Einmal Ferien und zurück – der jährliche Kulturschock für Kinder mit Migrationshintergrund
Viele Kinder mit Migrationshintergrund fahren in den Sommerferien in das Land, aus dem ihre Eltern kommen. So war es auch jahrelang bei mir. Aber einmal Ferien und zurück hinterließ auch einen mächtigen Kulturschock – und zwar von beiden Seiten.
Als Kind verbrachte ich meine Sommerferien jedes Mal in Marokko. Manchmal 5 Wochen lang, manchmal sogar 6. Über ein Monat in Marokko – und das jedes Jahr. Diese Ferien prägten mich immer wieder aufs Neue, erweiterten meinen Horizont und sorgten für einen gewaltigen Kulturschock, wenn ich wieder zurückkam.
Aber erst mal eins nach dem anderen.
Zurück in Marokko – der Kulturschock
Der Kulturschock ging von beiden Seiten aus. Wann immer ich wieder nach Marokko kam, brauchte ich ein paar Tage, um mich an dieses andere Leben zu gewöhnen. Denn genau das war es – ein völlig anders Leben. Alles war anders, von der Vegetation, bis hin zur Kultur und dem Alltag. Sogar mein Charakter war ein anderer. In Marokko war ich die Marokko-Mounia.
Anderes Land andere Sitten
Den Kulturschock erst mal überstanden, fand ich mich in die Sitten ein. Größere Portionen, extra viel Zucker im Tee und längere Kleidung – in Marokko zog ich mich nämlich aus Respekt weniger freizügig an, als es in Deutschland der Fall ist. An den Straßen wurden Kakteenfrüchte verkauft, und wenn es Zeit zum beten war, war es auch das Normalste der Welt, dass jemand mitten am Markt ein Handtuch ausbreitete und zur Gebetsstunde betete.
Auch die Menschen waren anders. Zugegeben – etwas lauter – aber nicht, weil sie den ganzen Tag rumschrien, sondern, weil Menschen in Marokko eben so (laut) Konversation führten. Es war auch nichts Ungewöhnliches, dass mich eine fremde Person bat, etwas von meiner Wasserflasche zu trinken. Mit meiner Keimphobie war mir das immer etwas unangenehm, sodass ich der Person meist die ganze Flasche gab. Auch aufs Klo gehen war niemals ein Problem. In Marokko verlangt niemand 50€, um in ein Restaurant zu verschwinden und die Toilette zu benutzen. Es ist sogar nicht unüblich, an ein fremdes Haus zu klingen, und darum zu bitten, kurz aufs stille Örtchen zu verschwinden. Undenkbar in Deutschland – daher sage ich, dass es wie ein anderes Leben ist.
Urlaubsgefühl
Allerdings ist die Marokko-Mounia auch eine Urlaubs-Mounia. Vielleicht kennt ihr es auch, dass ihr im Urlaub plötzlich ganz anders drauf seid. Viel ruhiger und entspannter, weniger gehetzt und gestresst. Mein Monat in Marokko war nicht nur ein Besuch bei der Familie, sondern auch ein richtiger Urlaub. Wir gingen in die Stadt oder zum Strand. Wir tobten und spielten. Wir hatten keine Verpflichtungen, wir räumten nicht einmal unsere Zimmer auf, weil meine Tante darauf bestand, alles für uns zu tun.
Zurück in Deutschland – der Kulturschock
Als ich nach Deutschland zurückkehrte, war es jedes Mal wie ein gigantischer Kulturschock. Jedes Mal war die Fahrt vom Flughafen nach Hause von sehr viel Melancholie überschattet. Die allzu vertraute Landschaft war mir plötzlich fremd.
Und dann die Menschen. Alle siezten sich, alle hielten Abstand und Diskretion. Niemand schaute sich in die Augen oder fing ein spontanes Gespräch mit einem Fremden an. Nicht nur die Temperatur war abgekühlt, die vertraute Kultur war es ebenfalls.
Dann die Gespräche über Marokko: „Wie war es?“, „Wow, du bist voll braun geworden!“, „Erzähl mir alles!“
Über Marokko zu reden – über mein anderes Leben zu reden – war mit Freude und Sehnsucht gemischt. Meine Augen leuchteten beim Erzählen, aber gleichzeitig war mir nach Weinen zumute, weil ein Teil von mir zurückgeblieben war.
Viele Menschen mit Migrationshintergrund leiden unter Identitätskrisen. Sie wissen nicht, wo sie hingehören, weil sie nirgendwo komplett drin sind. Das ist aber ein eigenes Thema für sich, worauf ich bei Gelegenheit ein anderes Mal eingehen werde.
Einmal Ferien und zurück – der jährliche Kulturschock für Kinder mit Migrationshintergrund
Doch nach jedem anfänglichen Schock erholt man sich wieder. So lange, bis der nächste Schock bei den nächsten Ferien folgt. Es ist ein unendlicher Kreislauf, den ich sehr wertschätze. Meine Urlaube in Marokko haben mich nämlich jedes Jahr aufs Neue meiner Familie und der Muttersprache meiner Mutter näher gebracht. Ich habe in dieser Zeit eine Version von mir rausgelassen, die ich in Deutschland gar nicht sein kann. Marokko-Mounia ist eben ein völlig anderer Mensch. Und das sage ich ganz ohne Wertung.
Kennen einige von euch das Phänomen, einmal in die Ferien und zurück mit einem Kulturschock zu kommen? Hattet oder habt ihr Episoden, in denen regelmäßig eine Weile lang weg seid/ward?
Liebe Grüße
Mounia