Ocean College: Ein Klassenzimmer auf dem Atlantik


Stef vom Tollabea Team hat einen 15jährigen Sohn, der gerade auf einem Segelschulschiff den Atlantik überquert. Hier berichtet sie in verschiedenen Blogposts über dieses beeindruckende Projekt und über ihre Erfahrungen beim Loslassen des eigenen Kindes.

6 Monate weit weg von zu Hause. Überqueren des Atlantiks. Kennenlernen von 10 Ländern. Zusammenleben mit 31 fremden Jugendlichen. Unterricht an Bord eines Segelschulschiffs. Das ist das Abenteuer, auf das sich mein Großer Mitte Oktober eingelassen hat. Da es nach meinem ersten Blogpost über diese Reise Rückfragen zum Programm gab, will ich heute etwas genauer über das Ocean College und unsere bisherigen Erfahrungen berichten.

„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“
Zitat von Alexander von Humboldt

Der Vater vom Großen und ich sind uns schon immer einig darin, dass es Spaß macht, die Welt zu entdecken, seinen Horizont zu erweitern, neue Kulturen kennenzulernen und sich aus der eigenen Komfortzone zu bewegen. Wir haben beide selbst sehr schöne und prägende Erfahrungen im Ausland gesammelt, er in einem Austauschjahr in der 11. Klasse in Amerika und ich nach meinem Abitur mehrere Jahre in London.

Als unser Großer 11 Jahre alt war, berichtete ein Freund der Familie von einem Projekt, das wie eine Art segelndes Klassenzimmer funktioniert. Wir fanden das toll, vergaßen die Idee aber wieder, denn der Große war viel zu jung. Als dann allerdings das 11. Schuljahr bevorstand, welches in einer Gesamtschule als Auslandsjahr genutzt werden kann, warf der Große die Idee des segelnden Klassenzimmers wieder in den Raum, denn er hatte sie nicht vergessen.

Die erste Herausforderung des Ocean College: Sich selbst und die eigene Belastbarkeit einzuschätzen und zu überlegen, wie man sich ins Team einbringen kann.

Der Große machte sich viele Gedanken und erstellte eine tolle Bewerbungsmappe. Schon allein den Bewerbungsprozess empfand ich als einen echten Lernprozess, denn die Kids müssen ein Anschreiben verfassen, in dem sie erläutern, warum sie gern Teil des Teams werden wollen und was sie zum Erfolg der Reise beitragen können.

Sie müssen sich also schon ziemlich Gedanken machen und sich mit ihren Stärken auseinandersetzen, um diese auch bewusst kommunizieren zu können. Auf die Bewerbung folgte eine Einladung zum gegenseitigen Kennenlernen. Offensichtlich machte der Große einen guten Eindruck, denn er erhielt danach eine Einladung zum Probetörn.

Von Beginn an wurde klar kommuniziert, was die SchülerInnen erwartet.

Diese unterschiedlichen Schritte des Kennenlernens waren wichtig für beide Seiten. Beim gegenseitigen Kennenlernen war ich bspw. dabei, zwar im Hintergrund, aber ich hatte anschließend die Möglichkeit, Fragen zu stellen und einen Eindruck vom Projektteam zu bekommen.

Außerdem fand ich super, dass eine Schülerin anwesend war, die im Vorjahr die Reise mitgemacht hatte, und dem Großen ziemlich genau erläuterte, was ihn erwarten würde. Von Anfang an war so zum Beispiel klar, dass es eine extrem spannende Erfahrung ist, aber auch eine extrem herausfordernde, weil man auf engem Raum mit erst einmal fremden Menschen zusammenlebt und mit vielen unterschiedlichen Bedürfnissen klarkommen muss. Es war ein sehr ehrliches Gespräch, das einen guten Eindruck davon vermittelte, worauf man sich als SchülerIn und als Elternteil einlassen würde.

Beim Probetörn lernt man die anderen SchülerInnen und die Besatzung kennen.

Der Probetörn dauerte ein Wochenende. An diesem nahmen alle ausgewählten SchülerInnen, alle MentorInnen (Jugendliche, die bereits die Schule beendet haben), die LehrerInnen und die Crew teil. Der Große konnte dort also schon alle Leute treffen, mit denen er ein halbes Jahr auf engem Raum verbringen würde. Erst nach diesem Probetörn muss man sich entscheiden, ob man an der Reise teilnehmen möchte oder nicht. Diese Entscheidung betrifft natürlich beide Seiten.

Viel Geld, aber auch unheimlich viel Lebenserfahrung, prägende Erinnerungen und Freundschaften fürs Leben.

Die Reise kostet 25.000 Euro, das ist wirklich viel Geld. Da die Kosten allerdings die komplette Reise und Verpflegung auf dem Schiff, die Unterbringung und Verpflegung in Gastfamilien, sämtliche Ausflüge, eine Sprachschule, eine nautische Ausbildung, die Bezahlung eines Teams aus Lehrerinnen und Lehrern für den Schulunterricht sowie die Bezahlung einer kompletten Schiffscrew abdecken, ist die Höhe durchaus nachvollziehbar. Ich habe mal nachgeschaut, was ein Auslandsjahr in Kanada oder Amerika kostet und festgestellt, dass sich das nicht viel nimmt. Dennoch, es ist wirklich viel Geld, und es war klar, dass wir das nicht mal eben aus der Portokasse wuppen würden.

Als der Große dann allerdings vom Probetörn zurückkam und vollkommen beseelt war, stand die Entscheidung ziemlich schnell fest. Seine ersten Worte nach dem Probetörn waren: „Mama, die sind wie ich!“ Er hatte Gleichgesinnte gefunden, mit denen er sich schon nach nur wenigen Tagen sehr vertraut fühlte.

Er hatte zum ersten Mal richtige Gemeinschaft erlebt und in vollen Zügen genossen. Wir konnten als Eltern regelrecht spüren, wie da ein Funke angezündet worden war, der ihn strahlen ließ. Deshalb war für uns klar, dass wir dieses Abenteuer und diese Chance, zu wachsen, unterstützen wollten. Wir sparten also jeden Cent und wurden dabei von Verwandten und Paten unterstützt, die alle dieses Projekt großartig und einmalig fanden.

Schon nach vier Wochen ist uns klar: Es war die beste Investition, die wir machen konnten.

Ich kann definitiv sagen: Wir haben es nicht bereut! Schon in der Vorbereitung hat uns das Projektteam immer wieder von seinem Ansatz überzeugt. Es geht dem Gründer des Projekts, Johan Kegler, sehr stark darum, dass die Jugendlichen aus ihrem trockenen Schulalltag rausgeholt werden und am realen Leben lernen. Geographie begreift man dann beispielsweise anhand der Passatwinde und Kartenberechnungen, Biologie anhand eines an Bord springenden fliegenden Fisches und durch die Auseinandersetzung mit den Umweltbelastungen, z.B. durch Mikroplastik.

Das Fach Wirtschaft wird ganz real anhand der Besuche in zehn unterschiedlichen Ländern mit verschiedenen Wirtschaftssystemen vermittelt. Sprachen lernen sie durch praktische Erfahrung, denn die Bordsprache ist Englisch und die Sprache bei den Landaufenthalten Spanisch.

Ein atlantisches Klassenzimmer. Lernen am realen Leben.

Während der Fahrt sind die Jugendlichen komplett in den Schiffsbetrieb eingebunden. In der Wache sind sie für die Schiffsführung verantwortlich, was Navigieren, Steuern, Segel setzen, Sicherheits- und Maschinenrunden, Astronavigation, Karteneinträge und Ausguck beinhaltet. Alle bekommen also eine komplette nautische Ausbildung.

Zusätzlich gibt es auch den klassischen Schulunterricht, allerdings in deutlich abgespeckter Form, denn von Montag bis Samstag finden täglich nur vier Unterrichtsstunden statt. Diese orientieren sich am Berliner/Brandenburger Rahmenlehrplan und an den Inhalten, die die LehrerInnen der mitreisenden Jugendlichen vorab als Info ans Ocean College geschickt haben.

Per Dropbox können die Lehrer und Lehrerinnen der Heimatschulen sogar während der Reise Lernmaterialien, Test und Klausuren ans Ocean College schicken, welches diese dann an Bord mit dem oder der jeweiligen SchülerIn bearbeitet und durchführt. Ob das mit dem Material aus den Heimatschulen klappt, hängt vom Engagement dieser Schulen ab. Auf jeden Fall bekommt jedes Kind am Ende der Reise ein Zeugnis vom Ocean College, das alle relevanten Fächer abdeckt und als Leistungsnachweis für die Heimatschule dient.

Ziel ist es, dass die Jugendlichen nach ihrer Rückkehr problemlos in ihrer alten Klasse einsteigen können, was bisher wohl auch immer klappte.

Das setzt allerdings auch lernwillige Jugendliche voraus, die keine großen schulischen Probleme haben, denn auch wenn der SchülerIn-LehrerIn-Schlüssel bei 1:8 liegt, muss doch ein intensives Pensum an Lehrstoff innerhalb kürzester Zeit verarbeitet werden.

Selbstreflexion wird auf dieser Reise GROSS geschrieben. Eine Tatsache, die vermutlich das ganze restliche Leben der TeilnehmerInnen prägen wird.

Es geht bei der Reise viel um Persönlichkeitsentwicklung. So gibt es beispielsweise im Stundenplan das Fach „Selbstreflexion und Selbstführung“, in welchem es um Achtsamkeit mit sich selbst und mit anderen, um eigene Zielsetzungen und ähnliche Dinge geht. Ich finde das wirklich toll, denn meiner Meinung nach sind das Fähigkeiten, die wirklich wichtig sind, in unseren Schulen aber –  wenn überhaupt – leider nur eine kleine Rolle spielen.

Auch das Thema der Nachhaltigkeit wird an Bord des Segelschiffs großgeschrieben. Die Jugendlichen sollen einerseits entdecken, wie unglaublich schön unserer Welt ist und andererseits einen Blick dafür bekommen, welchen Beitrag sie selbst zum Erhalt eben dieser leisten können. So untersuchen sie auf ihrer Reise zum Beispiel die Auswirkung von Verschmutzung durch Mikroplastik, helfen bei der Regenwaldaufforstung mit, besuchen eine Fair-Trade-Kaffeeplantage und beteiligen sich an Beach-Cleanups.

Jede Menge prägende Eindrücke verpackt in sechs aufregenden Monaten.

Mitte Oktober ging die Reise für den Großen in Bordeaux los. Mitte April 2020 werden wir ihn wieder in die Arme schließen können. Er wird während dieser Zeit zehn Länder kennenlernen wie Kuba, Panama und die Azoren. In einigen davon wird er längere Zeit leben wie bspw. in Costa Rica. Seinen 16. Geburtstag feiert er auf Teneriffa und Weihnachten in der Karibik. Zwischen Abfahrt und Rückkehr liegen zwei Atlantiküberquerungen, einmal südlich und einmal nördlich. 14 Tage ist die längste Zeit, in der sie durchgängig auf dem Wasser sind.

Kontakt zu den Familien zu Hause gibt es jeweils einmal während der Landaufenthalte. Dann bekommen die Kids ihre Telefone für eine Stunde ausgehändigt. Ansonsten besteht die Option Briefe zu schreiben, die jeweils bei den Landaufenthalten verschickt werden können. Die Eltern bekommen über die Monate verteilt ein paar Mal die Möglichkeit, Briefe für die Kinder an das Berliner Projektbüro zu schicken, welches diese dann mit an Bord gibt, wenn die Besatzung wechselt. Durch die Social Media Kanäle des Ocean College, den Reiseblog, das Online-Logbuch des Kapitäns und Infobriefe für die Eltern im Teilnehmerbereich der Website werden Eltern auf dem Laufenden gehalten und bekommen ganz gut mit, was die Kids gerade erleben. Außerdem schickt der Geschäftsführer des Ocean College immer wieder Fotos von den Kids an die Eltern, die er von Bord oder während der Landausflüge erhält.

Schon allein die ersten Wochen haben einen Sack voll Lebenserfahrung beschert.

Wir haben gerade die ersten paar Wochen des Abenteuers hinter uns und sind total glücklich. Die ersten Tage ohne Kontakt waren herausfordernd, weil man sich trotz aller Zuversicht fragt, ob es dem eigenen Kind gut geht.

Der Telefonanruf nach dem ersten Stück Atlantik war dann wirklich erlösend, weil ich spürte, dass es dem Großen richtig gut geht, dass er das Abenteuer in vollen Zügen genießt. Ich wurde ausführlich über die Häufigkeit des Stuhlgangs von Kamelen, über das Hissen von sämtlichen Segeln, über die großartigen Kochkünste des Smutje und vieles mehr informiert.

Die Blogposts des Schiffs-Reiseblogs zeigen, mit wie viel Spaß auch die Crew dabei ist.

Auf den Social Media Kanälen sehen wir, wie die Kids haufenweise Shantys singen, in den Masten rumklettern, Wettkämpfe im Taue binden veranstalten und jede Menge Spaß an Bord haben. Was ich ganz großartig finde, ist die Art, wie das Projektteam und die Crew mit den Jugendlichen umgehen. Spielerisch aber konsequent wird bspw. Eigenverantwortung gelernt. So müssen z.B. bis abends um 20 Uhr alle persönlichen Gegenstände vom Deck wieder eingesammelt sein. Bleibt was liegen, wird es von der Crew in Verwahrung genommen. Sonntags haben die Kids dann die Chance, ihre persönlichen Gegenstände wieder auszulösen, indem sie eine Frage zum Schiff beantworten. Ist die Antwort falsch, müssen sie eigenständig nach der richtigen Lösung suchen. (Die Crew ist laut Aussage des Großen immer auf sehr lustige Weise sehr hilfsbereit, wenn es um das Finden der Lösung geht.)

In Marokko wurden die Kids in die Kunst des Handelns eingeführt. Erst wurde mit der Crew geübt, danach mussten die Jugendlichen mit einem vorgegebenen Budget auf dem traditionellen Markt, dem Souk, die Lebensmittel für die nächsten Tage einkaufen. Als der Große mir davon berichtete, konnte ich den Spaß spüren, den dieses Erlebnis gemacht hat – natürlich auch, weil sie doch teilweise übers Ohr gehauen wurden, obwohl sie dachten, das Superschnäppchen zu machen.

Das Glück ist spürbar, auch wenn wir meilenweit entfernt sind.

Vor einigen Tagen ist der Große in Teneriffa angekommen. Beim Anruf, der bei jedem neuen Ankerplatz möglich ist, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Jeden Tag gibt es neue Erlebnisse, von denen er erzählen will. Da sammelt sich dann bis zu den Telefonaten ganz schön was an. Er war vor einigen Tagen das erste Mal auf dem obersten Mast. Selbst durch das Telefon fühlte ich die Aufregung und den Stolz. Das ist so ein Glückgefühl, selbst für mich, obwohl ich meilenweit entfernt bin.

Ich bin gespannt auf die nächsten Stationen, Blogberichte und Telefonanrufe. Bis dahin übe ich mich im Loslassen und Vertrauen und genieße den Stolz auf meinen großen, selbstbewussten Sohn, der sich dieses Abenteuer zugetraut hat.

Schiff ahoi und liebe Grüße
Stefanie

Anmerkung von Béa: Wenn ihr Fragen habt, stellt sie bitte! Ihr merkt, wir alle bei Tollabea sind voll begeistert, diese Art des Lernens zu begleiten und darüber zu berichten, denn wir glauben, dass solche und ähnliche Projekte die Zukunft des Lernens sind.

Zur Transparenz: Dieser Beitrag ist keine Auftragsarbeit. Ich, Stef, möchte einfach gern über dieses Abenteuer, unsere Erfahrungen als Familie und die Gefühle, die mich als Mutter dabei begleiten, berichten

 

 

Stefanie Kaste
About me

Stefanie lacht, lebt und liebt in Berlin zusammen mit ihrem Lieblingsmann, ihrem Teenager und ihrem kleinen Tornado. Als Familie erkunden sie die Welt, suchen nach dem Ende des Regenbogens und sind immer für neue Abenteuer zu haben. Stefanies Herzensthemen sind die (digitale) Bildung und Nachhaltigkeit, denn beides sind Kernthemen, um die Zukunft unserer Kinder positiv zu gestalten.

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