„Es ist keine Ausnahme mehr, dass ich morgens Nichts schaffe.“ – Gastbeitrag über eine anfangende Depression und was zu tun ist


Ich habe heute die Ehre, euch einen neuen Beitrag von Anja zu präsentieren. Genau, diejenige Anja, die mal ihre Großartigkeit verloren hatte und großartig darüber schrieb… Ihr kennt sie vielleicht von Twitter @BeiAnja oder auch Instagram @beianja und jetzt hat sie einen Beitrag über eine beginnende Depression und wie sie dafür sorgt, dass es sie nicht ganz schlimm erwischt:

Der Frühling ist da.

Die ersten Sonnenstrahlen tanzen auf den ungeputzten Fensterscheiben und erinnern mich daran, was für eine Versagerin ich bin. Moment mal. Habe ich mich gerade Versagerin genannt? Ich müsste darüber nachdenken. Irgendetwas klingelt da im Hinterkopf. Aber ich schiebe es auf später.

Ich schaffe es kaum aus dem Bett, mache nur mit Mühe das Kind für die Schule fertig und gehe direkt wieder schlafen.

Die Nacht war wie so oft der Horror. Mein Nacken und mein Kopf schmerzen. Ich habe endlose To-Do-Listen, die ich abarbeiten müsste, kann aber gerade nur rumliegen.

Ich sollte aufstehen. Haushalt machen. Aufträge erledigen. Ich bin freischaffende Künstlerin. Wenn ich nichts erschaffe, bekomme ich kein Geld. Aber ich liege rum. Ich KANN nicht aufstehen. Es ist keine Entscheidung, liegenzubleiben. Es ist nicht freiwillig. Es ist, weil ich keine Kraft dafür habe, aufzustehen. Mein innerer Antreiber schreit mich an, aber ich wiege eine Million Tonnen, die verhindern, dass ich mich noch rühren kann. Wieder klingelt es im Hinterkopf. Lauter dieses Mal. Aber ich ignoriere es. Ich werde mich schon darum kümmern. Sobald ich nicht mehr so platt bin.

Meine beste Freundin schickt mir eine Sprachnachricht. Ich antworte nur kurz, dass ich mich kaum konzentrieren kann und müde bin und verspreche, mich später zu melden, weil ich mich so schlecht konzentrieren kann. Moment. Habe ich jetzt zwei Mal gesagt, dass ich mich schlecht konzentrieren kann? Wieder klingelt es. Ziemlich laut. Nervig laut.

Und dann dämmert es mir. Ganz plötzlich.

Diese Nachricht habe ich ihr in letzter Zeit häufiger geschickt. Es ist keine Ausnahme mehr, dass ich morgens Nichts schaffe. Meine Stifte und Farben schauen mich schon länger anprangernd an. Ich bekomme seit einiger Zeit kaum noch etwas auf die Reihe.

Mir ist schlecht. Mein Kopf dreht sich. Ich muss mal duschen. Aber Duschen ist so anstrengend. Oh nein! Das bedeutet nur eins: Ich habe einen depressiven Schub. Scheiße!

Ich habe Depressionen, seit ich denken kann. Sie waren lange Zeit eine Art Überlebensmodus. Ich habe über 20 Jahre Therapie hinter mir und deshalb weiß ich auch, was jetzt zu tun ist.

Schritt 1: Selbstreflexion. Wie schlimm ist es?

Ich sitze in meinem Bett, schließe die Augen und mache eine Bestandsaufnahme.
Ich habe unbestimmte körperliche Symptome. Verspannungen am ganzen Körper. Mir ist schlecht und mein Kopf dröhnt ununterbrochen. Das sind tatsächlich gute Zeichen. Sie bedeuten nämlich, dass ich meinen Körper noch spüre. Es macht mir allerdings ein wenig Sorgen, dass ich mich konzentrieren muss, um sie tatsächlich zu spüren. Aber immerhin.
Es könnte schlimmer sein. Wenn es ganz arg ist, spüre ich mich nicht mehr. Ich verliere den kompletten Zugang zu meinem Körper und existiere nur noch in meinen Gedanken.

Schritt 2: Wann ging es los? Welche Grenzen habe ich ignoriert?

Ich weiß noch, dass ich nach Weihnachten mein Zimmer voller Elan umgebaut habe. Danach wurde ich krank und dann habe ich sehr, sehr viel gearbeitet. Ich weiß, dass es mir zunehmend schwerer fiel, mich an die Aufträge zu setzen und dass ich mich immer mehr antreiben musste. Ich hielt das für eine Phase. Dann habe ich an einem Workshop teilgenommen und danach ging es mir wahnsinnig schlecht. Der Workshop war schlimm für mich. Er hat mich richtig runtergezogen. Danach ging irgendwie nichts mehr. Das war am 26. Februar. Heute ist der 22. März. Knapp ein Monat, bis ich es gemerkt habe. Okay.

Gab es noch mehr? Ja! Gab es!

Immer mehr Gründe fallen mir ein. Ich habe Gefühle unterdrückt, musste eine Menge aushalten. Für meinen Mann steht ein wichtiger Termin an und er ist sehr angespannt deshalb. Nach und nach fügen sich Puzzleteile zusammen. Immer mehr Begebenheiten, die mich angestrengt und gestresst haben und denen ich nicht die Aufmerksamkeit geschenkt habe, die sie verdient hätten. All das rächt sich jetzt.

Mein Körper knockt mich aus. Er zieht auf der linken Spur bei Tempo 220 einfach die Handbremse und plötzlich bewege ich mich nur noch wie in Zeitlupe. Verdammt!

Ich habe nicht aufgepasst. Ich doofe Kuh! Wie konnte mir das nur passieren?
Wieder klingelt die Glocke. WAS DENN NOCH???
Ach ja, Selbsthass.

Ich bin der geduldigste und verständnisvollste Mensch der Welt mit anderen. Aber von mir verlange ich alles! Ich muss perfekt sein!

Ansonsten kommt der innere Kritiker und schreit mich in Grund und Boden. Zusammen mit unendlicher Scham zwingt er mich in die Knie und macht mich fertig. Die beiden kenne ich gut.
Lange Zeit hielt ich sie fälschlicherweise für meine Vernunft und dachte, die beiden hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich dachte, ich könnte ihnen uneingeschränkt vertrauen.
Tja, glaube nicht alles, was du denkst.

Meine innere Weisheit habe ich inzwischen gefunden. Sie sitzt im Bauch und im Herzen. Nicht im Kopf.
Deshalb befehle ich dem Selbsthass, gefälligst die Klappe zu halten und konzentriere mich auf den nächsten Schritt.

Schritt 3: Weiteres Vorgehen

Ich muss meinen Mann informieren. Das hat oberste Priorität. Kommunikation ist alles in dieser Situation und mein Mann und ich sind ein eingespieltes Team. Ich schreibe ihm eine WhatsApp, teile ihm mein Befinden mit und was die erste Analyse ergeben hat.
Er reagiert verständnisvoll und einfühlend. Alles gut zwischen uns. Das ist wichtig.

Schritt 4: Freunde informieren und ihnen sagen, was ich jetzt brauche.

Das fällt mir schwer. Ich bitte nicht gerne um Hilfe. Ich helfe lieber anderen.
Immerhin meiner besten Freundin kann ich Bescheid geben.

Schritt 5: Ziele formulieren.

1. Ziel: So handlungsfähig wie nur irgend möglich bleiben, damit ich mich um mein Kind kümmern kann. Alles andere kann warten. Das Kind nicht.
2. Ziel: Druck rausnehmen. Dazu muss ich schauen, in welchen Bereichen ich überall Druck fühle und muss – sofern möglich – alles an Ballast abwerfen. Eine oft demütigende Aufgabe, die dem Selbsthass in die Karten spielt.

Schritt 6: Ich überlege kurz, ob ich mir eine Liste an Dingen mache, die mir jetzt gut tun würden, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder.

Zu viel Druck. Ich will meine Ruhe. Das hat oberste Priorität.

Ich melde mich erneut bei meinem Mann.

Es gibt noch zwei Anrufe, die ich seit einiger Zeit vor mir herschiebe und die ich ihn nun bitte, für mich zu tätigen. 20 Minuten später hat er erledigt, was ich seit Januar nicht schaffte. Zum Glück schäme ich mich nicht mehr deshalb. Früher bin ich vor Scham im Boden versunken. Aber ich habe keine Schuld an meiner Erkrankung und es macht keinen Sinn, Dinge ewig aufzuschieben. Mein Mann übernimmt die Dinge für mich gerne. Genauso wie ich für ihn, wenn er mal ausfällt. Das klappt echt super.

Schritt 7: Aufträge canceln oder Deadlines verschieben. Autsch.

Das tut weh und ich werde nun doch von einer Welle der Scham überflutet. Mein Blick fällt wieder auf die ungeputzten Fenster. Sie werden es überleben, noch eine Weile dreckig zu sein, sage ich mir. Aber es tut weh, dass ich gerade keine Kraft dafür habe.

„Ich bin keine Versagerin.“ – sage ich laut.
Ein Teil in mir weiß das und dem vertraue ich. Naja. Ich versuche es zumindest.

Ich brauche jetzt Pause. Viel Zeit für mich. Zeit, um zu heilen. „Vertraue dem Prozess“, sagte meine Therapeutin immer. Recht hatte sie. Aber Geduld ist nicht meine Stärke. Nicht, wenn es darum geht, dass ich etwas leisten soll.

 

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Ich weiß, dass ich auch dieses Mal wieder aus dem Tief kommen werde.
Ich habe es bisher immer geschafft und ich bin inzwischen ein alter Hase in der Materie.

Ich habe viele Grenzen ignoriert und bin definitiv zu weit gegangen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Ich mache mich nicht dafür fertig, dass ich es so weit habe kommen lassen. Das wird mir immer wieder passieren. Zumindest habe ich es jetzt verstanden und kann entsprechend handeln. Das ist es, was zählt. Der Selbsthass lacht hämisch und ich versuche, ihn zu ignorieren. Aber er ist stark.

Trotzdem zufrieden damit, mich dem Thema gestellt und die ersten Schritte eingeleitet zu haben, lasse ich mich in die Kissen sinken und schlafe direkt ein. Depression ist anstrengend. Es ist, als würde man die ganze Zeit gegen eine Strömung laufen müssen, um sich zurück zu der Flussbiegung zu kämpfen, an der man falsch abgebogen ist. Immerhin habe ich den Kopf über Wasser und kann es ein Stück weit überblicken. Das fühlt sich gut an.

Heute an Tag zwei geht es schon ein bisschen besser. Ich darf mich nun aber nicht überfordern. Kleine Schritte gehen und die Ziele nicht aus den Augen verlieren, hat oberste Priorität.

Eine Hilfe dabei ist auch, diesen Text geschrieben zu haben. Mich nun zu verkriechen, würde nur die Scham füttern. Ich spüre, dass es mir Energie gibt, in die Offensive zu gehen.

Deshalb, liebe Béa, danke ich dir sehr, dass du mir einen Platz auf deinem Blog für meine Gedanken einräumst. Ich umarme dich!

Anja

Twitter :@BeiAnja
Instagram: @beianja 

Ich danke dir, liebe Anja, dass du das geschrieben hast! Ich hoffe, dass auch andere merken, dass Depression auch eine Krankheit ist, die behandelbar und handhabbar ist. Ganz viele Grüße an deine Lieben und sag Ihnen, es ist schön, dass sie auf dich Acht geben und es wäre auch gut, wenn sie auch wissen, was euch allen guttut…

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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