Schnelle Hilfe und das Herzmenschprinzip – was Depressiven helfen kann


Was Depressiven helfen kann, damit ihr Leben lebenswert bleibt bzw. wieder wird: Vor langer Zeit stellte ich diese Frage hier im Blog – Anlass war der Selbstmord von Johannes Korten. Es kamen sehr, sehr viele Antworten und ich habe versprochen, sie zusammenzufassen.

Ich merke, dass mir das nicht in einem einzigen neuen Blogpost gelingen wird, aber ich bleibe am Thema dran und werde mehr dazu bringen. Allerdings soll es gar nicht mehr um Johannes gehen – ich habe erfahren, dass es für seine Familie nicht gut ist, wenn wir über ihn und seine Beweggründe schreiben. Jetzt ist es sinnvoller, für die Menschen etwas zu bewegen, die gerade mit dunklen Gedanken, seelischer Not und schlimmen Ängsten kämpfen. Ich habe selbst betroffene Menschen in der Familie und davon werde ich euch auch ein anderes Mal berichten. Nun fange ich hier an, aus den vielen Antworten, die uns erreicht haben, einen roten Faden zu entwickeln. Es gab auch sehr viel Blogposts dazu, die mich sehr bewegt haben – zum Beispiel dieses von Mamamotzt – daraus habe ich auch viele Erkenntnisse gewonnen.

Ich habe verstanden, dass es zunächst drei wichtige Dinge sind, die den Weg aus dem dunklen Tunnel erleichtern:

1. Depression als Krankheit (an)erkennen

Wenn Depressionen so sichtbar und erkennbar wären wie Beinbrüche oder Diabetes, oder wenn sie so ansteckend wären wie Masern, Mumps und Pocken, wäre es viel einfacher. Depressionen kommen auf leisen Sohlen, mit kleinen Verstimmungen oder Stress-Erscheinungen und hauen einen nicht sofort um. Die Betroffenen zweifeln an sich und an der Welt. Sie versuchen, sich aufzuraffen – oder werden gar abkommandiert von ihrem Umfeld. Ob die innere oder eine fremde Stimme sagt: „Stell‘ dich nicht so an. Raff‘ dich auf. Sieh doch das Positive, dir geht es nicht schlecht…“
MÖÖÖP! Das sind die falschen Parolen. Depressive und ihr Umfeld brauchen zunächst ein Bewusstsein darüber, dass eine echte Krankheit im Gange ist, die behandelt gehört. Es ist eine seelische Krankheit, die mit diversen Stoffwechselstörungen im Gehirn einhergeht. Die Forschung hat wie bei vielen Krankheiten, die unser Gehirn betreffen, die Krankheit Depression noch nicht völlig erforscht, aber es gibt schon viele hilfreiche Erkenntnisse: Depressive haben in der Regel einen Mangel an bestimmten Gehirnbotenstoffen, was zu Hoffnungslosigkeit, Ängsten, Antriebsschwäche und weiteren sehr quälenden Symptomen führt.

Leserin ANDREA WITZKE-TRESCA schreibt:

„Verständnis. Verständnis ist wichtig, ernst nehmen, dass man eben nicht „nur mal eben traurig“ ist, sondern dass Kraft Energie und Motivation für alles einfach fehlen. Dass da kein Licht mehr ist, keine Freude, nur noch Schatten und Antriebslosigkeit. Dass Antidepressiva nichts anrüchiges sind, sondern tatsächlich helfen. Und dass dies eine Krankheit ist, eine richtige, echte Krankheit und dass es jeden treffen kann.“

Wichtig: An Depressionen ist man nicht „selbst schuld“, sie sind keine „Strafe“ für Versäumnisse oder Fehlverhalten! Und Depressionen kann man nicht einfach „ablegen“ – wer depressiv ist, ist nicht zu faul oder macht was falsch beim Denken! Leider wissen das die Depressiven oft selbst nicht und leiden um so mehr. Depressionen sind eine grauenhafte und deshalb oft lebensgefährliche Krankheit. Je offener wir alle darüber reden, umso einfacher wird das für alle zu verstehen sein.

2. Schnelle und gute Hilfe

So, wenn wir Punkt 1 wirklich verstanden hätten, wäre es doch absolut einfach, oder? Mitnichten! Ab zum Arzt.

Auch von den Lesern („Deichkind“) kam die Anmerkung: „Klar ist professionelle Hilfe die wohl wirksamste Lösung. Nur ist professionelle Hilfe hier in Deutschland weit entfernt. Termine zu bekommen, dauert Monate. Nicht immer werden alle benötigten Zeiten auch bewilligt. Da krankt unser Gesundheitssystem.“

Wer heute bei sich Symptome einer Depression feststellt und verstanden hat, dass es eine Krankheit ist, könnte ratz-di-fatz in die nächste Psychiatrie-Praxis oder zu einem Psychotherapeuten gehen? Weit gefehlt. Wenn Depressive sich überhaupt dazu aufraffen können und versuchen, einen Termin auszumachen, bekommen sie von kassenzugelassenen Psychotherapeuten nett und freundlich gesagt: „Ich hätte in 3 Monaten einen Termin, sollen wir das eintragen?“ Na super. Das ist ungefähr so gut, wie jemanden mit einem offenen Beinbuch zu sagen: „Sehen  Sie das Krankenhaus da, in der Ferne? Wenn sie jetzt die zwei Kilometer bis dahin rennen, aber bitte zackig, dann werden Sie behandelt.“

Übrigens, diesen Vergleich hatten @scrabella in einem Twitterdialog diskutiert – sie gab die Idee an Erzählmirnix und so entstand auch ein Comic daraus: 

Depression_beinbruch_vergleich.jpg-large 2.png

Die Zeit hat sogar mal eingehend recherchiert, was das Problem ist:

„Will man das Problem verstehen, muss man 15 Jahre zurückgehen. 1999 legt der Gemeinsame Bundesausschuss fest, wie viele Psychotherapeuten in Deutschland eine Kassenzulassung erhalten dürfen. Nur bei diesen zugelassenen Therapeuten übernehmen die Krankenversicherungen ohne Weiteres die Kosten für eine Behandlung. Um für diese »Bedarfsplanung« eine Zahl zu ermitteln, wird aber nicht untersucht, wie oft Menschen psychisch krank werden. Es wird gezählt, wie viele Therapiepraxen es zu diesem Zeitpunkt gibt. Dann werden Durchschnittswerte für Städte und Kreise gebildet und zur Obergrenze erklärt. Aus dem Ist-Zustand wird ein Soll-Zustand.“

Interessant ist, dass es also nicht an staatlich approbierten Psychotherapeuten fehlt, sondern an ihren Kassenzulassungen – plus, dass die Depressiven oft nicht die Kraft und Energie haben, für einen Therapieplatz zu kämpfen. Kostendämpfung bei denen, die sich nicht wehren können. Das, was jeder macht, der sich nur ein Bein gebrochen hat oder der seit einem Tag mit einer Wurzelentzündung im Quadrat springt, schaffen die Depressiven genau wegen ihrer Antriebsschwäche, Selbstzweifel und Mutlosigkeit nicht: Die Wartezeit zu hinterfragen. Weitere 5-8 Praxen anzurufen. Auf der Krankenhausambulanz erscheinen und nicht verschwinden, bis man nicht behandelt worden ist. Noch einige weitere Tricks anwenden, damit die Kasse eine Alternativbehandlung übernimmt, wie das RBB berichtet. 

Also: Hier ist die Politik gefragt, Dinge zu ändern!

Aber, so stellt Die Zeit auch fest:

„Niemand geht für Depressive, Schizophrene oder Angstpatienten auf die Straße. Viele Kranke werden nicht einmal von Angehörigen oder Freunden unterstützt. Aber in Deutschland sterben jedes Jahr etwa 10 000 Menschen durch Suizid – das sind fast dreimal so viele Menschen, wie 2014 bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind. Und bei rund neunzig Prozent davon, so eine kanadische Studie, die weltweit Vergleichsdaten herangezogen hat, ist eine psychische Krankheit der Grund.“

Und das, liebe Leute, führt zum dritten Punkt:

3. Herzmenschen an der Seite

Depressive brauchen Freude und Familie an ihrer Seite, die Punkt 1 verinnerlicht haben und Punkt 2 überwinden können.

Markus Bock vom Blog Verbockt schreibt:

Viel zu sagen gibt es nicht mehr. Außer: Hört euren liebsten Menschen zu. Verteilt nicht sofort Ratschläge. Seit da, gebt die Hand. Gebt nicht auf, auch wenn jemand nicht gleich die Hand greifen möchte. Bevormundet nicht, aber unterstützt.“ 

Ihr kennt einen Depressiven? Seid für ihn da. Einfach so. Ohne zu bewerten, ohne zu urteilen, ohne anzuklagen. Und wenn dieser Jemand euch bittet, ihm bei der Therapie bzw. Arztsuche zu helfen, legt euch ins Zeug. Helft. Bekniet und bezaubert Sprechstundenhilfen und KassensachbearbeiterInnen.

Und weil ich gerade einige Fälle mitbekommen habe: Liebe Eltern von Teens und Twens, es könnte sein, dass ihr durch die Pubertät und das nervige Verhalten eurer Kinder so abgestumpft seid, dass ihr die Hilferufe eurer Kinder nur noch als Faulheit und Querulantentum deutet. Achtung. Sollte sich da eine Depression anbahnen, ist das genau die falsche Deutung. Hört einmal mehr hin und urteilt nicht zu schnell.

So, das reicht zunächst für einen Blogbeitrag. Ich habe noch so viele wertvolle Zitate und auch einige eigene Erfahrungen, die ich noch aufschreiben muss. Kommt noch, versprochen. Denn es gibt auch genügend Beispiele, die Hoffnung machen: Depressionen sind überwindbar. Mit Hilfe von Profis und Freunden.

Und übrigens… auch von Herrn Bock:

Habt ihr noch weitere Punkte, was Depressiven helfen kann? Habt ihr eine Idee, wie man das System verändern kann? Sagt es mir bitte – in den Kommentaren. 

Liebe Grüße,

Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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21 Kommentare

Viola
Antworten 3. September 2016

vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel. Er spricht mir aus der Seele. Und trifft es auf den Punkt, wie es einem mit dieser Krankheit geht. Danke!

Nadine Uzelino
Antworten 3. September 2016

Ein toller Artikel! Ich habe erst heute auch auf meinem Blog einen Artikel zum Thema Depressionen verfasst, aber eher erstmal die medizinische Sicht. Die intensive Thematik wird auch auf meinem Blog Einzug halten, da ich dieses Thema sehr wichtig finde! Die Menschen müssen aufhören, Depressionen zu belächeln oder abzuwerten. Die Betroffenen und auch Angehörigen leiden sehr unter dieser Erkrankung!

    beabeste
    Antworten 4. September 2016

    Lieben Dank, Nadine, magst du den Link hier teilen? Das wäre sehr schön!

Perlenmama
Antworten 3. September 2016

Ich hatte dir da ja schon separat drauf geantwortet... Danke, dass du dieses Thema so öffentlich machst! ttps://perlenmama.wordpress.com/2016/08/09/depressionen-was-mir-hilft-und-was-nicht-notjustsad/

Andrea Witzke-Tresca
Antworten 3. September 2016

Danke <3

MrsCgn
Antworten 4. September 2016

Liebe Bea,
ein wichtiger, ein guter Beitrag. Als Ergänzung fällt mir noch ein: Wer Angehöriger eines an Depressionen erkrankten Menschen ist, sollte sich nicht schuldig fühlen, wenn sich der Erkrankte dazu entschließt, aus dem Leben zu treten. Ich glaube nämlich, dass es diese Schuld nur in seltenen Fällen gibt.
Darüber hinaus fände ich es schön, wenn wir den Menschen um uns herum ganz einfach öfter sagen, dass sie gut sind, so wie sie sind, dass sie genügen. In der heutigen Zeit kommt dieses Sehen und Annehmen einfach oft zu kurz.
Liebe Grüße.

    beabeste
    Antworten 4. September 2016

    Sehr gute Punkte, liebe MrsCgn! Greife ich noch mal auf! liebe Grüße, Béa

Mother Birth
Antworten 5. September 2016

Liebe Bea,

ein ganz toller Text. Eine Gastautorin hat über ihre persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit berichtet. Vielleicht interessant für dich: https://motherbirthblog.wordpress.com/2016/09/05/gastbeitrag-depressionen-einer-mutter-ein-tabuthema/

Liebe Grüße
Mother Birth

grenzgaenge
Antworten 5. September 2016

Liebe Bea,

ich bin Dir wirklich sehr dankbar für diesen Artikel. Als Betroffener kann ich nur jedes Wort unterschreiben. Es braucht mehr solcher Artikel, um die Depression vom Stigma zu befreien.

Viele Grüsse vom grenzgaenger

    beabeste
    Antworten 5. September 2016

    Lieben Dank, dass du diese Worte hier hinterlässt! Genau mehr solche Artikel werde ich bringen, in der Hoffnung, dass sich etwas bewegt. Liebe Grüße, Béa

Maike
Antworten 5. September 2016

Bei der Therapeutensuche war ich einmal hier ganz schnell erfolgreich: Auf der Website der Kassenärztlichen Vereinigung. Die haben für jedes Bundesland eine eigene Website. Dort eine Minute zu den Psychiatern/Psychotherapeuten durchklicken, ALLE anzeigen lassen (eventuell auch die, die etwas weiter weg sind) und ALLE, die eine e-mail-Adresse haben, mit dem gleichen Standard-Text anschreiben. Wichtig dabei: Dass Du akut Hilfe benötigst ("Ich gehe seit tagen nicht mehr raus, schaffe nichts mehr, weine seit Tagen, alles ist nur schwarz in mir..." oder was auch immer die Symptome sind. Konkret um einen Termin bitten. bei mir hatten sich nach drei Tagen vier Therapeuten gemeldet, die mir einen Sofort-Termin angeboten haben. Ich hatte aber ungefähr zweihundert angeschrieben (per Copy & Paste). Das ist eine stumpfsinnige Arbeit, aber es hat was gebracht. Zu frustrierenden Anrufen war ich nicht in der Lage, aber so ist es gegangen.

    beabeste
    Antworten 6. September 2016

    Liebe Maike, das ist ein wunderbarer Tipp, den ich auch noch aufgreifen werde! Danke dir! Liebe Grüße, Béa

Katja
Antworten 7. September 2016

Allerliebste Bea, ich finde es ganz fantastisch, dass du dieses Thema öffentlich diskutierst. In größeren Städten hilft manchmal die ambulante Psychiatrie, da bekommt man sehr schnell einen Termin. Die Gespräche sind allerdings nur kurz, da es an Zeit fehlt. Leider. Dafür sind die Rezepte für Antidepressiva schnell ausgestellt. Manchmal ist es unumgänglich, sie für eine Weile zu nehmen. Wer Probleme mit der Schilddrüse hat, nimmt ja auch seine Tabletten. Depression ist eine Krankheit. Dennoch glaube ich, dass es ohne Therapie nicht geht. Man sagt ja auch, dass eine Gesprächstherapie ein gering dosiertes AD ersetzen kann. Auf Dauer hat man mit der Therapie den besten Effekt. Wir sollten uns um unsere Seele kümmern. Die Suche nach Therapeuten gestaltet sich wahrhaftig als schwierig. Doch es gibt auch psychologische Institute, die Therapeuten ausbilden. Bei diesen einen Termin zu bekommen, geht manchmal schneller. Sie sind meines Erachtens genauso gut und sehr hilfreich. Die Sitzungen werden zudem im Hintergrund von einem bereits ausgebildeten Therapeuten begleitet. Liebe Bea, bitte hör nicht auf darüber zu berichten. Wir dürfen nicht aufhören, zu hoffen. Viele liebe Grüße Katja

    beabeste
    Antworten 7. September 2016

    Vielen lieben Dank, liebe Katja! Und guter Tipp - ich werde auch noch mal diese "work-arounds" extra zusammenfassen! Liebe Grüße, Béa

Bastian
Antworten 30. September 2016

Ein aufschlussreicher Beitrag! Und wieder einer mehr, um das Thema aus dem Licht des Halbschattens herauszuholen und zu entstigmatisieren. Ich habe Hannes Tod auch zum Anlass genommen, mich noch mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Ich finde, in Zeiten von überbordender Informationsflut (die oft negativ) geprägt ist, kann auch jeder mithelfen, Depressionen nicht auch noch zu verstärken in dem mam ständig nur Extreme widerspiegelt. Immer nur die neuste Anschaffung, den geilsten Urlaub und die schönsten Menschen zeigen ist genau so falsch wie nur Armut, Elend, Tod und Verzweiflung zu posten.

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