Gastbeitrag – Wir haben unsere 12-jährige Tochter in Liebe sterben lassen
!! ACHTUNG – sehr emotional. Die Mutter von Emma hat die letzten 7 Wochen, den Tod und das Abschiednehmen von ihrer 12-jährigen Tochter aufgeschrieben. !!
Vielen Dank für diesen Text und die zur Verfügung gestellten Bilder, liebe Maria und Familie.
Die ganze tollabea-Redaktion wünscht euch viel Kraft!
Es gibt ein schönes Kinderbuch (Es gibt viele schöne Kinderbücher zu dem Thema), „Ente, Tod und Tulpe“ das schreibt von einer Ente, die den Tod trifft und der begleitet sie eine Weile, bis sie stirbt.
Ich glaub, so war es bei unserer Emma auch.
Ich glaub, sie hat sehr genau gewusst, dass sie sterben wird.
Ich glaube, sie hat gewusst, noch bevor es uns in irgendeiner Form ins Bewusstsein kam.
Emma hatte ein schlechtes Jahr, sie hat viel abgenommen, hat oft viel zu wenig gegessen, Schmerzen gehabt, war oft genervt und hatte viele epileptische Anfälle. Emma und ihr großer Bruder haben beide eine Hirnfehlbildung aufgrund eines sehr seltenen Gendefekts. Aufgrund dessen haben beide eine schwere therapieresistente Epilepsie. Über die Jahre wurden die Anfälle stärker und häufiger. Es gab immer mal Phasen in denen Emma ihre Medikamente nicht so gern nehmen wollte.
Diesmal war es anders.
Über Wochen haben wir mit sämtlichen Tricks und Mitteln versucht die Medikamente ins Kind zu bekommen. Oft vergeblich.
Und dann war da dieser Augenblick.
Ich hatte es gerade geschafft das die Medi in ihrem Mund waren, da saß sie, mein wundervolles Kind, neben mir, mit Tränen in den Augen und konnte sie nicht runterschlucken. Auch mir liefen die Tränen und der Druck der auf uns lastete war mehr als deutlich zu spüren. Sie durfte sie ausspucken. Das war der erste Tag ohne Medikamente, 7 Wochen bevor sie starbt.
Am nächsten Tag rief ich das Kinderpalliativteam an.
Vor allem um mich über die rechtliche Lage zu informieren. Kann mir was passieren, wenn ihr etwas passiert und ich ihr keine Medikamente verabreicht habe? Die Antwort war klar, ihr Wille zählt. Ich soll die behandelnde Ärzte informieren.
Es gab dann einen furchtbaren Versuch mit einer Nasensonde, zu dem uns unsere behandelnde Ärzte rieten. Ich versprach ihr an diesem Abend ihre Entscheidung zu respektieren, mich nicht zum Mittäter zu machen und wir ihren Weg gemeinsam gehen werden.
1 Woche später machten wir zusammen mit dem Kinderpalliativteam eine EVN (Empfehlung zum Vorgehen im Notfall), eine Art Patientenverfügung. Währenddessen wird auch über die Prognose gesprochen und zum ersten Mal in 14 Jahren sagte jemand, das die Prognose schlecht ist.
Wir verbrachten eine wunderschöne Woche im Kinderhospiz, alle zusammen bei schönstem Wetter. Emma war zum ersten mal seit Ewigkeiten anfallsfrei und schmerzfrei. Und das, ohne Medikamente.
Der Druck wuchs, die Ätzte wollten ihr gern eine PEG (Magensonde) legen, um ihre Medikamente zu verabreichen.
Wir waren uns bewusst, dass dies nur unser Problem löst, aber nicht Emmas. Ich war sicher, sie hat Nebenwirkungen von ihren Medikamenten. Wir erklärten uns immer und immer wieder. Und Emma dankte es uns, in dem sie anfing nach Herzenslust zu essen, gut gelaunt und aufgeblüht war.
Wir hatten wundervolle, wertvolle 7 Wochen. Ein mega tolles Fotoshooting, jeden Tag haben wir Eis gegessen und einmal noch, im Sommerregen getanzt.
Das Thema Sterben war immer ganz nah, ein Teil dessen. Wir redeten drüber, diskutierten und haben uns zig mal hinterfragt, ob wir das richtige tun.
Die Anfälle kamen wieder, seltener, aber immer heftiger. Die Angst wuchs mit, aber wir lebten.
Ich war kopflos und völlig überfordert
Ich war nicht vorbereitet darauf, dass ich an jenem Montagmorgen meine Tochter leblos in ihrem Bett fand. Ich war kopflos und völlig überfordert.
Der Pflegedienst, der zum Glück kurz darauf eingetroffen war, konnte dem Rettungsdienst am Telefon Info geben und wir begannen zu reanimieren bis der Rettungsdienst eingetroffen war.
Nach 25 Minuten hatte Emma einen Puls. Schwach, aber stabil. Währenddessen rief ich meinen Mann an, meine Mutter und kümmerte mich um die Geschwister. Ich verlor Raum und Zeitgefühl.
In der Klinik angekommen, empfingen mich 3 Kinderärzte, umarmten mich. Man kennt uns. Es sieht nicht gut aus, Emma muss verlegt werden. Ich verstand nicht, warum man sie verlegt, wenn sie doch gerade stirbt. Später wusste ich, das es eine gute Fügung war.
Emma hat die Sonne geliebt und an diesem Tag schien sie besonders hell.
Als wir in den Hubschrauber einsteigen, bat ich sie, alle Energien zusammen zu nehmen um noch einmal in die Sonne zu blinzeln. Im Hubschrauber in der Luft, in der Sonne setzte die Schnappatmung ein.
Auf der Kinder-ITS unserer Wunschklinik gerade angekommen, kam die Chefärztin. Sie war sehr nett, sachlich und klar. Es gibt keine Hoffnung auf ein Aufwachen. Ich bin dankbar für ihre klaren offene Worte.
Wir entscheiden alle Maschinen abzustellen und Emma gehen zu lassen. Wir warteten auf meinen Mann. In der Zeit sang ich Emma vor und wir hörten fröhliche Kinderlieder aus dem CD-Rekorder.
Leise stellt man alle Geräte aus, entfernt alle Kabel und den Tubus. Die Ärztin bittet uns Bescheid zu sagen, wenn wir jemanden brauchen und lässt uns allein.
Ich durfte nie den Umgang mit dem sterben und dem Tod lernen.
Und so hatte ich zu meiner großen Traurigkeit auch große Angst. Wir kuschelten uns an Emma, ihr Papa, ihre kleine Schwester und ich. Wir weinten und machten ihr Mut. Sie darf jetzt gehen, wir sind ihr nicht böse. Wir lieben sie. Fast mantramäßig, immer wieder. Während Emma ihre letzten Atemzüge macht. Es dauert nicht lange bis kein Atemzug mehr kommt und meine Tochter, die gerade 12 Jahre ist, tot in meinem Arm liegt.
Wir rufen unsere Familien an.
Die Ärztin hatte uns zuvor gefragt, ob sie im Hospiz nachfragen soll, ob dort ein Platz für Emma und uns ist, um Abschied zu nehmen. Wir wussten vorher nichts von dieser Möglichkeit, die sich dann als so hilfreich heraus stellte. So wertvoll.
Wir verbrachten 4 Tage mit Emma im Hospiz, um uns von ihr zu verabschieden.
Zu begreifen, dass sie tot ist, war auch für ihren Bruder so wichtig. Zeit dafür zu haben, mit allen Sinnen zu begreifen, dass keine Antwort und keine Reaktion mehr kommt.
Wir bemalten ihren Sarg, es gab ein Abschiedsritual, unsere Lieblingsfotografin kam, um ein letztes Mal Bilder zu machen. Wir weinten, wir lachten, wir kuschelten. Wir waren zusammen und manchmal einsam. Unsere Familien und Freunde kamen, um sich zu verabschieden. Und es gab ein Sommerfest mit Seifenblasen, Musik und Zuckerwatte.
Wir lernten, dass es kein Tabu gibt und das alles darf, was hilft. Die letzte Nacht schlief ich ein letztes Mal bei meiner Tochter. Auf einem hergerichteten Matratzenlager, das für uns alle barrierefrei erreichbar war.
Das Bestattungsunternehmen war Zufall. Es gab vorher keine Gedanken dazu. Und das Thema überforderte mich. Wie wichtig ein gutes Bestattungsinstitut ist, merkten wir erst, als unseres uns begleitete. Es war zu jederzeit würdevoll, liebevoll und Vorallem mit viel Geduld.
So durften wir alle zusammen unsere Tochter (und Schwester) selbst in den Sarg legen, und selbst die Schrauben verschließen. Jeder einzelne Schritt war so wichtig. Zum Abschied sangen wir zusammen ein Geburtstagslied. Weil Emma Geburtstage ganz besonders geliebt hat.
Maria R.
- 20. Sep 2018
- 14 Kommentare
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- Abschied, Emma, Hospiz, Kind, Sterben, tod, Todes Kind
Saskia
20. September 2018Puh....eure Geschichte hat mich ganz schön berührt und eigentlich habe ich gerade gar keine Worte. Ich wünsche euch viel Kraft. VG Saskia
bukowski
24. September 2018Ich sitze hier und bin so gerührt. Die Tränen laufen mir übers Gesicht.Es ist trotzdem so gut zu lesen, dass der Wille der kleinen Maus erfüllt wurde. Sie wollte es so und ich glaube, jeder hat das Recht zu entscheiden, wie es geschehen soll. Sie können stolz sein. Man braucht natürlich Freunde und Familie , die einen auffängt. Ich glaube ganz stark ans Wünschen. Ich werde sie darin einbeziehen, denn so liebevoll, sind sie ein Vorbild. In Gedanken drücke ich sie ganz behutsam und wünsche ihnen alles Gute und kraft und viele gute Freunde. Ich habe 3 Kinder mit Gendefekt. Wenn es sehr schlimm werden würde, denke ich an sie. Nicht würde ich machen, was meine Kinder nicht wollen. In Liebe Beate
ThSch
24. September 2018Ich habe diese (deine) Zeilen gelesen und unter Tränen versucht zu begreifen. ...Kann man das überhaupt ?
Es ist sehr einfühlsam und sehr bildhaft beschrieben und ich danke für den Mut. Ich finde wie liebevoll Du (und die Familie) über euere Grenzen hinausgegangen seid ist unbeschreiblich.
Mich hat es wieder "eingenordet" und aufgezeigt wie lächerlich meine Probleme sind.
Ich hoffe ich kann bewusster das Leben leben und dieses viel mehr zu schätzen.
Ich hoffe, ich wünsche mir, dass Du und deine Familie Kraft, Liebe, tolle Erinnerungen habt und nicht zerbrecht.
Herzlichst und dankbar
Th.
Jenny Hillig
24. September 2018Liebe Maria,
Es tut mir furchtbar leid, dass du und deine Familie diese Erfahrung miterleben mussten - euren Lieblingsmenschen gehen zu lassen. Ich bewundere euch für eure offenen Entscheidungen und finde es wundervoll, dass ihr eure Tochter so begleitet und ihr Kraft und Liebe gegeben habt, ohne gegen ihren Willen medizinisch einzugreifen.
Das ist wahre Liebe!
Fühlt euch fest gedrückt! Sie wird immer in euch weiterleben.
Liebe Grüße, Jenny
Steven
27. Dezember 2018Ich kenne diese Familie vom Schreiben. Damals waren sie in meiner Gruppe, wo es um bedürfnisorientiertes Leben mit behinderten Kindern ging.
Sie hat mehrfach um Rat gefragt.
Als ihre Tochter gestorben ist, wurde ich sogar angegangen, warum ich sowas zugelassen habe.
Ich hätte doch handeln müssen, hätte etwas tun müssen, weil ich wusste, dass dieses Kind keine Medikamente mehr bekommt.
Ich habe sie bewundert für ihre stärke diesen Weg zu gehen.
Es hat mir sehr sehr weh getan, als das Kind gestorben ist.
Emma und ihre Eltern, ihre Familie, welche gemeinsam diesen Weg gegangen sind, haben mein Herz zu tiefst berührt.
Sabine
3. Dezember 2019Was ist das für eine Gruppe? Wo finde ich sie?
Gerda Günther
27. Dezember 2018Ich habe auch einen Enkel durch einen Hirntumor verloren.Er wurde nur 30 und ist gerade Vater geworden. So kann ich tief mitfühlen. Mein tiefes Beileid den Eltern.
Béa Beste
28. Dezember 2018Auch dir ganz tiefes Beileid, liebe Gerda. <3 Béa
Mareen
3. Dezember 2019Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich bin sehr gerührt und ich fühle mit dieser sehr sehr mutigen und tapferen Familie mit.
Béa Beste
4. Dezember 2019Danke dir, liebe Mareen!
Maria
15. Dezember 2019Ich hatte Tränen in den Augen, die gleiche Situation hatten wir auch. Mein Sohn wurde nur 15 Jahre alt und war auch schwerbehindert. Zu sagen, alles ist gut, er dürfte gehen wenn keine Kraft mehr da ist, ist das schlimmste für eine Mutter
Béa Beste
15. Dezember 2019Danke, liebe Maria, dass du hier kommentiert hast. Es ist die schlimmste Sache der Welt... Liebe Grüße, Béa
Marion
28. Februar 2020Ich bewundere deine Stärke so sehr. Ich hatte in den letzten zwei Jahren viel mit Depressionen zu kämpfen, bin aber inzwischen alleinerziehend. Daher kenne ich das Gefühl, für das Kind stark sein zu müssen. Aber wie hast du es geschafft, die letzten Wochen mit ihr so aktiv genießen zu können? (Sorry, falls ich das nicht fragen darf) Das benötigt ja noch so viel mehr Stärke. Aber ich denke, dass es wichtig war, dass du immer für sie da warst, auch wenn es nicht so lief, wie alle wollten.