Fahrerflucht bei Unfall mit Kind – wenn wir die Schuldfrage beiseite schaffen…


Letzte Woche ereignete sich in meiner Familie etwas, was mich total zum Kochen brachte: Fahrerflucht bei Unfall mit Kind! Meine 12jährige Nichte hatte einen Unfall: Sie wurde von einem Auto angefahren, dabei nur minimal verletzt, die Fahrerin stieg aus, fragte, ob alles OK sei – und nach einem Bejahen des Kindes stieg sie wieder ins Auto und fuhr davon…

Fahrerflucht bei Unfall mit Kind ? Entsetzen machte sich bei ihrer Mutter und auch bei mir breit.

Daher sah auch unmittelbar danach mein der Post auf Facebook so aus:

Danke an alle, die sich damit beschäftigt haben!
Es kamen viele Reaktionen, aus denen ich auch lerne.

Am meisten habe ich allerdings gelernt  über die Perspektive derjenigen von euch, die sich über die „virtuelle Hetzjagd“ beschwert haben. Unsere Achtsamkeitskolumnistin mindfulsun hat mir geholfen, da besser zu verstehen, was daran wirklich nicht ganz OK war.

Und zwar geht es um die Perspektive der Fahrerin.

Jetzt wollen wir hier zusammen eine umfassendere Betrachtung wagen, die vielleicht auch für euch spannend ist, das gestalten wir heute als Dialog unter uns beiden. So wie es mehr oder weniger ursprünglich per Telefon stattgefunden hat.

mindfulsun: Es gab auch Antworten, die auf einen möglichen Schock der Fahrerin hingewiesen haben und Menschen, die ihr gegenüber Empathie zeigten. Auch ich bin einer dieser Menschen. Bevor ich jetzt detaillierter darauf eingehe: Ich war auch entsetzt! Ich hatte Mitgefühl mit dem Kind, ich habe sofort an meine Jungs gedacht UND gleichzeitig habe ich bei dem Wort Fahrerflucht an “Kampf, Flucht, Erstarren” gedacht.

béa: Ich muss zugeben, als ich vom Unfall hörte war mein Achtsamkeitsfokus wirklich nur bei meiner Familie. Ich konnte nicht über den Tellerrand schauen…
Ich habe so viele andere die Situation sehr simpel gesehen: Erwachsene schädigt Kind und macht sich davon.
Erst im Gespräch mit dir und durch deine Erfahrungen habe ich plötzlich den Blick ausgeweitet.

mindfulsun: Ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung und bin deswegen damit vertraut. Seit meinem Trauma erlebe ich es sehr oft, dass Menschen solche „Prozesse“ nicht kennen. Dann kommen Aussagen wie: “Völlig verantwortungslos / wie konnte der Mensch einfach fliehen / wieso hat sich das Opfer nicht gewehrt / wieso steht jemand daneben und hilft nicht / Mir würde das nie passieren / Sowas macht man nicht!” Diese Aufzählung könnte ich beliebig weiterführen.

Ich habe lange überlegt, ob wir hier zusammen diesen Artikel schreiben, denn ich zeige mich hier auch verletzlich: Als Mensch gebe ich hier mein Trauma Wissen weiter.

béa: Darum bin ich sehr dankbar, dass du den Mut hast.

Was ist also dieses: Kampf-Flucht-Erstarren oder auch fight-flight-freeze?

mindfulsun: Ich werde jetzt nicht ins kleinste Detail eingehen, das würde diesen Artikel sprengen. Ich bin auch keine Psychiaterin, gebe hier also wieder, was ich in der Therapie gelernt habe.

An erster Stelle: Kampf-Flucht-Erstarren ist keine Entscheidung!

Ich nenne es einfach “automatisches Programm”, was dann abläuft. Und das kommt aus dem Teil in uns, der das Überleben sichert. Das ist also in uns angelegt. Auch bei Tieren ist es nicht anders.

Kennt ihr “wie ein Reh im Scheinwerferlicht”? Tiere, die erstarren, sich nicht mehr bewegen können. Unser “Reptiliengehirn” reagiert automatisch auf eine Gefahr. Wie das alles mit dem Körper, den Hormonen etc. zusammen spielt, könnt ihr hier lesen: Kampf-oder-Flucht-Reaktion – Lexikon der Biologie – Spektrum

Ich wiederhole an dieser Stelle, weil es mir wichtig ist: Das ist keine freie Entscheidung! Ich treffe keine bewusste Wahl! Und das alles passiert innerhalb weniger Sekunden.

béa: Also die Frau hat sich gar nicht richtig ENTSCHIEDEN, Fahrerflucht zu begehen?

mindfulsun: Es ist möglich (ich sage nicht, es ist so!), dass diese Frau im Schock war: Ihr lief ein Kind zwischen den Autos vor ihr eigenes Auto. “Wieso steigt die Frau dann aus und redet noch mit dem Kind?” fragen sich vielleicht einige an dieser Stelle: Womöglich hat die Frau überhaupt nicht mal gemerkt, dass sie mit dem Kind gesprochen hat.

Ja, ich verstehe, dass das vielen Menschen fremd ist und es die Vorstellungskraft übersteigt. Ich habe auch den Anspruch: Wenn ich Auto fahre, jemanden verletze, steige ich aus und kümmere mich, hole die Polizei den Krankenwagen – tue was auch immer nötig ist. (Ich bin seit 15 Jahren nicht mehr Auto gefahren und habe kein Auto mehr, ist also fiktiv). Hier spielt meine Moral eine Rolle. Diese Moral ist im Kampf-Flucht-Erstarren Modus einfach nicht im Vordergrund.

Ich bin auf meine tierischen Instinkte / Urinstinkte reduziert, vereinfacht erklärt.

Wenn ich also jetzt diesen Artikel schreibe: Am Schreibtisch mit einer Tasse Tee und mein Gehirn ist gerade keiner Gefahrensituation ausgesetzt, die es als Angriff auf mein Überleben interpretiert: Kann ich ganz bequem schreiben, was ich tun würde. Wenn ich dann in der Situation bin, habe ich den Luxus nicht mehr nach meinen Werten zu handeln, zu analysieren, zu schauen: Dann übernimmt mein “Reptiliengehirn”, es gibt kein „was ist richtig“.

béa: Ich merke, wie mich jetzt die Sache “erweicht” und es mir Leid tut, dass ich in meinem ersten Impuls zu einer Art “Hetzjagd” aufgerufen habe. Was kann ich, was können wir alles was daraus lernen?

mindfulsun: Das freut mich sehr! Ich wünsche mir einfach, dass mehr Menschen das in Betracht ziehen. Das ist reine Biologie, so funktioniert jedes Gehirn in extremen Situationen. Seid dankbar, wenn ihr das noch niemals erlebt habt!

Und auch: Warum hat sie sich am nächsten Tag nicht bei der Polizei gemeldet, sollte es bei ihr so eine automatische Fluchtreaktion gewesen sein?

Hier gibt es die Möglichkeit, dass sie sich vielleicht geschämt hat und immer noch schämt. Wenn Menschen diese Reaktionen nicht mal kennen: Kampf-Flucht-Erstarren, wie sollen sie am nächsten Tag oder in den kommenden Tagen damit klarkommen? Sie schämen sich vielleicht für diese natürliche Reaktion, in der sie keine bewusste Entscheidung getroffen haben. Womöglich sind sie auch verwirrt, fühlen sich schuldig. Vielleicht hinterfragen sie sich dann auch komplett: “Mir ist es doch wichtig anzuhalten, zu helfen, meine Verantwortung zu übernehmen! Warum habe ich das nicht gemacht?” Das kann dauern und manche Menschen melden sich dann möglicherweise auch nie bei der Polizei.

Mit diesem Artikel möchte ich auch Menschen diese Scham nehmen: Wenn dir das passiert ist, suche dir Hilfe. Sprich mit jemandem darüber.

Das Wissen, wie funktioniert mein Gehirn eigentlich ist für mich essentiell geworden.

Juti, wenn das keine dieser Reaktionen war und die Frau einfach weitergefahren ist, gibt es immer noch unzählige andere Möglichkeiten, was in ihr vorging. Ich verstehe sehr wohl, dass Menschen auf solche Aufrufe: Bitte um Mithilfe bei der Suche, emotional reagieren.

béa: Ich hätte wirklich den Post bei Facebook besser formulieren können…

mindfulsun: Ich spreche hier nicht von richtig oder falsch oder besser. Vielleicht anders? Und dann, wenn du etwas ruhiger bist? Keiner weiß, was mit der Frau ist, was sie bewegt hat, wie es ihr geht und doch kamen da sofort Urteile. (die wiederhole ich nicht an dieser Stelle) Was würde die Frau jetzt sagen, wenn wir mit ihr in ein Gespräch gehen könnten? Wenn sie ihre Sicht der Dinge erzählen könnte?

Ich hoffe ich konnte verständlich machen: Mir war es wichtig, die Kampf-Flucht-Erstarren, Reaktion mal anzusprechen, die nicht nur bei “Fahrerflucht” eine Rolle spielt.  Und ich möchte darauf aufmerksam machen: Niemand hat mit der Frau bis jetzt gesprochen, viele Menschen haben sie verurteilt, meinen zu wissen, was sie für ein Mensch ist und was in ihr vorging. Und hier war ich entsetzt.

Zum Abschluss, für jegliche Verletzungen und dem Wunsch nach Rache oder Gerechtigkeit, wenn ich Schuldzuweisungen in mir spüre. (Ich rede jetzt von moralischer Schuldzuweisung und nicht die vor Gericht, die obliegt dem Richter nach der jeweiligen Gesetzgebung):

Wenn mir ganz offen gesagt der Arsch platzt und ich nur noch rot sehe hilft mir das, mich mir zuzuwenden, in meinem Ärger, und für mich selbst zu sorgen:

If your house is on fire, the most urgent thing to do is to go back and try to put out the fire, not to run after the person you believe to be the arsonist. If you run after the person you suspect has burned your house, your house will burn down while you are chasing him or her. That is not wise. You must go back and put the fire out. So when you are angry, if you continue to interact with or argue with the other person, if you try to punish her, you are acting exactly like someone who runs after the arsonist while everything goes up in flames.”

~ Thich Nhat Hanh, Anger: Wisdom for Cooling the Flames

“Wenn dein Haus brennt, ist es am Dringendsten, dass du das Feuer löschst und nicht der Person hinterher läufst, von der du glaubst, sie ist der Brandstifter. Wenn du der Person hinterher läufst, von der du annimmst, sie hat dein Haus angezündet, wird dein Haus niederbrennen, während du ihr nachläufst. Das ist nicht weise. Geh zurück und lösche das Feuer. Wenn du also wütend bist und du währenddessen weiter mit der Person interagierst, mit ihr streitest, wenn du versuchst sie zu bestrafen, verhältst du dich genauso wie jemand, der einem Brandstifter hinterherläuft, während alles in Flammen aufgeht”.

In unserem Beispiel „Fahrerflucht bei Unfall mit Kind“ bedeutet das für mich:
Mitgefühl mit dem Kind, mich um meine Gefühle kümmern, ja auch einen Aufruf zur Suche machen.
Allerdings keine Hetzjagd und die Frau nicht verurteilen.
Eine Suche nach ihr, um mit ihr zu sprechen und erstmal ihre Seite zu hören.

béa: Dein Zitat führt mir vor Augen, was wirklich wichtig ist! Und du hast damit einen wichtigen Punkt.

Ich frage mich selbst, wie kann ich in solchen Momenten so reflektieren? Wenn mich das Entsetzen packt und ich den inneren Drang verspüre, etwas zu TUN, also in Aktion zu kommen…. Wie richte ich da keinen größeren Schaden an, sondern bin mit Güte für alle dabei?

mindfulsun: Wenn du mit Güte dich erstmal um deine Gefühle zu kümmern und um deine Nichte meinst, dann bin ich voll dabei. Da tust du ja etwas! Wie oben geschrieben, auch ich war entsetzt und im ersten Moment verärgert. Das mache ich mit mir aus und mit Menschen im direkten Umfeld.

Ich meine nicht: Wir sollen jetzt alle der Frau um den Hals fallen und ihr sagen, wie lieb wir sie haben.

Ich war entsetzt von den ganzen (Vor-)Urteilen in den Kommentaren.

Nicht nur bei deinem Post fiel mir das auf. Gerade in Corona Zeiten haben sich viele Fronten sehr verhärtet und viele Menschen gehen nicht mehr aufeinander zu, sondern urteilen sofort. Wir beide haben dann gemeinsam beschlossen, diesen Artikel zu schreiben um ein Licht auf die Gesamtsituation zu werfen…

béa: Da sehe ich genauso wie du! Wir können aus solchen Fällen alle gemeinsam lernen, als Gesellschaft, als Eltern, als verantwortliche Wesen. Vielen Dank mindfulsun, dass du hier bereit warst, diesen Beitrag zu gestalten und mir den Weitblick zu eröffnen.

Ich hoffe, dass wir damit etwas bewegen:

  1. Dass Menschen besser informiert sind, dass es schon eine Straftat ist, nach einem Unfall mit einem Kind (Minderjähriger) wegzugehen.
  2. Dass Menschen lernen, dass ihnen unter Umständen auch eine Freeze/Flight Reaktion passieren kann, die wirklich nicht mit ihren Werten und das, was sie rational denken, übereinstimmt.
  3. Dass Verständnis und Weitblick weit mehr allen Beteiligten bringt als Hass und Hetze und dass wir mehr Güte für alle, inklusive sich selbst, für ein gutes Leben miteinander brauchen.

Frage an euch, an LeserInnen: Ist es euch im Leben schon mal passiert, dass ihr etwas bereut habt und gerne anders gehandelt hättet – was hat euch geholfen, da wieder raus zu kommen?

Liebe Grüße,

minfulsun und Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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