Solche Dinge passieren doch nicht allen Mädchen. Was unterscheidet diese Mädchen von mir? – #metoo Gastbeitrag


Ich habe von einer anonymen Leserin, nach unserem letzten #metoo Beitrag hier, noch mal eine sehr bewegende und persönliche Geschichte bekommen. Auch diesmal möchte ich euch um Respekt und Feinfühligkeit in den Kommentaren bitten.

Kurz, was von mir dazu: Ich glaube auch, dass nicht trotz, sondern gerade wegen des Grundtenors dieses Blogs hin zu Optimismus und Verspieltheit auch diese Erfahrungen Platz haben. Denn es macht uns als Eltern und Kinderbeschützer wach, und wir schauen besser hin, wenn wir wissen, was anderen widerfahren ist.

Unsere Gastbeitragende schreibt:

Vorab gesagt: Für mich sind solche Erfahrungen nicht neu, auch wenn sie in diesem Fall viel extremer waren, als ich es erlebt habe. Ich für mich selbst habe damit abgeschlossen. Jedenfalls dachte ich das, solange, bis ich meine Tochter geboren habe. Denn jetzt ist die ganze Angst wieder da, projiziert auf sie. Ich weiß nicht wie ich sie, wenn sie in das Alter kommt, beschützen soll, ohne sie einzuengen und sie dadurch womöglich in ihrer normalen Entwicklung zu stören. Sie ist 4, sie ist viel stärker als ich es je war, weil ich auf diese Stärke besonders viel wert lege in meinem Erziehungsstil.

Aber was, wenn das nicht reicht? Es ist wie beim Autofahren, man kann der sicherste Fahrer sein, aber wenn plötzlich auf der Autobahn einer rüberzieht, machst du nichts mehr.

Hier ist meine Geschichte:

Also ich bin sehr behütet in einer Polizistenfamilie aufgewachsen. Der Erziehungsstil war zeitgemäß autoritär. Nach allem, was ich heute weiß, bin ich und war ich immer schon hochsensibel.

Der Erziehungsstil gepaart mit dieser Sensibilität ist für eine gesunde Entwicklung des Egos nicht förderlich.

Es fehlte mir an Selbstvertrauen und Stärke. Ich wurde oft gemobbt… hatte aber auch immer wieder Freunde. Mit Jungs war ich lieber befreundet als mit Mädchen. Als ich in die Pubertät kam, änderte sich diese Art von Freundschaften.

Mein übermäßiger Wunsch nach Harmonie und Liebe, so wie ich ihn in der Beziehung meiner Eltern sah, führte mich dazu, mich immer wieder auf wechselnde Partnerschaften einzulassen, wovon keine meinen eigentlichen Wunsch nach Geborgenheit befriedigen konnte.

Eines Tages befand ich mich mal wieder in einer solchen Beziehung, mein Vater war begeistert von dem jungen Mann und ich hatte recht viele Freiheiten, die ich sonst nicht bekam.

Ich war jedoch in jemand anderen verliebt. Dieser Junge sollte auch später meine erste große Liebe werden und die erste längere Beziehung in meinem Leben sein.

Da ich ihn liebte, hatte ich für mich beschlossen, einen guten Moment für die Trennung abzupassen und bis dahin eben auch nicht mehr mit meinem Noch-Freund zu schlafen. Unsere Eltern waren befreundet, es sollte alles gar nicht so leicht werden. Ich musste also diplomatisch handeln.

Wir fuhren in eine Diskothek und betranken uns. Auf dem Nachhauseweg im Auto auf der Rückbank wehrte ich seine Annäherungsversuche ständig ab. Es verwirrte ihn, aber er liest auch nicht locker. Meine Eltern waren verreist. Als wir bei ihm zu Hause ankamen, wo ich schlafen sollte, wurde es immer schwieriger ihm auszuweichen.

Ich erklärte ihm, dass ich nicht in der Stimmung sei und nicht wollen würde. Wir lagen in seinem Zimmer im Bett. Ich war betrunken, hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich einen anderen liebte und wollte einfach in Ruhe gelassen werden und schlafen. Es sollte nicht funktionieren.

Ich weiß nicht wie oft ich gesagt habe „NEIN ich will nicht!“… meine Stimme wurde immer leiser und irgendwann schloss ich die Augen und ließ es einfach über mich ergehen.

Ich war damals 17… ich weinte mich still in den Schlaf. Als ich aufwachte, war er nicht da. Ich packte meine Sachen und verschwand.

Ab diesem Tag war Sex nie wieder eine Sache der Liebe zwischen Frau und Mann für mich.

Ich hörte nicht auf, mit Männern zu schlafen.
Im Gegenteil. In meinem Kopf war das größte Gut, was der Akt von innigster Zuneigung sein sollte, zu einer Sache, die allein der Triebbefriedigung diente, geworden.

Es sollte noch einmal schlimmer werden.

Als ich 2 Jahre später nach dem Abitur von zu Hause auszog, kam ich zu einem Mann, der mich manipulativ derartig beherrschte, dass ich Dinge mit mir tun ließ, die ich einfach niemandem wünsche. Ich kann hier nicht ins Detail gehen. Die Abgründe dessen, was dort mit mir geschah, waren einfach zu tief. Ich bin auch damals nicht ohne fremde Hilfe da rausgekommen.

Ich habe lange Zeit danach erst mit Alkohol, dann mit Drogen versucht, das zu vergessen.

Und es gelang schließlich auch: Ein paar Jahre lang brauchte ich das Vergessen.

Dann wurde ich eines Morgens wach und wusste, dass es vorbei ist.

Ich hörte von einem auf den anderen Tag damit auf und baute mir ein neues Leben auf. 4 Jahre später lernte ich meinen Mann kennen, ich führe ein glückliches Leben. Wir haben eine wundervolle Tochter. Ich erziehe sie nicht autoritär. Ich lasse sie ihr Selbstvertrauen mit allen Facetten entdecken und entwickeln, damit sie niemals so schwach wird, wie ich es war.

Dennoch, ich bin behütet aufgewachsen, hatte eine tolle Kindheit, eine wundervolle Familie, die vielleicht den ein oder anderen Fehler gemacht hat.

Aber das tun wir alle, denn wir alle erziehen unsere Kinder nur nach bestem Wissen und Gewissen.

Was ist, wenn auch das, was ich heute tue, nicht ausreicht?

Was kann ich nur tun, damit es meiner Tochter nicht so ergeht wie mir. Wie soll ich sie nur beschützen, vor den Dingen, auf die man keinen Einfluss hat. Wie soll ich ihr helfen, ohne sie in ihrer natürlichen pubertären Entwicklung einzuschränken?

Sie wird irgendwann in einem Alter sein, wo sie bei ihren Freundinnen übernachtet. Wenn sie wird wie ich, wird sie in solchen Nächten vielleicht heimlich bei irgendwelchen Jungs übernachten, die Dinge mit ihr tun könnten, sie nicht will.

Natürlich kann ich ihr anbieten, immer da zu sein und dass sie mir alles anvertrauen kann, ohne Angst zu haben. Aber am liebsten würde ich etwas tun können, damit so etwas erst gar nicht passiert. Ich weiß nur einfach überhaupt nicht was.

Solche Dinge passieren doch nicht allen Mädchen. Was unterscheidet diese Mädchen von mir?

Mein Vater hätte sicher gesagt: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Doch ist es wirklich so einfach?
Ich glaube, nicht.

Was meint ihr?

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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