Sind widersprüchliche Gefühle normal?


Kennt ihr sie auch? Scheinbar widersprüchliche Gefühle. Ich möchte heute darüber schreiben, was diese scheinbar gemischten oder auch ambivalenten Gefühle in mir auslösten: Innere Zerrissenheit – ein innerer Konflikt.

Wir sind komplex, die Welt ist komplex und natürlich können wir mehrere Gefühle gleichzeitig empfinden. Ganz Mensch eben!
Schwierig wurde es für mich dann, wenn ich den Gefühlen folgen wollte, eben irgendwas damit tun wollte.
Dann war ich im Zwiespalt. Vereinigung von Gegensätzen – Wie soll das funktionieren?

Vorab: Ich spreche heute nicht von Gefühlen, die in ambivalenten Situationen / Gespräch entstehen. Dann, wenn zum Beispiel jemand etwas anderes sagt, als er tut oder Manipulation im Spiel ist. Da werden meist bewusst unterschiedliche Gefühle ausgelöst.

„Gefühle sind die Kinder unserer Bedürfnisse.“ Ich mag diesen Satz von Marshall Rosenberg.

Und genau das hat mir geholfen, mit einer anderen Haltung an das Thema widersprüchliche Gefühle zu gehen.
Mir war es wichtig, auch zu erkennen: Wann bewerte ich meine Gefühle und es kommen noch Gedanken obendrauf? Was dann zu noch mehr Gefühlen führte oder eben Gefühle gemischt mit Gedanken: Pseudogefühle.
Beispiele hierfür: Ich fühle mich hintergangen. Ich fühle mich nicht akzeptiert. Ich fühle mich im Stich gelassen.
Für mich ist es ein großer Unterschied, wenn ich mir bewusst werde, welche Gedanken ich noch auf Gefühle setze.

Jetzt erst mal einfache Beispiele für: Mehrere und widersprüchliche Gefühle gleichzeitig.

Wenn meine Kinder viel später als zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause kamen, hatte ich oft mehrere Gefühle gleichzeitig: Frust, Ärger, Erleichterung, manchmal auch Freude, sie zu sehen. Die Gefühlspalette ist ja groß.

Wenn jemand stirbt, der sehr krank war und sich auch wünschte, dass die Schmerzen endlich ein Ende haben:
Trauer und Erleichterung und noch viel mehr. Gerade wenn Menschen Angehörige über Jahre pflegen, können sich bei deren Tod die unterschiedlichsten Gefühle gleichzeitig abspielen.

Wenn eine zwischenmenschliche Beziehung endet oder ich mich sogar entscheide, diese zu beenden: Auch dann, wenn ich mit diesem Menschen auch sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht habe. Ich kann dann erleichtert sein, frei, vielleicht endlich mal wieder ruhig oder sauer UND ich kann traurig sein und diesen Menschen sogar vermissen. Wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, kann das ein ganzer Gefühlscocktail sein, der sich auch teilweise gleichzeitig abspielen kann. Dann kann es sich für mich auch so anfühlen, als wäre ich mit meinen eigenen Gefühlen in einem Konflikt.

Wenn ein Kind auf einer Klassenfahrt Heimweh hat und sich gleichzeitig frei fühlt, begeistert, unbeschwert etc.

„Ich liebe mein Kind aber ich mag es nicht!“

Auch das kann es geben. Wir können bestimmte Eigenschaften an unseren Kindern (gerade) nicht mögen oder Dinge, die sie tun oder sagen. Das hat vor allem auch mit uns selbst zu tun. Das eigene Kind nicht in jedem Moment zu mögen, kann sich auch wie innere Zerrissenheit anfühlen und mit Schamgefühlen einher gehen. Selbstmitgefühl! Schauen: Was genau mag ich nicht? Was steckt bei mir dahinter? Wo kommt das Gefühl her? Und wieder verbinden mit der Liebe, die ich für mein Kind habe. Auch darüber sprechen, kann hier Klarheit bringen.

Vor meiner Therapie habe ich mich manchmal gefragt: Ist das normal? So intensiv verschiedene und scheinbar widersprüchliche Gefühle gleichzeitig zu spüren?

Mit viel Selbstreflexion habe ich später für mich herausgefunden, warum mir diese Frage durch den Kopf ging: Oft war es Scham.
In bestimmten Situationen hielt ich einige Gefühle für angemessen und andere nicht.

Heute weiß ich: Alle Gefühle sind valide! Gefühle kommen und gehen und Gefühle möchten mir oftmals auch etwas sagen.

Es ist ok, Gefühle gleichzeitig zu spüren. Traurig und erleichtert, unsicher und neugierig

Sie sind wie ein Zeiger. Die angenehmen Gefühle zeigen mir, was bei mir gut gefüllt ist und die unangenehmen Gefühle weisen darauf hin, was mir fehlt. Hinter Gefühlen stecken Bedürfnisse.

Zwei Dinge helfen mir also, wenn ich mehrere Gefühle auf einmal spüre:

1. Annehmen!

Wenn es besonders starke unangenehme Gefühle sind, versuche ich für mich herauszufinden, welche Bedürfnisse dahinterstecken können. Quasi eine bewusste Übung: Selbstreflexion und Achtsamkeit.
Ganz besonders dann, wenn es mein Leben beeinträchtigt oder ich eine Entscheidung treffen möchte.
Momentan habe ich seit Wochen ziemliche Schmerzen und Bewegungseinschränkung in meinen Schultern. Da kann es schon vorkommen, dass ich gleichzeitig Hummeln im Po habe und total erschöpft bin. Widersprüchlich, scheinbar und doch wieder nicht. Gerade jetzt, wenn ich den Artikel schreibe, bin ich kraftlos und inspiriert. Also sitze ich hier und tippe langsam und vorsichtig, weil ich gerade kreativ sein möchte. UND ich habe eben nicht die Kraft, wie sonst schwungvoll in die Tasten zu hauen. Ich achte allerdings auf mich und lege Pausen ein. Denn einen Blogartikel zu schreiben und dann für Stunden außer Gefecht sein, geht eben nicht. Es liegen ja noch andere Dinge an. Hier achte ich auf meine Grenzen.

Das gehört also für mich auch dazu, wenn ich mehrere Gefühle gleichzeitig habe: Auf meine Grenzen achten und meine unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut bringen.

2. Ich handele nicht nach jedem Gefühl!

Ja, ich bin ein ziemlich impulsiver Mensch. Vor meiner Therapie habe ich vielen Impulsen nachgegeben und danach gehandelt. Ich fühlte etwas und die Handlung folgte sofort. Heute kann ich meistens Pausen zwischen Reiz und Reaktion legen.
Zu einem Beispiel vom Anfang zurück: Wenn meine Söhne also später als vereinbart nach Hause kamen, ich gleichzeitig Erleichterung und Ärger verspürte, gab ich beidem nach. Manchmal schimpfte ich noch in der Umarmung drauflos.
Heute würde ich das anders machen. Die Erleichterung ist für mich in diesem Moment das wichtigere Gefühl. Leinen los für die Umarmung! Später, wenn ich mich beruhigt habe, kann ich meinen Ärger ausdrücken und wir sprechen in Ruhe darüber. Das Bedürfnis nach Sicherheit und sie zu Hause zu wissen, ist das vordergründige Bedürfnis in diesem Moment. Da mir eine gute Beziehung zu meinen Söhnen sehr wichtig ist, war es essenziell  einen reflektierteren Umgang auch mit widersprüchlichen Gefühlen zu erlernen.

Emotionale Regulation spielt für mich bei scheinbar widersprüchlichen Gefühlen also auch eine Rolle.

Zurück zu zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikten: Auch hier kommt es vor, dass ich mehrere Gefühle gleichzeitig habe: Frust und Zuneigung, Mitgefühl und Ärger. Manchmal eben eine Mischung zwischen: Mit Liebe erfüllt und an die Wand klatschen wollen. Auch hier: Meine Gefühle sind ok! Alle! Wie ich dann handele, ist entscheidend. Und dazu gehört eben, dass ich mir klar werde, was hinter den Gefühlen ist und ich es mir „erlaube“ alles zu fühlen. Ich muss nicht allen verschiedenen Gefühlen Ausdruck verleihen!

Scham habe ich schon erwähnt. Scham, weil ich bestimmte Gefühle hatte. Womöglich geht das anderen Menschen auch so besonders dann, wenn sie sich nahe stehenden Menschen mit den verschiedenen Gefühlen öffnen.

„Was? Wieso bist du traurig? Sei doch froh, dass es vorbei ist! Also das verstehe ich jetzt nicht!“
Ich bin manchmal beides und noch viel mehr!

Gerade bei Verlusten und  (großen) Veränderungen jeglicher Art können unterschiedliche Gefühle gleichzeitig in mir auftauchen. In für mich schwierigen Zeiten fährt mein Emotionskarussell Achterbahn.
Alle Gefühle sind ok! Keins davon möchte ich verstecken. Wenn ich also mit Menschen darüber spreche, dann möchte ich auch authentisch sein können. Alle diese Gefühle gehören zu mir. Wie ein anderer Mensch darüber urteilt: Liegt bei ihm.

Was ich auch in der Therapie gelernt habe: Gefühle hängen manchmal dem Kopf hinterher.

Die logische Seite hat bestimmte Dinge schon erkannt. Die Emotionen jedoch bleiben (noch). Das kann auch dazu führen, dass ich verschiedene Gefühle gleichzeitig spüre. Da ist schon die Hoffnung und da ist noch die Angst. Mut und Angst gleichzeitig geht!

Zur gleichen Zeit Raum für mehrere Gefühle halten zu können, war für mich eine Lernkurve. Auch zu merken: Ah, manche Gefühle kommen hintereinander. Eben wirklich in meinen Körper spüren. Da sitzen die Gefühle ja und nicht im Kopf.

Zum Abschluss möchte ich noch auf emotionale Taubheit eingehen: Nichts fühlen.

Auch wenn das mit meiner Posttraumatischen Belastungsstörung nun eher Dissoziationen sind (ich steige aus meinem Körper aus): Nichts fühlen – emotionale Taubheit –  kann  auch bei Menschen mit einem ansonsten regulierten Nervensystem ein Zeichen dafür sein, dass sie gerade zu viel fühlen. Das ist quasi eine Schutzfunktion.  Was eigentlich ziemlich clever ist vom Körper kann natürlich auch eine Bremse sein. Denn nur durch das Fühlen der verschiedenen Gefühle kann ich heilen oder etwas verändern.
Was mir hier hilft? Bewegung und Fokus.
Rein in die Sportschuhe, raus für einen strammen Spaziergang und zwar mit Trance Musik auf den Ohren. Hier kann ich oft förmlich spüren, wie sich die Taubheit etwas auflöst und Gefühle an die Oberfläche kommen.
Bewegung ist generell für mich eine wichtige Ressource geworden, um besonders unangenehme Gefühle aufzulösen.

Vielleicht hilft dieser Beitrag dem einen oder anderen, wenn es mal wieder heißt: Hier da haste! Einmal gemischte Gefühle mit allem!

Denn scheinbar widersprüchliche, ambivalente Gefühle haben sehr wohl eine Berechtigung.

Wie geht ihr mit scheinbar widersprüchlichen oder gemischten Gefühlen um? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen.

mindfulsun

PS: Mir ist bewusst, dass ich hier teilweise etwas gemischt habe. Gefühle gleichzeitig im selben Moment spüren und zu einer Situation im Laufe der Zeit verschiedene Gefühle zu haben. Das Fazit bleibt: All das ist OK!

mindfulsun
About me

Mensch, Mama zweier Jungs, die versucht ihre Werte zu leben und die innere Balance zu halten. Ich schreibe über Achtsamkeit, vegane Ernährung, Nachhaltigkeit und verbindende Kommunikation von Herzen. Was ich mir wünsche? Einander mit mehr Mitgefühl und Empathie zu begegnen, überall auf der Welt.

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