Legasthenie: „Für mich war die Diagnose ein Segen und kein Stigma.“ – Interview mit Aljoscha Walser


Als ich den Beitrag über Legasthenie für meinen Kooperationspartner Novakid neulich geschrieben habe, wusste ich nicht, dass er einen solchen Anklang finden würde… Daher habe ich mich entschieden, eine Reihe von Interviews zu ähnlichen Themen zu starten: Ich möchte Menschen vorstellen, deren besondere Begabung sich zu Schulzeiten als Stolpersteine erwiesen haben!

In diesem Fall habe ich meinen langjährigen Freund aus Studienzeiten, Aljoscha Walser, interviewt.

Aljoscha hat genau wie ich Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert, war Geschäftsführer eines großen Instituts und arbeitet als Berater in der Medienbranche. Ich würde sagen: Erfolgreich! Auch wenn Erfolg ein Begriff ist, der für jeden ganz individuell ist. Ich freue mich jedes Mal, Aljoscha zu sehen und mit ihm spannende Gespräche zu führen. Denn er hat aus meiner Sicht eine wunderbare Gabe, Dinge auf den Punkt zu bringen und sich selbst zu reflektieren. Und er lebt gut mit Legasthenie. Deswegen wollte ich das Thema ein wenig mit ihm auffächern und aus seiner Erfahrung lernen.

Das komplette Interview zu Legasthenie mit Aljoscha Walser findet ihr hier bzw. bette ich weitern unten ein, das könnt ihr hören wie einen Podcast.

Die wichtigsten Dinge, die er gesagt hat, möchte ich auch für alle hier in Schriftform zusammenfassen – mit einigen seiner Originalaussagen gemixt:

1. Wissen, was es ist und wie damit umzugehen ist: Die Diagnose als Segen

…und kein Stigma – habe ich auch als Titel des Blogbeitrags gewählt. Wie für fast alles im Leben, ein Wissen darüber, um was es sich handelt, hilft enorm: Den Betroffenen selbst und allen, die mit ihnen zu tun haben.  „Ich war bereits in der Schulzeit auffällig“ sagt Aljoscha und fügt hinzu: „… seit der dritten Klasse waren meine Deutsch Hefte blau von mir und rot vom Lehrer und meistens in umgekehrter Reihenfolge: Also das war mehr Rot als Blau. Diktate alle sechs. Ich bin sang- und klanglos durchgefallen bei der Aufnahmeprüfung damals Baden-Württemberg aufs Gymnasium…“ – also eine Leidensgeschichte einerseits.

Aber auch eine Erfolgsgeschichte: Aljoschas Mutter hat früh dafür gesorgt, dass Aljoscha selbst wusste, dass es sich um eine besondere Ausprägung seines Gehirns handelte. Mit diesem Selbstbewusstsein gewappnet konnte er sich besser im Schulumfeld behaupten: „Wissen, dass man etwas hat. Dass da etwas ist, das nicht dem eigenen Willen unterworfen ist, der eigenen Faulheit oder was auch immer! Sondern, dass da ein ein Schild ist, wo draufsteht: Legastheniker. Man kann nichts dafür, wenn man so ist“. Und auch: „Ich hätte es mir auch ins Abiturzeugnis reinschreiben können. Ich hätte 0,3 Prozent geschenkt bekommen. Also drei Punkte besser! Statt ein 1,7 dann 1,3 oder ein 1,4. Aber ich wollte den Krüppelbonus nicht. Wichtig war für mich zu wissen: Du bist okay. Du hast da oben was. Es ist irgendwie ein bisschen anders als bei anderen. Und mir hat das geholfen, nicht unterzugehen, in meinem Selbstverständnis und in meinem Selbstwertgefühl.“

…Und somit sind wir schnell beim nächsten Punkt:

2. Stärken stärken statt Schwächen schwächen: Potenziale nutzen

Legasthenie ist auch eine Form von Begabung. Eine Eigenschaft des Gehirns, geschriebene Worte anders wahrzunehmen und Worte anders zu schreiben. Aljoscha sagt im Interview: „Ja, es ist eine Diagnose, aber es ist keine Krankheit. Also ich sage jetzt mal, die WHO ist der Meinung, es ist eine physiologische. Ich sage: Schwäche oder Verschiebung. Wir (=Legastheniker) können bestimmte Dinge nicht so gut. Aber in der Folge und als Kehrseite können wir andere Dinge besser.  Ich kenne einen Haufen Legastheniker, die z.B. unglaublich schnell Dinge erfassen. Sehr viel schneller als ihre Umgebung, die Zeile für Zeile für Zeile lesen.

Also ich kann ganz schnell lesen… Ich fotografiere eigentlich Seiten. So komme sehr schnell durch. Ich habe in Bilanzen mehr Fehler gefunden als mancher Wirtschaftsprüfer, obwohl ich überhaupt kein mathematischer Mensch bin, weil mir irgendwelche Unsicherheiten, Unschlüssigkeiten oder so aufgetaucht sind. Es ist eine andere Wahrnehmung!“

Und auch: „Es gibt Situationen, z.B. beim Gliedern von großem Chaos bin ich ziemlich gut, wo die Leute keinen Überblick finden. Ich finde Strukturen an Stellen, die keiner findet.“

Aljoscha empfiehlt das Buch:

„Legasthenie als Talentsignal: Lernchance durch kreatives Lesen“

Und in diesem Zusammenhang auch das Thema direkt in Bewerbungsgesprächen zu platzieren und nicht versuchen, es zu verstecken. Sondern klar sagen, was man braucht: Zum Beispiel Korrekturlesen bei allen Texten!

3. Können können und Hilfsmittel finden: Workarounds

Im Interview hat Aljoscha einiges an Tools angesprochen, die ihm im Alltag helfen – angefangen mit der wunderbaren Autokorrektur (wobei die zugegeben auch viel Mist baut, oder?) bis hin zur Gliederungsfunktion bei Word oder…. MindMaps. (Ich liebe selbst MindMaps und werde demnächst einmal selbst in einem Video erklären, wie ich sie mache…)

Aljoscha erzählt: „In meinem Fall war es eine riesige Erleichterung und es ist mir wie ein Reißverschluss auf dem Kopf aufgegangen, als ich die Technik von einem MindMap kennengelernt habe. Ich musste nicht mehr linear hintereinander weg einen Text schreiben. Ich konnte sprunghaft Worte pinnen. Ich konnte sie umhängen. (…)  Ich konnte plötzlich so arbeiten, wie ich denke. (…)

Ich bin mit MindMaps in große Vorträge reingegangen. Ich konnte sie innerhalb von einer halben Stunde vorbereiten. Ich habe nichts vergessen, was wichtig war. Und ich konnte, auch wenn ich gesprungen bin, weil mir jemand eine Frage gestellt hat, wieder an den anderen Punkt zurückgehen… “

Was aber auch wichtig ist: Den Mut, seine eigenen Workarounds zu finden. Denn: „Jede Legasthenie ist anders. Jeder Workaround ist anders und das macht uns individuell zu sehr unterschiedlichen Leuten mit unterschiedlichen Talenten.“

4. Was für Menschen mit Legasthenie gut ist, ist für alle anderen auch gut

Eigentlich kamen wir von Workarounds zu Typographie und Schriftzeichen. Aljoscha hat herausgefunden, dass manche Schrifttypen für ihn besser zu handhaben sind. Falls euch das Thema interessiert: Aljoscha empfiehlt diese Broschüre: „SCHRIFTARTEN FÜR LEGASTHENE MENSCHEN

Das Prinzip dahinter gefällt mir gut. Aljoscha sagt: „Alles, was für Legastheniker gut ist, ist für alle anderen auch besser lesbar. Das ist wie mit allen. Ich sag jetzt mal barrierefreien Bauten. Ja, die sind auch für andere angenehmer zu laufen. Hohe Stufen sind für Alte schlecht. Also bitte kleine Stufen, Rampen, breite Türen, eine Klotür, die einfach aufgeht, und wo man sich nicht dagegen lehnen muss. Mit Schrift geht das auch!“

So, und hier kommt auch das Video in Gänze – ca. 30 Minuten, ihr könnt es als Podcast hören!

Habt ihr noch Fragen zur Legasthenie? Wollt ihr vielleicht eure Workarounds teilen?

Liebe Grüße und ein riesiges Dankeschön an Aljoscha!

Béa

Mehr zu Legasthenie auch hier:

Legasthenie – eine neurobiologische Eigenschaft, mit der es sich gut lernen und leben lässt (enthält Werbung für Novakid)

Und meine Bloggerfreundin Alu hat hier auch gebloggt:

Wenn die Buchstaben zu Tränen führen M-A-M-A #Coronatagebuch

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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