Der feine Unterschied: Schuld, Scham und schlechtes Gewissen entschlüsselt


Habt ihr euch schon mal gefragt: Was ist der Unterschied zwischen Schuld, Scham und schlechtes Gewissen? 

In der komplexen Welt unserer Emotionen navigieren wir täglich durch ein Labyrinth von Gefühlen, die unser Handeln und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen tiefgreifend beeinflussen. Besonders für Eltern der Generationen X und Y, die zwischen den traditionellen Werten ihrer Nachkriegseltern und den modernen Ansprüchen an Erziehung und Selbstverwirklichung balancieren, bieten Schuld, Scham und das schlechte Gewissen eine reiche Quelle für Selbstreflexion und persönliches Wachstum.

Doch was genau unterscheidet diese drei emotionalen Zustände: Scham, Schuld, schlechtes Gewissen?

Ich habe mir vorgenommen, den Unterschied zwischen Schuld, Scham und schlechtem Gewissen zu beleuchten, weil Silke Plagge und ich in den letzten Grundzügen unseres Buches zu genau diesem Thema sind. Der Titel steht noch nicht fest, da diskutieren wir noch mit unserem Verlag Gräfe und Unzer… aber da fragen wir euch bald nach eurer Meinung. Heute denke ich mit euch laut – und mache den Versuch, meine Gedanken untermauert mit psychologischen und soziologischen Einsichten zu präsentieren und in Generationen-Perspektive zu setzen. Denn, merklich oder nicht, unsere eigenen Eltern beeinflussen maßgeblich, was wir an die Kids weitergeben – aber nicht nur. Wir sind auch vom Zeitgeist und unseren gleichaltrigen Lieblingsmenschen beeinflusst.

Nun aber, was sagt die Psychologie zum Unterschied Scham, Schuld, schlechtes Gewissen?

Schuld: Das persönliche Fehltritt-Gefühl

Schuld entsteht, wenn wir handeln (oder nicht handeln) in einer Weise, die unseren eigenen moralischen oder ethischen Standards widerspricht. Sie ist eine direkte Reaktion auf etwas, das wir getan haben, was nicht unseren Werten entspricht, wie das Vergessen, ein Kind von der Schule abzuholen. Psychologen wie Tangney und Dearing (Quelle: Tangney, J.P., & Dearing, R.L. (2002). „Shame and Guilt“. Guilford Press.) heben hervor, dass Schuldgefühle uns darauf hinweisen, dass wir möglicherweise einen Fehler gemacht haben, der eine Wiedergutmachung erfordert.

Scham: Das tiefe Unzulänglichkeitsgefühl

Scham geht über die einfache Handlung hinaus und betrifft unser Selbstbild. Brené Brown ( Quelle: Brown, B. (2012). „Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead“. Gotham Books.) beschreibt Scham als das Gefühl, nicht liebenswert oder zugehörig zu sein. Es ist ein Zustand, der aus der Bewertung unserer gesamten Person entsteht, oft ausgelöst durch peinliche Situationen oder das Gefühl, den Erwartungen nicht zu genügen. Scham ist zutiefst in der extrinsischen Motivation verwurzelt und kann zu einer lähmenden Angst vor Ablehnung führen.

Schlechtes Gewissen: Der innere moralische Kompass

Das schlechte Gewissen unterscheidet sich von Schuld und Scham durch seine Funktion als innerer moralischer Kompass, der uns an die kleinen, alltäglichen Verfehlungen erinnert. Es ist die leise Stimme, die uns daran erinnert, wenn unsere Handlungen nicht mit unseren eigenen Standards oder den Erwartungen übereinstimmen, die wir an uns selbst haben, wie das Essen des letzten Kuchenstücks, obwohl wir wussten, dass unser Kind es wollte.

Lasst uns das an einem Beispiel anschauen, es handelt sich um einen konkreten Fall, den mir eine Freundin erzählt hat und den ich euch auch weitererzählen darf. Ich wähle jetzt ungewöhnlicherweise für mich die Ansprache hier in der Du-Form, weil sie mir das genauso erzählt hat und ich gemerkt haben, dass es mich genau so berührt hat:

Ein Beispiel aus dem Leben für Schuld, Scham und schlechtes Gewissen – und wie sie alle drei zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftauchen

Stell dir vor, du sitzt an einem ruhigen Nachmittag vertieft in deine Arbeit, die dir wichtig ist und du sie gern machst – eine dieser seltenen Gelegenheiten, bei denen du dich voll und ganz einem spannenden Thema hingeben kannst. Selbstwirksamkeit spürst. Im Flow bist. Die Zeit verfliegt, und plötzlich klopft die Schuld an deine Tür: „Oh nein, ich habe vergessen, mein Kind von der Schule abzuholen!“

Schuld

In diesem Moment, in dem du realisierst, dass du dein Kind hast warten lassen, flüstert deine innere Stimme: „Wie konnte ich das nur vergessen? Ich bin verantwortlich dafür, dass mein Kind sicher nach Hause kommt. Was für ein Vorbild bin ich da?“ Diese Stimme ist die Schuld, die dich daran erinnert, dass deine Handlung nicht im Einklang mit deinen Werten steht. Du wolltest immer für dein Kind da sein, und jetzt hast du es im Stich gelassen…“

Scham

Während du dich beeilst, um dein Kind abzuholen, beginnt eine andere Stimme, sich bemerkbar zu machen: „Alle anderen Eltern haben ihre Kinder pünktlich abgeholt. Was müssen die jetzt von mir denken? Dass ich eine schlechte Mutter bin, die ihre Prioritäten nicht richtig setzt.“ Das ist die Scham, die nicht nur deine Handlung, sondern dein gesamtes Selbst infrage stellt. Es ist das Gefühl, nicht nur einen Fehler gemacht zu haben, sondern selbst der Fehler zu sein. Scham lässt dich glauben, dass du in den Augen anderer und in deinen eigenen Augen an Wert verloren hast.

Schlechtes Gewissen

Nachdem du dich bei der Nachmittagsbetreuung in der Schule entschuldigt und du deinem Kind erklärt hast, was passiert ist, legt sich ein nicht zu starkes, aber beharrliches Gefühl über dich. „Ich hätte besser planen müssen. Ich weiß, wie wichtig es für mein Kind ist, dass ich da bin, wenn es mich erwartet.“ Das ist das schlechte Gewissen, das dir sagt, dass du in diesem Moment nicht die Person warst, die du sein möchtest. Es ist eine sanfte Erinnerung daran, dass deine Taten nicht mit deinen eigenen Standards oder den Erwartungen übereinstimmen, die du an dich selbst hast. Das schlechte Gewissen motiviert dich, in Zukunft achtsamer zu sein und sicherzustellen, dass solche Fehler nicht wieder vorkommen.

Fazit

Diese Momente der Schuld, Scham und des schlechten Gewissens sind tief menschliche Erfahrungen, die uns dazu bringen, über unser Handeln und unsere Werte nachzudenken. Sie erinnern uns daran, dass wir alle fehlbar sind, aber auch, dass wir die Fähigkeit haben, aus unseren Fehlern zu lernen und zu wachsen. Indem wir diese Gefühle anerkennen und verstehen, können wir beginnen, uns selbst und anderen mit mehr Mitgefühl zu begegnen. Sie sind nicht nur Zeichen unserer Fehler, sondern auch Chancen für persönliches Wachstum und tieferes Verständnis!

Generationenübergreifende Perspektiven

Intrinsisch vs. Extrinsisch: Ein Generationenwechsel

Die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation bietet einen faszinierenden Rahmen, um die Veränderungen in der Erziehung und Lebensführung verschiedener Generationen zu betrachten. Die Nachkriegsgeneration, geprägt von Entbehrungen und dem Wiederaufbau, neigte dazu, Werte und Verhaltensweisen zu fördern, die stark von extrinsischen Motivationen – Pflicht, Ordnung, materieller Erfolg – geprägt waren.

Heutige Eltern, die der Generation X und Y angehören, sind dagegen in einer Zeit des relativen Überflusses und der Selbstverwirklichung groß geworden. Sie legen mehr Wert auf intrinsische Motivationen – persönliche Erfüllung, Glück und die Balance zwischen Arbeit und Leben. Dieser Wandel beeinflusst, wie wir mit Schuld, Scham und schlechtem Gewissen umgehen. Die strengeren, vielleicht religiöseren Erziehungsstile unserer Großeltern haben bei vielen von uns ein Erbe hinterlassen, das reich an extrinsischen Motivationen ist.

Generation X und Y: Ein neuer Umgang mit alten Gefühlen

Die Generationen X und Y stehen oft im Spannungsfeld zwischen den überlieferten Werten ihrer Eltern und Großeltern und ihren eigenen, mehr auf Selbstverwirklichung ausgerichteten Werten. Dieser Konflikt kann zu einem verstärkten Auftreten von Schuld und Scham führen, wenn wir versuchen, beiden Welten gerecht zu werden – der traditionellen Welt der extrinsischen Motivation und unserer eigenen Welt der intrinsischen Motivation.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Die zunehmende Fokussierung auf intrinsische Werte bietet uns die Möglichkeit, gerade Schuld und Scham in einem neuen Licht zu sehen. Indem wir lernen, unsere Handlungen und Gefühle durch die Linse unserer persönlichen Werte und Bedürfnisse zu betrachten, können wir einen gesünderen Umgang mit diesen Emotionen finden. Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) lehrt uns, dass unsere Gefühle aus unseren Bedürfnissen entstehen. Wenn wir also Schuld oder Scham empfinden, können wir fragen: „Welches Bedürfnis wird hier nicht erfüllt?“

Fazit: Es gibt einen Weg zur Selbstakzeptanz – und zu einem gesunden Umgang mit Schuld, Scham und schlechtes Gewissen

Indem wir den Unterschied zwischen Schuld, Scham und schlechtem Gewissen erkennen und verstehen, können wir einen Schritt hin zu größerer Selbstakzeptanz und persönlichem Wachstum machen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass diese Gefühle nicht nur Herausforderungen darstellen, sondern auch Chancen für tiefe Einsichten in unsere persönlichen Werte und die Art, wie wir mit den Menschen um uns herum interagieren, bieten. Durch die Reflexion und das Verständnis dieser Emotionen können wir lernen, sie als Wegweiser zu nutzen, die uns helfen, authentischere und erfülltere Leben zu führen.

Mit diesem Blogpost hoffe ich, nicht nur den Unterschied zwischen Schuld, Scham und schlechtem Gewissen deutlich gemacht, sondern auch den Weg für ein tiefgreifendes Verständnis dieser Emotionen geebnet zu haben, das Generationen überbrückt und uns ermutigt, mit mehr Mitgefühl für uns selbst und andere zu leben. Und mit dem neuen Buch, das bald erscheint, hoffen wir etwas zu bringen, um euch zu entlasten…

Wie geht ihr damit um – und habt ihr Beispiele, welche Gedanken euch da durch den Kopf gehen bei Schuld, Scham und schlechtes Gewissen?

Liebe Grüße,

Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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