Nette Menschen führen was im Schilde? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass Freundlichkeit mit Skepsis begegnet wird?


Die meisten von uns kommen besser mit freundlichen und herzlichen Menschen klar. Aber was, wenn sie „zu“ nett sind? Ist dann Vorsicht gefragt? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass einige Freundlichkeit mit Skepsis begegnen?

Wir alle kennen den Spruch „Zu schön, um wahr zu sein.“ Ist etwas nahezu perfekt, können wir es kaum genießen, weil wir uns sofort fragen: „Wirklich? Ist es das? Oder lauert die Wahrheit an der nächsten Ecke, bereit uns auf den Boden der Tatsachen niederzureißen?“

Extreme Freundlichkeit = Alarmglocken?

Wenn mir jemand extrem freundlich gegenübertritt, und ich die Person noch dazu kaum kenne, schrillen bei mir sofort die Alarmglocken.
Ich frage mich dann: Ist die Person wirklich nett? Erwartet sie eine Gegenleistung?

Oder führt sie irgendwas im Schilde?

All diese Fragen kamen mir kürzlich im letzten Urlaub auf. Ich war in Griechenland, wo mir schon beim letzten Mal die Menschen, auf die ich traf, unfassbar nett vorkamen. Diesmal jedoch wurde noch eine Schippe auf die Nettigkeit draufgelegt. Unsere Airbnb Host half uns nicht nur dabei, Autos und Fahrräder zu mieten (was ziemlich vieles hin und her telefonieren erforderte), sie bot auch an, uns gleich zum Supermarkt zu fahren, solange wir noch kein Auto besaßen.

Während ich also in ihrem Nissan saß, kaum, dass ich sie drei Minuten kannte, kam ich nicht umhin, ein unwohles Gefühl zu empfinden. Konnte es wirklich sein, dass sie so gastfreundlich war? Oder führte sie irgendwas im Schilde? Wollte der Typ, den sie anrief, uns in Wahrheit über den Tisch ziehen? Würde am Ende die Rechnung kommen? Ich fand meinen Freund extrem naiv, der sich überhaupt keine Gedanken darum machte.

Und dann sagte er etwas, das mir ziemlich tief ins Herz stieß?

„Was sagt es eigentlich über dich aus, dass du Gastfreundlichkeit so skeptisch gegenübertrittst?“

Autsch.
Das tat weh.

Aber er hatte recht. Dass ich so skeptisch war, hatte nichts mit der Umwelt, sondern mit mir zu tun. Und nach einer Woche konnte ich zusammenhalten, dass es zwar überall gute und schlechte Menschen auf der Welt gibt, aber die Gastkultur in Griechenland eine völlig andere ist, als in Deutschland. Und das bin ich nicht gewohnt. Das erklärt meine Skepsis.

Verinnerlichter Rassismus?

Vielleicht klicken beim R-Wort gleich ein paar von euch sofort weg – aber an alle die noch da sind: Mir ist klargeworden, dass meine Skepsis auch sehr viel mit verinnerlichtem Rassismus zu tun hat. Griechenland ist zwar nicht direkt der Orient, aber in der Reisekultur wurde schon seit Jahrhunderten stets proklamiert, dass der Orient wunderbar „exotisch“ sei, das Essen köstlich und die Menschen freundlich – aaaaber sie auch etwas Zwielichtiges haben. Vertrauen dürfen wir ihnen nicht blind, denn sie könnten uns über den Tisch ziehen.

Und ja – natürlich machen viele ein lukratives Geschäft daraus, naive deutsche Touristen über den Tisch zu ziehen. Natürlich ist es wichtig, eine gewisse Skepsis beizubehalten. Aber diesen Gedanken auf alle Menschen, die mir im Ausland freundlich begegnen, zu beziehen, ist die reinste Pauschalisierung. Und das wurde mir gegen Ende des Urlaubs klar. Ich schämte mich für diese Gedanken, da ich es ja selbst ganz schlimm finde, wenn mir Menschen mit Vorurteilen begegnen. Gleichermaßen war ich aber auch froh, weil ich das Problem jetzt sah und ändern konnte.

Ich würde aber auch sagen, dass eine Menge Sozialisation mitspielt.

Sind wir im „Norden“ nicht freundlich genug?

Gehen wir mal weg von Griechenland, weil ich diese Kultur nicht so gut kenne, wie die Deutsche oder Marokkanische. Aber wenn ich Marokko und Deutschland bzgl. der Gastfreundschaft miteinander vergleiche, würde ich sagen, dass Deutschland weitaus „anonymer“ abschneidet. Obwohl ich hier lebe, könnte ich nicht einfach an eine fremde Tür klingeln und fragen, ob ich auf die Toilette kann. Dieses Beispiel hatte ich schonmal in meinem Beitrag 5 banale Dinge, die mir in Deutschland fehlen, aber ich finde, dass er ziemlich gut aufgreift, wie vorsichtig Deutsche fremden Menschen gegenübertreten. Wenn sie sie erstmal in ihr Leben gelassen haben, gibt es keinen Halt an Herzlichkeit und Fürsorge – aber davor sind sie eben skeptisch. So schätze ich es zumindest ein. Allen voran skeptischer als andere Kulturen, die dich gleich mit ihrer Gastfreundschaft überschütten.

Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass Freundlichkeit mit Skepsis begegnet wird?

Ganz einfach: Dass wir einander nicht vertrauen. Wir wollen uns schützen und sind daher skeptisch. Und das ist genauso vernünftig wie traurig. Vernünftig, weil wir nicht naiv sind und Gefahren besser ausweichen können; traurig, weil wir andere Menschen nicht in unser Leben lassen. Sich der Welt zu verschließen, macht auf Dauer einsam, daher ist es wichtig, einen Mittelweg zu suchen.

Mit dem einen Auge wie ein Erwachsener und mit dem anderen wie ein Kind sehen.

Kinder sind offen und neugierig, Erwachsene tragen eine Grundskepsis mit sich. Vielleicht täte uns beides gut, also sowohl durch das Auge eines Kindes als auch einer erwachsenen Person zu sehen. Vorsichtig sein, aber auch Vertrauen haben. Nicht allzu naiv sein und jemandem sein Portemonnaie ausleihen, aber auch nicht jede gute Tat zerdenken. Dieses „Jetzt schulde ich ihm was“ ist übrigens auch ein sehr Deutsches Ding. Hier zahlt man ja selbst für öffentliche Toiletten, während in anderen Ländern nicht immerzu eine Gegenleistung erwartet wird.

Alles in allem war es ein sehr erkenntnisreicher Urlaub, bei dem ich sehr viel gelernt habe, und auf wundervolle Menschen getroffen bin, die mir stets ihre Hilfe ohne Gegenleistung angeboten haben! <3

Wie skeptisch oder vertrauensvoll seid ihr im Urlaub (oder generell)? Könnt ihr euch bei fremden Menschen einfach fallenlassen?

Mehr zu diesem Themenspektrum findet ihr hier:

5 banale Gründe, warum wir das Leben in Deutschland wertschätzen sollten

5 banale Dinge, die mir in Deutschland fehlen

Mounia
About me

Ich - 25 Jahre alt, Studentin, Kinderanimateurin, begeisterte Hobbyköchin und abenteuerlustig! Meine absolute Leidenschaft ist das Schreiben und Festhalten von Momenten.

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