„Für einen Moment der Harmonie war mir jedes Mittel recht.“ – Auszug aus dem Buch „Blöder Mama“ von Valerie Schussel


Heute habe ich für euch einen herrlichen Auszug aus dem Buch „Blöder Mama“ von Valerie Schussel, das ich allen Eltern empfehle, die sich mit den kleinen und großen Nervereien im Alltag allein fühlen… 

„Dat hört mir!“, brüllte Nicolas.
Ich schaute zu den beiden Streithähnen. Nico und Sophie zogen an einem Etui. Beide wollten Krickelkrakel malen und benötigten den allerschönsten Buntstift. Malpapier lag auf dem Couchtisch bereit. Die ersten Striche waren gesetzt.
„Nein, mir hört dat!“, legte die Kleine Einspruch ein.
„Das Etui kann überhaupt nicht hören!“, korrigierte Freddy sie in der deutschen Sprache. „Wem gehört das denn?“, fragte er, weil er von Zugehörigkeiten in unserem Haushalt nicht viel Ahnung hatte.
„Wenn, dann gehört das mir“, warf ich dazwischen. „Jedenfalls sind das die Stifte von allen!“
„Ik hatte die aber zuert!“, betonte unser Ältester.
„Ist egal, ihr dürft beide damit malen“, erklärte ich. „Oder niemand, wenn das nicht klappt!“
Sophie zog weiter an dem Etui.
„Ik darp auk!“, schrie sie jetzt und fühlte sich im Recht, nachdem sie mütterliche Verstärkung gespürt hatte. Dann kam ihre Standardbeleidigung hinterher: „Blöder Nicola!“

Eine intelligentere Beleidigung fiel ihr nicht ein. Aber genau die führte dazu, dass Nicolas handgreiflich wurde. Mit geballter Faust schlug er zu. Sophie schrie vor Schmerz.

„Stopp! Aufhören!“, brüllte ich in mindestens der gleichen Lautstärke und ging dazwischen, um das Gewusel zu entzerren.
„Mann, Mann, Mann“, tröstete ich Sophie liebevoll.
„Nicola hat mik gehaun. Gant doll!“, schluchzte das Mädchen.
„Habe ich gesehen“, bestätigte ich und stellte mich auf die Seite des Opfers. Es war Zeit für meinen genialen Einfall: „Dafür bekommst du jetzt eine Trostschokolade. Die hilft bestimmt.“
„Ja! Trotkokolale!“, freute sich Sophie und wischte ihre Tränen weg. Mit einem Adrenalinschub sprang sie von meinem Schoß und rannte zu dem Süßigkeitenvorrat. Der Schmerz war vergessen. Ein Zuckerkick folgte.
Der Täter stand noch immer am Couchtisch und konnte endlich ohne Streitkumpan malen. „Dat it ja unglaublich, Mann, ja?“, sagte Nicolas mehr zu sich selbst.

Er hatte die Stifte; seine Schwester die Schokolade. Der Konflikt war gelöst.

Ein herrlich schöner Zustand. Gern hätte ich ihn behalten. Doch die Schokolade war irgendwann runtergeschluckt und der kleine Körper verlangte nach mehr von der braunen Süßigkeit. Sophie wusste, was zu tun war, und sie wusste auch, wo sie ihren Bruder finden würde, der inzwischen nicht mehr am Couchtisch stand. Vorsichtig setzte sie eine Fußspitze in die Höhle des Löwen.

„SOPHIE! Raut aut mein Timmer!“, schnauzte Nicolas seine Schwester an.
Niemand mochte sich gern anschnauzen lassen, so auch nicht Sophie.
„Blöder Nicola!“, beschimpfte sie ihn.
Selbst mit Ohrstöpsel bekam ich das Spektakel im Hintergrund mit. Ich drückte die Stöpsel tiefer in den Gehörgang.
Nicolas wusste sich nicht anders zu wehren, als ihr eins drüber zu hauen.
„Zack!“, landete seine Hand auf ihrem Körper, der hart im Nehmen war.
„Nicola hat mik gehaun. Jett eine Trotkokolale!“, rief das Opfer und kam weinend auf mich zugelaufen. Nur ein Zuckerkick würde vom Schmerz ablenken.
„Was hast du gesagt?“, fragte ich nach, während ich meine Ohrstöpsel aus den Ohren puhlte.

„Trotkokolale“, wiederholte Sophie das wichtigste Wort und fing an zu strahlen.
Der Teufelskreis war in Gang gesetzt. Meine Strategie entpuppte sich als falsch.

„Die brauch ich auch!“, säuselte ich.
„Du darfst Nicolas aber auch nicht beleidigen! Lass das!“, ermahnte ich meine Tochter, anstatt sie mit Schokolade zu trösten.
Sophie schaute irritiert, wieso sie keine Trostschokolade bekam, wo sie doch extra ein paar Schläge eingesteckt hatte. Ihre Opferrolle gefiel ihr nur mit anschließender Wiedergutmachung und mütterlicher Verhätschelung. Trotz allem waren die Schläge nicht gestattet.
„Und du darfst Sophie nicht hauen!“, wandte ich mich an den Täter. „Auch dann nicht, wenn sie dich beleidigt hat. Dann kannst du höchstens selbst ‚Blöde Sophie‘ sagen.“
Schließlich brauchte er sich keine Beleidigung gefallen zu lassen. Er sollte lernen, sich mit Worten zu wehren. Aber welche waren die richtigen? In Schlagfertigkeit war ich selbst nicht gut.
Als Nächstes fühlte ich das dringende Bedürfnis, alle Verhaltensweisen aufzuzählen, die im Schusselschen Hause nicht toleriert wurden: „Es wird hier nicht gehauen, getreten, geschubst, geschlagen, gespuckt!“
„Nur wenn wir krank dind, dürfen wir pucken, oder, Mama?“, vergewisserte sich Sophie, ob eine Krankheit als Ausnahme galt.

Meine Gehirnwindungen drehten sich um 180 Grad.

Soeben hatte ich noch über unterlassene Gewaltanwendungen gesprochen, nun ging es um das Brechen von den genannten Regeln.

„Ja, natürlich“, bestätigte ich. „Dann aber am besten in die Spuckschüssel.“
Schließlich herrschte bei uns Zucht und Ordnung! Na ja, in meiner Wunschvorstellung auf jeden Fall. Aber die entsprach sowieso nicht der Realität. Stattdessen wurde „blöd“ zum Lieblingswort des Tages. Ich war mir nicht sicher, ob die Geschwister sich nur zofften, um mich zu ärgern, auch wenn in allen Erziehungsratgebern zu lesen war, dass kein Kind die Eltern extra ärgern würde, egal, was es tat. Ich wollte nur weg von dem Wort „blöd“ und wieder zur Familienharmonie zurückfinden.

Statt zu betonen, was alles verboten war, nannte ich ihnen eine Alternative, die bei mir eine hohe Akzeptanz erzielen würde: „Jetzt habt euch mal ganz doll lieb, nehmt euch in den Arm, gebt euch ein Küsschen!“, und fügte unmittelbar die Konsequenz bei Nichtbefolgung an: „Oder die Mama verteilt nichts Süßes mehr!“

Meine Taktik funktionierte ausgezeichnet.

Nicolas und Sophie nahmen sich zähnefletschend in den Arm und drückten sich, während sich ihre ausgestreckten Zungen berührten und sie angewidert und lachend zugleich „Wööööh“ und „Bäääh“ machten. Sie beendeten das Spektakel mit: „Jetzt eine Kokolale!“

Im Prinzip lag hier ein Missverständnis vor: Wenn ich sagte, dass es sonst nichts Süßes mehr gäbe, bedeutete das nicht im Umkehrschluss, dass es sofort etwas Süßes gäbe, wenn die Kinder taten, was ich sagte. Andernfalls hätte ich das anders betont. Ich erkannte, dass ich mich falsch ausgedrückt hatte. Aber auf eine Diskussion ließ ich mich nicht ein und setzte ihren Wunsch um.
„Augen zu und Mund auf!“
Sie standen bereit, wie ich es angeordnet hatte.
Beiden Mündern legte ich ein Stück Schokolade auf die Zunge.
„Lecker, lecker!“
Der Haussegen war wieder geradegebogen. Ich lernte, den Moment zu genießen. Allerdings widersprach meine Vorgehensweise anderen Ratgebern, die besagten, dass man nicht mit Süßigkeiten belohnen oder bestrafen sollte, und außerdem könnte man Geschwister nicht aufzwingen, sich lieb zu haben.

Ich ignorierte alle Ratgeber und hörte auf mein Bauchgefühl. Für einen Moment der Harmonie war mir jedes Mittel recht.

Danke liebe Valerie Schussel für den Auszug! 

Wenn euch das Freude gemacht hat, kauft euch das Buch und ihr werdet Spaß haben:

 

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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