig, dass es mich schwer berührte. Irgendwann begann meine Mama mir zu erzählen, dass mein Vater sich immer mehr zurückziehen würde. Er, für den Struktur ohnehin immer wichtig war, benötigte zunehmend immer gleiche Routinen und einen Tagesablauf, der praktisch von Tag zu Tag identisch war. Jegliche Veränderung des Alltags fiel ihm schwer und er reagierte unwirsch. Da er schon immer eher ruhig und zurückgezogen war, schoben wir dieses Verhalten auf sein siebzigjähriges Alter.

Dieser Prozess des totalen Rückzugs verlief über Jahre. Im Nachhinein ist dies für uns als Familie der schwierigste Aspekt, den es zu bewältigen gibt: Hätte man die Krankheit früher erkennen können? Hätte man anders reagieren müssen? Man fühlt sich schuldig, obwohl man weiß, dass die Symptome einfach schwer zu deuten sind, besonders wenn jemand sowieso schon zurückgezogen lebt.

Beim Bruder meines Vater wurde in dieser Zeit Alzheimer diagnostiziert. Meinen Vater nahm die Diagnose damals sehr mit.

Er mochte seinen Bruder sehr und die Krankheit machte ihm Angst. Er fing an, wie besessen Kreuzworträtsel zu lösen, um sein Gehirn fit zu halten. Trotzdem würde ihn kurze Zeit später das gleiche Schicksal ereilen. Auch hier zeigt sich im Nachhinein wie schwer es ist, Dinge richtig einzuordnen: Während wir die Rätselhefte als leidenschaftliches Hobby deuteten, war es für meinen Vater der Versuch, dem Vergessen zu trotzen. Wir begriffen nicht, wie sehr die Krankheit ihn im Griff hatte.

Ich war inzwischen nach Berlin gezogen und hatte meinen Sohn zur Welt gebracht. Ich kann mich noch erinnern, dass wir es alle seltsam fanden, dass mein Vater keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte, denn eigentlich mochte er Kinder sehr gern. Dass er ihn nicht in den Arm nahm, fanden wir nicht verwunderlich, da er nie körperlich war. Aber uns irritierte, dass er genervt reagierte, wenn der Kleine weinte und so gar nicht mit ihm umgehen konnte. Im Nachhinein wissen wir, dass seine Nervenzellen schon begonnen hatten abzusterben, als mein Sohn zur Welt kam, und mein Vater deshalb nie wirklich wusste, dass er seinen Enkelsohn vor sich hatte. Dieser kleine Mensch war für ihn irritierend, weil er ihn einfach nicht zuordnen konnte.

Und dann war da dieser Moment, an dem klar war, dass es mehr war als reine Altersvergesslichkeit.

Eines Tages verursachte mein Vater einen Kurzschluss, als meine Mutter bei der Arbeit war. Er lief daraufhin auf die Straße, vermutlich um Hilfe zu holen, und wurde verwirrt von einem Nachbarn eingesammelt. Es war der Moment, in dem wir merkten, dass sein Verhalten nicht nur Schusseligkeit war, sondern dass sich mein Vater wirklich hilflos fühlte. Da er sich sein Leben lang weigerte zum Arzt zu gehen, war es schwer, eine Diagnose zu bekommen. Aber es war deutlich, dass er ständige Betreuung brauchte und nicht allein sein konnte. Aufgrund einer Herzkrankheit meiner Mutter war klar, dass sie für meinen Vater nicht in dem Umfang sorgen konnte, wie es notwendig war. Weil er aber auch nicht zu uns Kindern „verpflanzt“ werden wollte, suchten wir ein Platz im örtlichen Pflegeheim. Die Leiterin war glücklicherweise eine Freundin der Familie und konnte seinen Zustand gut einschätzen.

Meine große Schwester hadert noch heute mit der Entscheidung fürs Pflegeheim, weil sie sich schuldig fühlt, die Pflege nicht selbst übernommen zu haben. Ich glaube, das ist oft auch eine der schwierigsten Entscheidungen bei einer solchen Erkrankung – kann man die Pflege selbst leisten oder nicht. Ich bin diesbezüglich mehr im Frieden mit mir selbst, weil ich weiß, dass keiner von uns die 24 Stunden Pflege hätte ermöglichen können. Mein Vater begann beispielsweise damals schon wegzulaufen, so dass immer die Gefahr bestand, dass er vor ein Auto geraten würde. Das Pflegeheim war ein guter Ort mit liebevollen Pflegerinnen, die meinen Vater teilweise von früher kannten und mochten.

Seine Verfassung verschlechterte sich innerhalb kurzer Zeit. Während der anfängliche Rückzug sich über Jahre gestreckt hatte, ging das große Vergessen dann ganz schnell.

Er erkannte uns nicht mehr, wusste nicht mehr, wer er selbst war oder wo er sich befand. Alzheimer Patienten verlieren in der Regel zuerst ihr Kurzzeitgedächtnis und dann nach und nach alle Erinnerungen. Das war einerseits schrecklich, andererseits ermöglichte es mir plötzlich eine Nähe zu meinem Vater, die ich vorher nie erlebt hatte. Er konnte mir keine zusammenhängenden Sätze mehr erzählen, aber er konnte meine Zuwendung annehmen und zum ersten Mal Zärtlichkeiten zulassen. Ich nahm ihn in den Arm, konnte ihn streicheln und halten, ohne dass es für uns unangenehm gewesen wäre. Wir lagen nebeneinander in seinem Bett und schauten Vorabendkrimis, die wir oft gesehen hatten, als ich kleiner war. Ich wusste, dass er der Handlung nicht folgen konnte, aber meine Nähe spürte und genoss.

Viele Alzheimer Patienten haben ein unsagbar feines Gespür für Menschen. Meint es jemand gut oder ist jemand gestresst und genervt?

Ich lernte damals die Zeit zu vergessen, sobald ich das Pflegeheim betrat. Ich lernte einfach nur da zu sein, einfach nur mit ihm zu sein ohne Erwartungen und Druck. Das half mir mit der Situation umzugehen und machte es vor allem für meinen Vater leichter, sich zu entspannen. Ich nahm vieles mit Humor, wie beispielsweise den Sahnehering vom Mittagessen, den ich mal in der Keksdose meines Vaters fand, weil ihm dieser nicht schmeckte. Lachen hilft.

Natürlich war es schwer zuzusehen, wie mein Vater immer mehr abbaute. Aber im Nachhinein bin ich dankbar dafür, dass ich für ihn da sein durfte, weil es uns nahe sein ließ. Es war egal, wer Kind und wer Elternteil war. Es gab keine Scham oder sonstige überflüssige Distanzblockaden. Es gab einfach nur uns und meine Liebe für ihn. Auch wenn er nicht mehr wusste, wer ich war, so bin ich mir ganz sicher, dass er diese Liebe spürte.

Als klar war, dass er sterben würde, weil sich zusätzlich zum Alzheimer noch ein bösartiger Krebs eingenistet hatte, blieb ich komplett bei ihm. Mein Sohn feierte seinen 6. Kindergeburtstag, den einzigen Geburtstag, den er bisher ohne mich erleben musste. Kurz nach dem Geburtstag kam mein damaliger Mann mit unserem Sohn ins Pflegeheim, um sich von meinem Vater zu verabschieden. Mein Vater schien plötzlich wieder ganz klar zu sein und sehr bewusst Lebewohl zu sagen. Mein Sohn und er blickten sich gegenseitig ganz intensiv in die Augen und noch heute spüre ich die Bedeutung und Liebe dieses Moments.

Ich blieb bei meinem Vater bis zum letzten Atemzug. Hielt seine Hand und ließ ihn spüren, dass er nicht allein ist, sondern von ganz viel Liebe seiner Familie umgeben.

Das Gespür für diese Liebe konnte auch die Alzheimer Krankheit meinem Vater nicht nehmen. Im Gegenteil, die Krankheit machte ihn weicher und empfänglicher. Liebe, Zuwendung, Nähe und Geduld sind wichtig für Menschen, die die Erinnerungen an sich selbst und ihre Umwelt verloren haben.

Allen, die Angehörige haben, die an Alzheimer erkrankt sind, sende ich eine dicke Umarmung. Dieser Sumpf des Vergessens tut weh – den Angehörigen und den Betroffenen selbst. Aber ab und an ermöglicht die Krankheit auch eine andere Nähe und diese Nähe ist dann ein ganz besonderes Geschenk. Sie bringt Licht ins das Dunkel des Vergessens.

Licht und Liebe sendet euch

Stefanie Kaste
About me

Stefanie lacht, lebt und liebt in Berlin zusammen mit ihrem Lieblingsmann, ihrem Teenager und ihrem kleinen Tornado. Als Familie erkunden sie die Welt, suchen nach dem Ende des Regenbogens und sind immer für neue Abenteuer zu haben. Stefanies Herzensthemen sind die (digitale) Bildung und Nachhaltigkeit, denn beides sind Kernthemen, um die Zukunft unserer Kinder positiv zu gestalten.

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