Wie viel Freiheit der Mode ist bei Schulkleidung OK?
Neulich kam ich auf die Idee, Dr. Gottfried Thomas, ehemaliger Direktor einer der Phorms Schulen, die ich mitgegründet habe, und inzwischen auch ein Freund, zu bitten, Anekdoten aus seinem Schulleben aufzuschreiben. Eigentlich möchte ich ihn überzeugen, sie in einem Buch zusammenzufassen… denn er erzählt sie so herrlich humorvoll!
Eine davon darf ich euch hier zu lesen geben und bin mal gespannt, wie ihr sie findet. Damit ihr ihn einschätzen könnt: Bevor ich ihn als Schulleiter für Phorms Hamburg in 2009 gewinnen konnte, leitete Gottfried mal die Deutsche Schule in der wunderschönen nordspanischen Stadt Bilbao. Und davon handelt diese Story… aber auch allgemein davon, was an einer Schule an freizügigen Klamotten erlaubt sein dürfe oder auch nicht.
Schulkleidung – oder die individuelle Freiheit der Mode?
Beim Blick aus dem Fenster schien die Hitze zum Greifen nah. Schon morgens hatten wir 25°C im Schatten gehabt – die Luft flirrte vor den Fensterscheiben, und inzwischen war das Thermometer auf über 30°C gestiegen. Doch hitzefrei gibt es in südlichen Regionen natürlich nicht, auch nicht an den deutschen Auslandsschulen. Andernfalls bliebe vom Rest des Schuljahres nicht mehr viel übrig – es gab ohnehin schon viel mehr Feiertage und Ferien als in Deutschland.
Nein, an hitzefrei war nicht zu denken.
Ich öffnete – endlich – den obersten Knopf meines weißen Hemdes und löste den Krawattenknoten ein wenig. Das Jackett hatte schon längst seinen Platz über der Lehne meines Schreibtischstuhls gefunden. Der leichte Luftzug kühlte meinen Hals, oder war es die herausströmende warme Luft? Jedenfalls fühlte ich mich gleich etwas wohler – auch der Herr Direktor sollte auf sein körperliches Wohl achten, allemal bei dieser Hitze. Dazu noch ein Schluck Mineralwasser, und schon konnte ich mich wieder meiner Arbeit widmen, der Aktualisierung und Fertigstellung des „Verhaltenskodex für LehrerInnen, SchülerInnen und aller am Schulleben beteiligten Personen“, eine Mammutaufgabe, der sich unsere Schule in diesem Schuljahr verschrieben hatte. Mal wieder, denn natürlich hatten sich damit auch schon Schulgenerationen vor mir beschäftigt, aber die Gesellschaft und die damit verbundenen Erwartungen änderten sich beständig.
Und gerade heute sollte ich erfahren, dass es immer wieder Momente geben wird, die in keiner Satzung und keinem „Kodex“ vorhersehbar und daher im Voraus regelbar sind…
„Da mach nicht ich nicht mehr mit – das lass ich mir nicht bieten!“
Mit hochrotem Kopf – und ich erkannte sehr schnell, dass dies keine Auswirkung der hochsommerlichen Temperaturen war – stürzte Frau Kleinschmidt in mein Zimmer, die Türe hinter sich mit einem lauten Donner zuknallend.
„Da müssen Sie endlich was machen! Wo soll das noch hinführen? Ich bin jetzt bald 20 Jahre lang Lehrerin, aber so etwas gab es noch nie! Das hätte sich keine Schule bei uns in Baden-Württemberg bieten lassen. Den hätten wir hochkantig rausgeschmissen! Machen Sie doch endlich was!“
Dann erst holte sie etwas Luft – ich konnte mir also erst einmal ersparen, die Sekretärin zu bitten, den Notarzt anzurufen. Schon längst saß ich nicht mehr an meinem Schreibtisch sondern hatte versucht, ihr mit Gesten klar zu machen, dass Sie sich doch bitte an den kleinen Besprechungstisch setzen möge. Jetzt endlich schien sie das auch zu verstehen, zog sich einen der vier Stühle heran und setzte sich. Auch das Glas Wasser, das ich ihr anbot, ergriff sie und stürzte den Inhalt gierig herunter. Dann, auch ich hatte mich inzwischen an den Tisch gesetzt, sicherheitshalber aber auf der anderen Tischseite und ihr nicht zu nahe, wollte ich endlich fragen, worum es denn ginge usw. Aber…
„Was glauben diese Schüler eigentlich, wer sie sind? Sind wir denn hier in ihrer Diskothek oder bei den Clochards unter den Brücken von Paris? Oder gar in der Gosse? Es ist eine Unverschämtheit, so herumzulaufen! Und wir Lehrer müssen das ertragen?! Da mach ich nicht mehr mit! Tun Sie endlich was!“ Der letzte Satz erstickte fast in dem Wasserglas, das sie – von mir wieder aufgefüllt – erneut an den Mund geführt hatte und nun in einem Zug leerte.
Ich ahnte inzwischen, worum es gehen könnte, und nutzte die Gelegenheit zu einer ersten Nachfrage: „Frau Kleinschmidt“, begann ich ganz vorsichtig, „nun erzählen Sie doch mal, worum es geht… Ich vermute mal, die 12b hat sich irgendwie daneben benommen…“
Aber das hätte ich so lieber nicht formulieren sollen. „Ja, was glauben Sie denn?“ fauchte mich Frau Kleinschmidt an. „Meinen Sie denn, ich würde mit einer 12. Klasse nicht zurechtkommen, weil diese sich mal ´daneben´ benimmt? Das hier ist etwas ganz anderes, das hier ist eine Beleidigung für mich als Frau und eine sexuelle Belästigung noch dazu!“
Ich versuchte, sie zu beruhigen. „Sicher, so wird es wohl sein, aber lassen Sie mich doch verstehen, was eigentlich passiert ist, damit wir gemeinsam etwas dagegen unternehmen können.“ Mit diesen Worten schien ich nun doch einen Draht zu ihr gefunden zu haben.
„Also dieser Fernando – nein, das geht einfach so nicht weiter“…
…setzte sie nun erneut an, allerdings schon etwas entspannter, und trank das nächste Glas Wasser. „Ich hab´s ihm schon ein paar Mal gesagt, aber er sagt einfach, das gehe mich nichts an. Und sehr wohl geht mich das was an, verstehen Sie?“
„Was konkret meinen Sie denn?“ wollte ich mich eigentlich nur noch versichern – aber mir war das Problem schon ziemlich klar geworden.
Und so setzte sie fort: „Na das mit den Hosen, die bis in die Kniekehlen hängen, mit Unterhosen, wo schon der ganze Arsch rausguckt, der blanke Arsch, sag ich Ihnen – nein, da mach ich nicht mehr mit!“
Und nun hatte sie es ausgesprochen. Sie griff wieder zum nächsten Glas Wasser, leerte es, und lehnte sich dann zurück – der nachfolgende Seufzer schien ihr die Last von drei Lastwagen voller Betonbausteine genommen zu haben.
Ich ließ den „nackten Arsch“ ein wenig im Raume wirken, bevor ich ihr vorschlug: „Gut, Frau Kleinschmidt, dann gehen wir jetzt zusammen in die 12b und ich werde mit Fernando sprechen. Das geht natürlich so nicht. Da muss er einfach mehr Respekt zeigen und…“ – „Das hat überhaupt nichts mit Respekt zu tun“, unterbrach sie mich und, ohne groß Luft zu holen, wetterte sie erneut los: „Ich bin eine Frau und fühle mich sexuell belästigt, wenn dieser junge Bub meint, mir seinen Hintern zeigen zu können, einfach so, in seinen rot karierten Unterhosen, frech und unverschämt, einfach so vor der Klasse an der Tafel. Und ich sprech‘ ihn noch freundlich an, ob er nicht mal… Aber er ignoriert das einfach, schreibt weiter, so als ob ich gar nichts gesagt hätte, und auch eine zweite Bitte von mir ignoriert er einfach. Da geh ich nicht mehr rein, in diese Sauklasse!“ – „Die Klasse ist insgesamt doch sehr nett“, versuchte ich, sie wieder etwas herunter zu holen. „Nur dieser Fernando eben – ich werde mit ihm sprechen, und nun lassen Sie uns nach oben gehen, damit die Klasse nicht so lange alleine ist. Wir haben schließlich auch diesen Schülern gegenüber noch unsere Aufsichtspflicht. “
Frau Kleinschmidt nahm nochmals einen tiefen Schluck Wasser aus dem zum fünften Mal gefüllten Glas, dann atmete sie einmal ganz tief durch, wartete noch einen Augenblick, schaute mich unschlüssig an, und dann gingen wir gemeinsam in den ersten Stock.
Auf dem Weg nach oben schossen mir viele Gedanken durch den Kopf.
Ich dachte daran, dass wir stolz darauf waren, als eine der ganz wenigen Schulen in Spanien keine uniformierte Schulkleidung zu tragen.
Ich dachte an Begriffe wie Toleranz, Akzeptanz, Verständnis oder Rücksicht – alles wichtige Kernbegriffe in unserer Schulordnung und dem Verhaltenskodex, den ich gerade überarbeiten wollte.
Ich dachte an das Recht (und die Pflicht) von Jugendlichen, sich und ihre Umwelt auszutesten, sich auszuprobieren, sich zu finden.
Aber ich dachte auch an die Richter, die vor ein paar Jahren irgendwo in den USA zunächst das Tragen von „Baggy Pants“ (wie sie dort genannt werden) verboten hatten, dann aber – unter Hinweis auf die amerikanische Verfassung – es doch wieder zugelassen hatten. Ob es hier in diesem Lande auch so weit kommen müsse? Und ich dachte an die Fähigkeiten und Pflichten von ausgebildeten und erfahrenen Lehrkräften, den richtigen Ton und die richtige Ansprache ihren SchülerInnen gegenüber finden zu müssen, wenn es um erzieherische und nicht nur um fachbezogene Themen geht. All das rotierte blitzschnell in Bruchstücken in meinem Gehirn – aber noch bevor ich dazu ansetzen konnte, mir ein Konzept für eine Ansprache an Fernando zurecht zu legen, waren wir vor der Klasse 12b angekommen.
Ich bat Fernando, zu mir nach draußen auf den Gang zu kommen, weil ich mit ihm sprechen müsste.
Fernando, Sohn eines ortsansässigen und stadtbekannten Anwalts, dessen Großeltern auch schon Schüler dieser Schule gewesen waren, hatte im Laufe seiner 12 Jahre an der Deutschen Schule ausgezeichnet gelernt, sich in der deutschen Sprache auszudrücken. Er hatte sich auch viel von der deutschen Kultur zu eigen gemacht, und wusste natürlich sofort, als ich mit ihm sprechen wollte, worum es ging.
„Es geht nicht gegen Frau Kleinschmidt und sie soll sich nicht so aufregen“, erklärte er mir ganz ruhig. „Das ist für uns so was wie eine Philosophie, gegen die spießigen Modemacher, immer so adrett gekleidet zu sein. Davon haben wir die Nase voll!“ ´Perfektes Deutsch´, dachte ich so bei mir…
„Und überhaupt: Warum beschwert sich bei Ihnen keiner der Lehrer, wenn die Mädchen in unserer Klasse ihre Blusen fast bis zum Bauchnabel geöffnet haben, bloß, weil es angeblich so heiß sei? Aber wenn wir Jungs unserem Bauch und Rücken ein wenig frische Luft bei dieser Hitze gönnen, dann ist das Geschrei gleich riesengroß! Warum eigentlich?“
Irgendwie ist da was Wahres dran, konnte ich nachvollziehen, wollte ihn aber natürlich dennoch davon überzeugen, dass man auch gewisse zwischenmenschliche Regeln und Konventionen in Institutionen wie einer Schule beachten müsste, und dazu gehörten eben auch die Rücksichtnahme auf andere Einstellungen und Geschmäcker.
Einen Hinweis auf den Verhaltenskodex der Schule wollte ich nicht erwähnen – hier ging es um ihn, und er war der Mittelpunkt unseres Gesprächs, nicht aber die Schule als komplexes Konstrukt.
Und es funktionierte: Er sagte mir schließlich zu, darauf in Zukunft eingehen und etwas vorsichtiger seine eigenen modischen Vorstellungen im Rahmen der Schule umsetzen zu wollen – ein junger Mann, kurz vor dem Abitur, auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Und Frau Kleinschmidt? Ob die „Hose“ noch einmal Thema zwischen ihr und der 12b war, weiß ich nicht – wir haben selbst nie mehr darüber gesprochen. Allerdings musste ich schon so manches Mal noch an diese nette „Begegnung“ mit Mode und ihren Auswirkungen denken, als ich an meiner Aufgabe zum „Verhaltenskodex…“ weiter arbeitete.
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Soweit das Modeerlebnis von Gottfried an seiner spanischen Schule. Was ist eigentlich eure Meinung zum Thema Kleiderordnung an Schulen? Wie viel Freiheit der Mode ist bei Schulkleidung aus eurer Sicht OK? Und wo würdet ihr Grenzen ziehen, insbesondere in puncto Freizügigkeit?
Liebe Grüße von Gottfried und Béa
P.S. Wenn ihr Lust hättet auf mehr Anekdoten aus dem Schulleben, Gottfried und ich freuen uns über Feedback, Ansporn… und auch konstruktive Kritik!
- 05. Mar 2018
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- Heiterkeit, Pädagogen, Schule, Traumschule
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