Diagnose MS: Dann werde ich jetzt erst einmal schwanger – Buchvorstellung „Alles wie immer, nichts wie sonst“
Wer Julia nicht kennt, dem fehlt ein Lichtstrahl im Leben. Wer sie erlebt, weiß nicht, dass sie eine ziemlich dunkel machende Krankheit mit sich schleppt: Diagnose MS. Multiple Sklerose. Wer ihr sagt, man sähe ihr das nicht an, den klärt sie liebevoll auf.
Wie in ihrem Buch, das neu erschienen ist und es bereits auf einige Bestsellerlisten geschafft hat:
Alles wie immer, nichts wie sonst:
Mein fast normales Leben mit multipler Sklerose
(affiliate Link, also Mini-Werbung)
Das Buch fängt genau so an. »DU HAST MULTIPLE SKLEROSE? DAS SIEHT MAN DIR ABER GAR NICHT AN.« Nein, man sieht es ihr nicht an, aber man sieht es ihr an, dass sie ein Mensch ist, der ihr Leben bewusst und positiv lebt. Mit MS. Und darüber bloggt – als Mama Schulze.
Wer Julia auf der Bloggerkonferenz Denkst! in April erlebt hat, wie sie aus ihrem Buch vorlas, mit ihrer Tochter direkt auf der Bühne, der hat das Licht und all das, was Julia ausmacht, fast mit den Händen zu greifen bekommen. Sie las eine Stelle vor, die von einem Schwindelanfall aus dem Nichts handelte, möglicher Vorbote eines MS Schubs. Dabei tröstete ihre Tochter Emma, damals nur anderthalb Jahre alt, die Mutter, übernahm Verantwortung, machte sich fertig für die Kita. Wie fühlt man sich, wenn man von eigenen Kind nahezu bemuttert wird? Welche Verwirrung, welche Dankbarkeit, welche Verzweiflung und welche Hoffnung macht sich da breit? Und wie macht man weiter – bis man drei Kinder hat (siehe Titelbild) und eine glückliche Familie?
Mir wurde in diesem Moment, als Julia vorgelesen hat, klar: Das ist kein Buch nur über MS. Das ist ein Buch darüber, wie ein Mensch mit einer schlimmen Herausforderung trotzdem – oder gerade deswegen? – ein gutes, bewusstes Leben führen kann. Wie man das Licht findet.
Ich habe einige Zitate aus dem Buch rausgesucht und Julia einige Fragen dazu gestellt:
Béa: Meine Lieblingspassage: „Bis hierhin bin ich durch die Hölle gegangen. Ich habe eine existenzielle Angst gespürt, die ich in meinem Leben noch nicht kannte. Nun weiß ich, was ich sehr wahrscheinlich habe. Und ich weiß, wie sehr ich leben möchte und was ich auf jeden Fall noch erleben möchte, nämlich ganz viele schöne Momente mit meinem Mann. Dabei schweben mir keine großen Dinge vor. Keine fernen Reisen, teure Anschaffungen oder Ähnliches. Nein, ich möchte einfach noch Zeit mit ihm haben. Zeit, um das Uns zu genießen. Ich möchte mit ihm durch mein Leben tanzen. Und dafür möchte ich noch ganz viel Lebenszeit haben. So wie es ausschaut, werde ich die auch noch bekommen. Viel- leicht mit ein paar Einschränkungen. Aber ich werde sie haben. Und mehr ist jetzt nicht wichtig.“ Das ganze Buch handelt davon, aber noch mal bitte von dir: Wie schafft ihr das?
Julia: Wir leben einfach nur unser Leben. Wir machen die MS nicht verantwortlich für unsere Verhaltensweisen. Das hört sich schräg an, daher versuche ich es zu erklären:
An freien Tagen halten wir alle (mein Mann, die Kinder und ich) Mittagsruhe. Das haben mein Mann und ich mit der Diagnose so eingeführt. Denn die Multiple Sklerose mag Stress nicht so gern – so versuchen wir u.a. den Alltag nicht zu stressig zu gestalten. Aber wir sehen das nie negativ. Noch nie hatten wir das Gefühl, dadurch etwas zu verpassen. Die Mittagsruhe tut uns allen gut. Daher trauern wir nie Dingen nach, die wir in der Zeit erleben könnten, sondern genießen die Ruhe. Sie tut uns allen gut. Das macht es mir beispielsweise einfach, die MS nicht als Gegner zu erleben.
Darüber hinaus lassen uns unsere 3 Kinder nicht allzu viel Zeit, um uns viele Gedanken zu machen. Wir versuchen einfach, das für uns Beste draus zu machen. Besonders angenehm ist in diesem Zusammenhang, dass mein Mann und ich uns zum Glück nahezu immer einig sind, was das Beste für uns ist. Das empfinde ich als unsagbares Glück.
Übrigens, ich muss nicht in Terminen schwimmen, um das Gefühl zu haben, ausgefüllt zu sein. Ich finde es einfach super schön, Zeit mit meiner Familie ohne Termine zu haben. Und ich habe nie das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn ich schlafe. Auch mein Mann hat das nicht. Daher gehen wir auch vergleichsweise früh schlafen. Um 22 Uhr liegen wir in den Federn.
Béa: „Wie unwichtig das Aussehen doch eigentlich ist! Viel wichtiger ist es, gesund zu sein.“ – was kannst du Menschen mitgeben, die mit ihrem Körper unzufrieden sind?
Julia: Meine Erfahrung ist, dass insbesondere Frauen (und da zähle ich mich auch dazu) von alleine zu dieser Erkenntnis kommen müssen. Denn das Thema „gutes Aussehen“ sitzt (leider) tief verankert in uns (durch Erziehung, gesellschaftliche Normen, etc.). Ein schlichtes „Sei froh, dass Du gesund bist!“ hilft da nicht alleine. Ich glaube, dass es hilft, sich damit zu beschäftigen, was wirklich gewollt wird. Keinen unerreichbaren Zielen hinterher zu hetzen, sondern immer zu hinterfragen: „Macht mich das glücklich?“ Und wenn „nein!“, dann sich dafür zu entscheiden, etwas zu ändern. Meine Erfahrung ist, dass dann das eigene „Ich“ viel mehr wert ist. Und nicht mehr nur über das Aussehen definiert wird.
Béa: Und so sage ich feierlich in die Runde: »Dann werde ich jetzt erst einmal schwanger.«- Ihr habt euch nach der Bekanntgabe der Diagnose sofort für ein Kind entschieden. Wow. Was denkst du über eure eigene Courage?
Julia: Mir kommen immer noch die Tränen, wenn ich mich daran erinnere oder die Passage im Buch vorlese. Es ist nämlich wirklich genau so gewesen. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum wir uns so entschieden haben. Natürlich war es eine Entscheidung, die wir grundsätzlich für unseren Lebensplan bereits gefällt hatten. So war die Grundeinstellung „Ja, wir wollen Kinder!“ bereits da. Warum dann aber in diesem Moment? Ich glaube, dass es auch ein wenig Verdrängung war. Da war die Diagnose auf der einen Seite, aber wir konnten uns auf der anderen Seite mit allen unseren Gedanken auf „Plan B“ stürzen. Das hat uns viel Ablenkung und dann mit dem positiven Schwangerschaftstest Hoffnung verschafft.
Béa: „Natürlich ist es bescheuert, Dr. Google um Rat zu fragen. Das weiß ich. Es macht mich verrückt und bringt mich auf Krankheiten, an die ich noch nie gedacht habe.“ Recherche im Internet bei Erkrankungen? Was sind deine Tipps für Menschen, die eine „schlimme Diagnose“ haben?
Julia: Ich bin da, ehrlich gesagt, hin- und hergerissen. Einerseits kann man mit den Infos aus dem Netz vermeintliche Diagnosen stellen, die so gar nicht zutreffen. Schließlich bedarf es hierfür das Wissen eines Facharztes. Andererseits haben die Ärzte oft nicht die Zeit, ausführlich ihre Diagnosen zu erklären und fangen Fragen leider nicht schon im Vorfeld ab. Im Anschluss sitzt man zu Hause, lässt alles sacken und tausend Fragen tun sich auf. Da kann meiner Meinung nach die Recherche helfen. Mit diesem Wissen können Fragen an die Ärzte viel gezielter gestellt werden.
Béa: „Das ist eine richtige Krankheit. Mit Rollstuhl!“ – waren deine ersten Gedanken als du die Diagnose gehört hast. Wie erklärst du deine Krankheit anderen Menschen? Du schreibst im Buch, dass die Ärzte dich sehr wenig darüber aufgeklärt haben, nachdem die Diagnose stand… Was sind idealerweise die ersten 3 Sätze, die ein Mensch, egal ob krank oder gesund, zu MS lesen oder hören sollte?
Julia: Ich erkläre, dass die MS eine noch unheilbare Autoimmunerkrankung ist, sich das Immunsystem selbst angreift und dabei die Nervenenden zerstört. Deswegen können die Nervenreize nicht mehr übertragen werden und es kann zu Einschränkungen kommen- in der Bewegung, bei Körperfunktionen (wie dem Urinieren) oder beim Denken. Die MS verläuft nicht bei allen Erkrankten gleich, sondern es gibt ganz unterschiedliche Verläufe und daher wird sie auch die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern genannt. Es gibt mildere Verläufe, es gibt schwerere Verläufe, man kann die Krankheit sehen (in Form eines Hinkens beispielsweise) oder eben auch nicht (wie bei mir, bei mir sind es Sensibiltätsstörungen). Sie verläuft in Schüben und diese haben neue Einschränkungen zur Folge, die sich ganz oder teilweise wieder zurückbilden. Es gibt Medikamente gegen die MS, aber sie heilen nicht, sondern können – wenn man Glück hat und sie gut verträgt – den Verlauf verzögern. Die Erkrankung an einer MS bedeutet nicht zwangsläufig der Bedarf eines Rollstuhls oder Pflegebedürftigkeit. Es gibt sehr viele Ms-Patienten, denen es bis auf einige wenige Einschränkungen gut geht. Nicht allen, aber vielen. Daher wird auch gesagt, dass die MS besser als ihr Ruf ist. Das wäre eine Info, die gerade zu Beginn sehr wichtig ist.
Die ersten 3 Sätze fallen mir schwer. Denn meine Forderung beginnt schon viel früher: Ärzte sollten sich erst einmal nur Zeit nehmen, um die Diagnose zu vermitteln. Ich weiß, da ist leichter gesagt als getan. Aber diese Diagnose verändert das Leben und das verdient meiner Meinung nach Respekt. Ich kenne MS-Patienten, die das Glück hatten und diese Zeit bekamen. Und die gehen auch viel positiver mit ihrer Erkrankung um. Aber ich kenne leider auch viel mehr Patienten, die sie wie ich förmlich an den Kopf geknallt bekamen ohne weiterführende Infos.
Ärzte sollten sich Zeit nehmen für das Mitteilen, aber auch für die vielen Fragen. Und sie sollten weitervermitteln an einen sozial-psychologischen Dienst. Denn es geht ja gar nicht nur um die Diagnose, sondern wir müssen lernen, mit dieser zu leben. Da wäre eine weiterführende Hilfe gerade zu Anfang sehr hilfreich.
Béa: „Aber was machst du, wenn es dir immer schlechter geht? Dann wächst dein Kind mit einer kranken Mutter auf“ – diese Bedenken hast du mehrfach gehört. Was ist dein abschießendes Urteil darüber, mit all deine Erfahrung?
Julia: Wir alle wissen nicht, was morgen passiert. Erkranken wir an einer tödlichen Erkrankung? Gehen wir über den Zebrastreifen und werden angefahren? Verlieren wir unseren liebsten Menschen? Wir können gar nicht antizipieren, was morgen geschieht. Daher lasst uns unsere Ziele, unsere Wünsche und unsere Kraft in das Hier und Jetzt stecken. Denn sonst bewegen wir uns nur in Szenarien, die vielleicht nie eintreffen werden. Daher stellt für mich die Diagnose nach wie vor kein Hindernis dar: Fühlen wir uns momentan stark genug, dann spricht meiner Meinung nach nichts gegen ein Baby.
Darüber hinaus möchte ich auch noch zu bedenken geben: Ja, ist das denn so schlimm, wenn Kinder mit kranken Eltern aufwachsen? Ist es nicht viel wichtiger, dass Kinder bedingungslose Liebe und Unterstützung erfahren? Macht sie das nicht viel stärker? Ich meine damit nicht Kinder, die früh ihre Eltern verlieren. Ich meine Krankheiten, mit denen Eltern alt werden. Natürlich wäre es schöner, wenn ich nicht krank wäre. Ganz ehrlich: Ich würde lieber gerne ohne die MS Leben. Aber ich sehe auch, wie meine Kinder an meiner Krankheit groß werden. Wie sie Berührungsängste gegenüber anderen Kranken abbauen. Wie sie sich interessieren, Fragen stellen. Natürlich machen sie sich auch Sorgen. Hier ist es wichtig, diese nicht zu groß werden zu lassen. Meine Kinder lernen einfach von Beginn an, dass Krankheiten zum Leben dazugehören. Und ich finde, dass das etwas ist, dass sie ihr Leben lang positiv begleiten wird.
Liebe Julia, vielen Dank für diese wunderbaren Antworten – und vielen Dank für dein großartiges Buch!
Liebe Grüße an alle!
Béa
Zur Transparenz, wie immer: Dieses Interview und meine Meinung zum Buch erscheinen hier ohne Bezahlung, wie bei allen Büchern meiner Bloggerkollegen. ich weiß, dass ich dafür eine wunderbare Umarmung von Julia bekomme, wenn wir uns sehen! Allerdings sind die Links zu Amazon natürlich Affiliate Links – d.h. wenn ihr dort kauft, verdiene ich einige Cent pro Buch. Und der Verkaufsrang des Buches geht nach oben, und das bringt noch andere dazu, das Buch zu lesen. Und das wäre gut! Denn es ist ein absolut schönes, gut geschriebenes und lesenswertes Buch!
Alles wie immer, nichts wie sonst:
Mein fast normales Leben mit multipler Sklerose
(affiliate Link, also Mini-Werbung)
- 21. Oct 2017
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- Buchrezension, Krankheit, Multiple Sklerose, Schicksal, schwanger, Schwangerschaft
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