Vermeintliche Spätzünder „late talker“: Doch lieber handeln als Abwarten! Gastbeitrag von Carmen


Wir haben neulich einen Beitrag über Spätzünder publiziert, der eher zur Gelassenheit und Abwarten anregte. Auch, wenn bereits auch in diesem Artikel der Passus stand, dass im Zweifelsfall doch ein Mediziner oder ein Fachspezialist den Fall abklären sollte. Hier kommt eine sehr Gegenerfahrung – fundiert und sachkundig erzählt.

Carmen, Mutter von zwei Kindern, die in der Tat lieber Therapie statt Gelassenheit gebraucht hätten, hat diesen Gastbeitrag für uns geschrieben:

Vermeintliche Spätzünder „late talker“: Doch lieber handeln als Abwarten!

Liebe Béa,

wie auch schon bei der Mama mit dem Bericht zum Gentest geht es dabei um die vermeintlichen „Spätzünder“ und den Schutz meiner eigenen Kinder.

Ich schreibe übrigens bewusst VERMEINTLICHe Spätzünder. Denn wie viele Kommentare unter eurem Post zeigen, gibt es sie natürlich auch, die Spätzünder oder wie es fachlich im Fall der Sprache korrekt heißt, die „late talker“ (Kinder, die spät sprechen – Anm. d. Redaktion). Aber eben nicht jedes als „late talker“ abgetanes Kind kommt am Ende auch tatsächlich von allein ins Sprechen. Es gibt eben auf der anderen Seite nicht wenige, wo tatsächlich organische oder psychosomatische Ursachen vorliegen. Und das gehört auf jeden Fall abgeklärt, ehe man dem Kind einfach Zeit lässt.

Denn das Fenster zum Spracherwerb schließt sich eben leider tatsächlich. Und in solchen Fällen werden ohne richtige (!) Therapie leider viele Entwicklungsmöglichkeiten verschenkt.

Bei manchen Kind sind es, wie in anderen Kommentaren erwähnt schlicht Probleme mit dem peripheren Hören, die das Sprechen behindern. Da können im einfachsten Fall schon Paukenröhrchen Abhilfe schaffen, manche benötigen tatsächlich Hörgeräte. Und das in diesen Fällen tatsächlich so früh wie möglich.

Es kann aber auch vorkommen, wie bei meinen Kindern, dass das periphere Hören komplett unauffällig ist, die Kinder über eine sogar überdurchschnittlichen passiven Wortschatz verfügen und trotzdem eine expressive Sprachentwicklungsstörung vorliegt, die sich nicht von selber löst. und da hilft dann auch kein gemeinsames Singen, kein regelmäßiges Vorlesen und miteinander Sprechen. Da ist die richtige Therapie notwendig.

Hier ist unsere Geschichte von Anfang an.

Unserer großes Kind ist schon in der Krippe als kognitiv fittes Kind aufgefallen, das auch über einen großen passiven Wortschatz verfügt. Auch aktiv war der Wortschatz durchaus beachtlich und es legte auch eine rege Sprechfreude an den Tag. Nur: Selbst wir Eltern haben maximal 20% von dem Gesagten auch wirklich verstanden. Es wurde einfach kaum ein Laut wirklich richtig ausgesprochen, es gab Verschluckungen, Vertauschungen, das komplette Programm. Das gekoppelt mit Null Störungsbewusstsein, so dass einem der gleiche Satz gefühlt 100x an den Kopf geworfen wurde, immer im gleichen Wortlaut und der gleichbleibenden Betonung.

Nun, der Kinderarzt meinte „late talker“…

Er sagte, solange diese Sprechfreude vorhanden ist, bräuchte man sich keine Sorgen machen, spätestens im Kindergarten würde sich das Kind schon das richtige Sprechen schon von den älteren Kindern abschauen. Pustekuchen. Gar nichts änderte sich.

Später in der logopädischen Praxis schlug man die Hände über dem Kopf zusammen

Also stellten wir es mit 3,5 Jahren von uns aus in einer Frühförderstelle zur logopädischen Testung vor. Da wurden fast schon die Hände über’m Kopf zusammengeschlagen, warum wir jetzt erst kommen. Mühsam wurde über die kommenden Jahre die korrekte Lautdifferenzierung geübt. In der 1:1 Situation klappte es dann auch zusehends besser. Nur die Übertragung in die Spontansprache funktionierte einfach gar nicht. Als dann auch die Therapeuten mehr oder weniger mit ihrem Latein am Ende waren, wir hatten das Kind sogar nur wegen der Sprache von der Einschulung zurückstellen liesen, stießen wir aus Eigeninitative auf die Möglichkeit einer Sprachheilreha.

Schließlich wurde dann mit 6,5 J zum ersten Mal auch die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache im Gehirn getestet.

Und tatsächlich, hier lagen die Ursachen. Es gab Probleme beim Herausfiltern wichtiger Informationen aus Störschallgeräuschen (da reicht schon Stimmengewirr im Zimmer mit mehreren Personen) und bei der Gedächtnisspanne für über das Gehör aufgenommene Informationen.

Mit diesen Informationen wurde die Therapie und auch unser Umgang mit dem Kind angepasst.

Wir achten extremst auf Blickkontakt, das sie sich viele Informationen zum gesprochenen zusätzlich visuell über das Mundbild holt. Es wurde ein fester Platz in der Schule in der ersten Reihe etabliert, um Störgeräusche zu minimieren. So wurde es dann zusehends besser. Aber wir haben immer noch mit Verschluckungen, Lautverschiebungen und Dysgrammatismus zu kämpfen.

Wir haben schon ein gutes Stück des Weges geschafft, es liegt auch noch einiges vor uns. Aber wenn wir darauf vertraut hätten, dass es sich wie vom Kinderarzt postuliert mit der Zeit schon verwächst, würde sie noch heute kaum jemand verstehen.

Beim zweiten Kind ist es ähnlich und doch ganz verschieden.

Früh hörten wir die ersten wirklich klar gesprochenen Worte, aber alle immer nur ein einziges Mal. Stellenweise waren sogar mit 2 Jahren schon Mehrwortsätze klar und deutlich dabei. Aber nichts kam auch nur ein einziges Mal nochmal. Meist verstummte das Kind danach sogar regelrecht für einige Tage.

Gerade wegen der doch vorhandenen klaren Aussprache dachten wir auch lang, dass ist halt ein Kind, das erstmal beobachtet und uns dann direkt mit perfekten Mehrwortsätzen überrascht.

Nur, der Wortschatz wurde einfach nicht größer, was kam wurde gleichzeitig zunehmend undeutlich. Und es entstand schon früh ein Störungsbewusstsein, dass sich zum Beispiel darin zeigte, dass Dinge, die wir nicht beim ersten mal verstanden, im nächsten Versuch umschrieben oder mit anderen Worten ausgerückt wurde. Meist auch mit nur mäßigem Erfolg. Wie man daran merkt, war auch hier der passive Wortschatz mindestens altersgerecht, wenn nicht sogar etwas weiter entwickelt. Auch das periphere Hören war komplett unauffällig. Und so stand auch hier bald „late talker“ im U-Heft.

Die Beschwichtigungen vom Kinderarzt tat ich mir schon gar nicht mehr an.

Stattdessen fragte ich die Logopädin des ersten kindes, die ja das zweite von den Bring- und Abholsituationen auch kannte um eine Einschätzung. Es erfolgte eine ausführliche Testung mit knapp 3 und bald darauf der Beginn der Therapien. Hier ging es damals erstmal primär um die Förderung und Schulung der Mundmuskulatur, allerdings mit ehr nicht vorhandenem Erfolg.

Parallel dazu zeigten sich nun auch zunehmend die Auswirkungen des Störungsbewussteins im Alltag, da Kind 2 im Kindergarten die Kommunikation in Anwesenheit anderer Kinder komplett verweigerte und gegenüber den Erziehern in den 2-Satz-Gebrauch zurück fiel. Nur uns Eltern gegenüber versuchte sie sich weiterhin in längeren Ausführungen.

Erst mit dem Wechsel des Therapeuten zu einer Logopädin, die Kenntnisse im Bereich der verbalen Entwicklungsdyspraxie (VED) hatte, tat sich dann was.

Der Therapieansatz wurde entsprechend der Einschränkungen geändert. Sämtliche anzubahnenden Laute wurden nun durch eine Handgeste unterstützt. Diese erleichtert den betroffenen Kindern die Planungshandlung für den Abruf der korrekten Bereiche der Mund-/ Gaumen- und Zungenmuskulatur für einen Laut. Bei einer VED ist nämlich die Handlungsplanung eingeschränkt. Man kann es sich ähnlich wie bei Schlaganfallpatienten vorstellen, die erst wieder mühsam das Sprechen lernen müssen, weil die Leitungen zwischen Gehirn und Mund gestört sind. Bei VED Kindern sind sie eben nie richtig entwickelt worden und müssen nun im Nachgang über die Logopädie aufgebaut werden.

Die Verdachtsdiagnose der Logopädin wurde in der Sprachheilreha, zu der wir Kind 2 gleich mitgenommen haben, dann bestätigt.

Der Therapieturnus wurde verdichtet und es zeigen sich langsam Ansätze einer Automatisierung. Auch hier war aber eine Schulrückstellung allein auf Grund der Sprache notwendig. Wir sind aber zuversichtlich, dass das zusätzliche Jahr, die notwendige Zeit für den Besuch der örtlichen kleinen Regelschule verschafft. Falls doch nicht, wird es Alternativen geben.

Der Kinderarzt, schaute mich übrigens mit großen Augen an, als ich erstmals meinte, Kind 2 hat übrigens eine verbale Entwickungsdyspraxie. Diese Sprachentwicklungsstörung ist einfach kaum bekannt. Aber gerade hier, ist es wichtig frühzeitig und dicht zu therapieren.

Sprachheilrehaplätze sind übrigens mittlerweile auf bis zu 14 Monate ausgebucht.

Das zeigt den wahnsinnigen Bedarf. Und es sind sicher nicht alles Spätzünder, die man dort antrifft. In der Regel landen dort Kinder kurz vor oder mittlerweile nach der Einschulung, die schon viele Jahre an mehr oder weniger erfolgloser heimischer Logopädie hinter sich haben. Also mitnichten Kinder von Helikoptereltern, die ein Problem damit haben, dass ihr Kind mit 6 noch leicht lispelt. Und ja, es finden sich auch Kinder mit hohem Medienkonsum und Eltern mit eingeschränkter Sozialkompetenz. Aber der größte Teil sieht nicht mehr fern, als das Sandmännchen, bekommt vorgelesen und vorgesungen und hat positive Sprachvorbilder.

Von daher mein Appell bzw. meine Bitte an euch Probleme vieler Kinder nicht als „Spätzündung“ zu verharmlosen.

Vielleicht könnt ihr unter den entsprechenden Artikel zumindest den redaktionellen Vermerk zu setzen, dass es natürlich Spätentwickler (es ist ja nicht nur der Bereich der Sprache, sondern z.B. auch die Motorik) gibt. Wenn sich Eltern aber mit der Entwicklung des eigenen Kindes unsicher sind, sollen sie sich nicht scheuen Rat einzuholen. Und im Zweifel auch einmal eine zweite Meinung. Hier sind erfahrungsgemäß auch ehr die entsprechenden Therapeuten wie Logopäden, Ergotherapeuten oder Physiotherapeuten die passenderen Ansprechpartner, als mancher Kinderarzt.

Ein problematischer Spracherwerb kann nämlich direkte Auswirkung auf den Schrifterwerb haben.

Die Entwicklung von LRS und Dysgrammatismus ist prozentual deutlich höher. Dazu kommt, dass sich Kinder mit entsprechendem Störungsbewusstsein in der Schule extremst zurücknehmen, um nicht durch ihre Aussprache aufzufallen. Das wiederum hat Einfluss auf die Außenwirkung bis hin zur Benotung. Und viele Kinder mit Wahrnehmungsstörung oder Dyspraxie wird leider noch immer als nicht „regelbeschulbar“ eingeschätzt. Entsprechend problematisch kann die spätere Berufstätigkeit sein. Dabei gibt es mittlerweile auch genug Beispiele, wo auch und insbesondere diese Kinder durch entsprechende Anerkennung ihrer Krankheit und der entsprechenden Förderung, ggf gekoppelt mit einem Nachteilsausgleich als Erwachsene erfolgreich in allen Berufsfeldern durchstarten können. aber das funktioniert nicht, wenn die Eltern zu lange zu schauen und auf die Meinung von außen vertrauen, dass sich das schon verwächst.

In diesem Sinne liebe Grüße und danke fürs Lesen
Carmen

P.S. Viele der Kommentare unter eurem Artikel ließen mich und andere betroffene Eltern übrigens direkt an selektiven Mutismus denken. Hier zu verharmlosen kann im späteren Verlauf für die Kinder auch gravierende Folgen haben.

Titelbild: Alireza Attari on Unsplash

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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