„Bei mir war es mein Cousin.“ – Gastbeitrag über Kindesmissbrauch (durch ein anderes Kind) und wie eine Therapie jetzt hilft


„Hallo Bea. Ich habe den Missbrauchsartikel gelesen und möchte anonym auch meine Erfahrungen teilen.“ – schreibt eine Mutter und hier ist ihre Geschichte – und was ihr geholfen hat.

*Damit auch eine Triggerwarnung – letztlich geht es um Kindesmissbrauch*

Bei mir war es mein Cousin.

Er ist im gleichen Alter wie ich. Wann es angefangen hat, weiß ich gar nicht.

Unsere Mütter sind Schwestern und haben ein sehr enges Verhältnis. So haben wir dann auch immer viel Zeit mit der Familie verbracht, trotz dem, dass wir in verschiedenen Städten wohnten. Wir haben Wochenenden, aber auch jedes Jahr Sommerurlaube gemeinsam verbracht.

Es war von Anfang an so, dass die älteren Kinder in einem Zimmer geschlafen haben, die jüngeren in einem anderen Zimmer. Grob kann ich mich erinnern, dass es mit Kuscheln und Küssen begann. Irgendwann dann intime Berührungen. Das war schon in der Grundschule so. Und steigerte sich mit den Jahren.

Ab dem Zeitpunkt, ab welchem ich das für mich als „das ist nicht in Ordnung“ befunden habe, habe ich versucht, mich innerlich zu wehren.

Jedes Mal, wenn wir gefahren sind, habe ich mir fest versprochen, dass das NIE wieder passiert. Und doch passierte es erneut. Ich bin zu ihm ins Bett gegangen, weil ich von ihm Zuneigung, Aufmerksamkeit und Nähe bekommen habe. Und jedes Mal habe ich mich geschämt. Denn irgendwann war auch sehr klar, dass das, was wir da machen, falsch ist.

Er hat oft gesagt, dass unsere Eltern das nicht mitbekommen dürfen.

Wir sollten tagsüber so tun, als würden wir uns nicht ausstehen können, damit niemand Verdacht schöpft. Er hat mir Softpornos gezeigt und von irgendwoher auch pornographische Zeitschriften und Geschichten in Büchern aufgetrieben und mir gegeben. Er hat mir gezeigt, „was Erwachsene machen“.

Als ich älter wurde, in die Pubertät kam, hat er irgendwann versucht mich zu penetrieren. Das war das erste Mal. In diesem Zeitraum setzte bei mir auch die Periode ein und ich wusste, dass ich ab da schwanger werden könnte. Diese Angst war größer als die vor dem Verlust von Aufmerksamkeit und Zuneigung. Ab da habe ich es meistens geschafft „Nein“ zu sagen und dabei zu bleiben.

Selbst als wir 16 waren und in den Urlaub gefahren sind, wurden wir in ein Zimmer gesteckt.

Er hat einen jüngeren Bruder, ich eine jüngere Schwester. Dennoch kam unseren Eltern nie der Gedanke, dass es irgendwann unpassend ist, die „Großen“ in ein Zimmer oder gar Bett zu stecken.

Mittlerweile ist das alles über 20 Jahre her.

Meinen Partnern gegenüber bin ich recht offen mit meiner Vergangenheit umgegangen. Ich hatte es für mich in die Kategorie „Doktorspiele“ oder „Kinder experimentieren“ gesteckt.

In jeder Beziehung blieb irgendwann die Sexualität auf der Strecke, weil ich plötzlich keine Lust mehr hatte.

Ich habe es immer darauf geschoben, dass in der Partnerschaft eh‘ die Luft/Lust raus war. Bis ich meinen jetzigen Mann kennengelernt habe. Auch da wollte ich recht plötzlich, nach einer gewissen Zeit, keinen Sex mehr. Und das, obwohl die Beziehung toll ist. Es fehlt mir nichts, ich bin unheimlich glücklich. Das hat mir zu denken gegeben. Küsse habe ich auch angefangen abzuwehren. Ich wollte wissen, warum. Daher habe ich mir eine Sexualtherapeutin gesucht. Pille hatte ich zuvor als Grund ausgeschlossen.

Ich habe die Therapie begonnen und finde sie toll. Innerhalb kurzer Zeit habe ich begriffen, dass ich tatsächlich missbraucht worden bin.

Nach wie vor fällt es mir schwer meinen Cousin als „Täter“ zu bezeichnen und mich als „Opfer“. Ich habe das nie so gesehen, weil er ja schließlich auch noch ein Kind war. Ich vermute, dass auch er Missbrauch erlebt hat. Nicht in der Familie, aber außerhalb. Doch das spielt für mich keine Rolle.

Ich beginne Muster zu erkennen. Mich selbst zu reflektieren. Wirklich zu begreifen, dass mir etwas Schlimmes über mehr als ein Jahrzehnt passiert ist.

Die Therapie bestreite ich mit meinem Mann und meiner besten Freundin als Rückhalt.

Beide sind so verständnisvoll, vor allem mein Mann. Er ist geduldig und gibt mir Zeit. Er hört mir zu und nimmt mich in den Arm. Er versteht, warum ich keinen Sex will und stellt deshalb unsere Beziehung nicht mehr infrage.

Meiner Familie, außer meiner Schwester, werde ich nichts erzählen, auch wenn es situativ verdammt schwer ist.

Vor allem, wenn meine Mutter lachend erzählt, dass es völlig normal ist/war, vor der anderen Familie nackt herumlaufen und dass die Kinder in einem Zimmer geschlafen haben. Oder dass ich mich mit meinem Cousin ja nie richtig gut verstanden habe. Hihihihihi.
Nein. Es ist, wie gesagt, verdammt schwer, da nicht aus der Hose zu fahren und allen meine Wut, meinen Frust und meine verletzte Seele beim Abendessen um die Ohren zu ballern.

Was würde es bringen? Es ist geschehen, und ich glaube tatsächlich, dass niemand je etwas mitbekommen hat. Warum auch?

Es sind unfassbare Dinge geschehen, die sie sich nicht vorstellen können. Es passt nicht in ihre Sicht der Welt, dass ein Kind einem anderen Kind so etwas antun könnte, geschweige denn innerhalb der Familie. Es ist ein bisschen wie mit Nichtgläubigen und Göttern. Nichtgläubige können sich nicht vorstellen, dass ein Gott existiert…

Den einzigen Vorwurf, den ich ihnen mache, ist, dass sie mir nie das Gefühl gegeben haben, mit Problemen, egal welcher Natur, zu ihnen kommen zu können.

Ich habe eher immer das Gefühl gehabt, nicht ernst genommen zu werden.
Ich bin auch einem guten Weg, mit tollen Menschen an meiner Seite und ich werde es mit deren Hilfe schaffen, meine Dämonen zu besiegen und endlich die Beziehung führen zu können, die mein Mann und ich und wünschen und verdient haben…

Ich glaube, dass so etwas häufig passiert und viele das erst mal nicht unter Missbrauch verbuchen und sich eine Schuld geben, weil sie selbst viele Situationen herbeigeführt haben. Sie sehen dabei nicht, dass sie manipuliert wurden. Das braucht dann eine außenstehende Person, um das klar zu sehen und die Schuld von den eigenen Schultern zu laden.

____

Vielen herzlichen Dank, liebe anonyme Gastschreiberin, dass du das so klar, ruhig und offen erzählst! <3

Seid bitte respektvoll und feinfühlig in den Kommentaren… und passt gut auf eure Kinder auf!

Liebe Grüße,

Béa

 

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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1 Kommentare

Anonyme 2
Antworten 19. Juli 2022

Liebe Anonyme, ich kann dich sehr gut verstehen. Mir erging es ähnlich .Es war auch mein Cousin und meine Großeltern (sie hatten 5 Mädchen und 3 Jungs) und lebten auf einen Bauernhof . Wir sind zusammen aufgewachsen und irgendwann kam er kuscheln ....er drückte sich an mich und ich spürte wie sein Penis hart wurde ....ich sollte ihn streicheln ....und von besuch zu besuch wurde es mehr. Irgendwann fand ich es an der Zeit es meiner Patentante zu erzählen. Sie winkte ab und sagte nur Och der hatte mich auch schon gefragt ob ich ihm mal meine Brüste zeigen könnte- er ist halt in der Pubertät. Kurz darauf sind wir umgezogen und es hatte dann aufgehört. Erzählt habe ich es bis jetzt nur meinem 1. Freund . Als mein Cousin dann heiratete war ich nicht unter den Gästen ,ich konnte es nicht.

Ich wünsche dir viel Kraft. Du bist nicht allein.

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