Die Diagnose Autismus verändert euer Kind nicht. Es ist weiterhin euer Baby! – Gastbeitrag


Ihr habt schon viel über die Diagnose Autismus bei Kindern gehört? Ihr habt vielleicht Angst davor, dass dies auch auf euer Kind zutreffen könnte? Wir haben einen grandiosen Gastbeitrag einer Mutter dazu bekommen. Wir haben selbst still und ehrfürchtig gelesen und sind dankbar, dass sie uns auserwählt hat, dies zu veröffentlichen:

Hallo, ich bin Mutter eines Autisten.
Nicht irgendeines Autisten, sondern meines Autisten.

Für viele klingt die Diagnose Autismus nach, „eine Mutter hat keine Lust ihr Kind zu erziehen“, nach Modediagnose oder „früher waren die Kinder einfach mehr draußen“. Euch sei gesagt, von 10.000 Menschen fallen 116 in das Autismus-Spektrum. Das sind 1,16%.

Wenn ihr also 100 Menschen kennt, kennt ihr, statistisch gesehen, einen Autisten.
Plötzlich sind das gar nicht mehr so viele.

Für Andere klingt die Diagnose Autismus nach einem unkontrollierten schreienden und schlagendem Wutanfall auf Beinen, nach Kindern die wild um sich schlagen sobald man sie berührt und sonst da sitzen und die weise Wand anstarren oder nach Menschen, die nur rechnen können und sonst nichts.

Das Autismusspektrum umfasst allerdings alle Arten, Formen und Ausprägungen von Autismus. Der eine Autist könnte also ein komplett angepasster, unauffälliger atypischer Autist sein, der nonverbale Typ Rain Man oder der einfach etwas andere Typ Lisbeth Salander (Anm. der Redaktion: Charakter in der Millenium Trilogie von Stieg Larsson).

Ja, es gibt die nonverbalen Autisten, die nie lernen werden ihre Stimme zur Kommunikation zu gebrauchen, ja es gibt Autisten, die bei der kleinsten Berührung durchdrehen und natürlich gibt es auch Autisten, die nur über eingeschränkte geistige Fertigkeiten verfügen. Die gibt es aber unter NT-Menschen auch. Achja, NT-ler, das sind wir, wir „Normalos“. NT heißt nichts anderes als „Neurotypisch“. Der Ausdruck kommt ursprünglich von den AD(H)S-lern, passt aber im Zusammenhang mit Autismus auch ganz hervorragend.

Das größte Problem für Eltern, die gesagt bekommen, sie haben einen Autisten, ist aber ein anderes: Jeder Autist ist einzigartig.

Klar, es gibt ein paar Gemeinsamkeiten. Da die Autismusspektrumstörung schon per Definition eine Reizfilterschwäche ist, ist es klar, das Autisten auf äußere Reize anders reagieren als NT-ler. Ja, das war es dann aber auch.

Manche Kinder hören alle Geräusche gleichzeitig und auch jedes einzelne Geräusch exakt so laut, wie es ist. Dann zwitschert ein Vogel, ein Hund bellt, ein Auto fährt vorbei und Mutti sagt etwas. Das Kind hört zwar alles gleichzeitig, wird aber nur mit viel Anstrengung heraushören können, was die Mutter von ihm wollte.
Bei anderen Kindern funktioniert der Filter zu gut und sie blenden alle Geräusche soweit wie möglich aus. Auch für diese Kinder ist es schwer, mitzubekommen, das sie angesprochen wurden. Der Effekt ist der Gleiche und der Frust der Eltern auch.

Zu diesem Übermaß an Geräuschen kommt dann noch ein buntes, oft grelles Bild von der Welt. Jede Einzelheit wird wahrgenommen und jedes noch so kleine Bild drängt ins Gehirn. Da dann herauszufiltern, welche Bilder wichtig sind, wie das heranfahrende Auto, und welche Vernachlässigt werden können, wie der Marienkäfer auf dem Grashalm, ist echte Schwerstarbeit. Hochfunktionale Autisten lernen irgendwann gewisse Automatismen, mit denen das Gehirn solche Entscheidungen weitestgehend alleine treffen kann. Aber nicht jeder Autist ist Hochfunktional.

Dazu kommen dann noch sämtliche sensorische Eindrücke, der Wind im Gesicht, der Stoff auf der Haut, vielleicht noch das Kitzeln einer Fliege.

Wenn dann noch plötzlich und unangekündigt eine Hand kommt, mit einer anderen Körpertemperatur, einer andere Hautstruktur, einem nicht einschätzbaren Druck, dann ist das oft zu viel. Dann kommt der Kurzschluss, auch genannt Overload.

Woher ich das so genau weiß? Erstens habe ich Tage, an denen es mir ganz genauso geht und zweitens habe ich einen Hochfunktionalen Autisten mit einem sehr umfangreichen Wortschatz und oft einem ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis. Wobei, die meisten beschreiben ihn eher als Wortkarg, Schweigsam, aber er kann und wenn er anfängt, hört er so schnell nicht auf.

Nun war es nicht gerade so, dass das Kind auf die Welt kam, der Arzt ihn anschaute und sagte, das ist ein Autist.

Nein, er war einfach nur ein kerngesundes Baby. Solange er nur mit mir und der Familie zu tun hatte, war er auch weiter einfach nur ein Kind, aber spätestens im Kindergarten kommen ja dann Menschen dazu, die ihn nicht von Geburt an kennen. Dort ist dann auch aufgefallen, das er anders ist. Was dann folgte war ein Ärzte-Marathon über 8 lange Jahre, mit Diagnosen und Aussagen, die einem keiner glaubt, der nicht selbst ein Kind mit Sonderbedarf hat und diesen Spießrutenlauf mitgemacht hat.

Kurz gesagt, es war alles dabei. Von „schlecht erzogen“ bis „müsste ADHS sein“.
Das Einzige, was nicht dabei war, war eine Diagnose die wirklich gepasst hätte.

Wir Zuhause hatten unseren Weg schon sehr lange gefunden und für mich war nie etwas besonderes dabei. Ja, er hatte schon früh ein gewisses Händchen für Technik und er konnte innerhalb kürzester Zeit sämtliche Dinosaurier ihrer eigenen Zeit zuordnen und hielt ausgiebige Vorträge über die Stammbäume diverser Raubsaurier. Er lernte mit 8 Jahren innerhalb einer Viertelstunde in der Badewanne das Prozentrechnen und vergaß alles was man ihm gesagt hatte innerhalb von drei Sekunden. Wenn ich etwas von ihm wollte sprach ich ihn mit Namen an oder tippte ihm kurz auf die Schulter und das er eben auch manchmal Zeit für sich benötigte, war für mich jetzt weder ein Problem noch besonders ungewöhnlich.

Er zeigte auch nie die Probleme, mit denen so viele andere Autisteneltern zu kämpfen haben. Er hatte nie ein Problem damit, das ich ihn Sonntags ins Auto setzte und wir unterwegs entschieden, worauf wir heute Lust haben. Ein Museumsbesuch? Kein Problem. Ein Ausflug in eine der wunderschönen Höhlen der fränkischen Schweiz? Mit Spaß und Begeisterung haben wir uns durch die engsten Löcher gezwängt und sind, bewaffnet mit Taschenlampen, dem Höhlenführer durch die Finsternis gefolgt. Ein Tag im Zoo war genauso wenig ein Problem wie ein Ausflug zu einer Burg.

Mit einer gewissen Menge an Menschen ist zu rechnen und damit kommt er auch prima klar. Menschenmassen mag ich selbst nicht. Selbst als sein Vater und ich uns trennten und Junior mit dem Zug zwischen uns hin und her gefahren ist, hat er das so gut gemeistert, wie viele Erwachsene das nicht hinbekommen. Aber es gab ja immer noch die Pädagogen und immer noch sollte er funktionieren, innerhalb der vom Kultusministerium vorgegebenen Richtlinien funktionieren.

Dank zweier engagierter Mathelehrer kamen wir der Diagnose Autismus langsam näher und landeten schlussendlich sogar mit Vorzugstermin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Testung auf Autismus.

Und da war sie, die Diagnose die alles erklärte. Die Diagnose ohne aber, ohne hätte/müsste/könnte. Hochfunktionaler frühkindlicher Autist mit einem mörderischen IQ. Da bekam ich übrigens den Satz, der mir am meisten nachhängt

„Hätten Sie nicht so viel mit ihm geübt, wie man sich anderen Menschen gegenüber verhält, hätten Sie sich viele Jahre Ärzte-Marathon ersparen können.“

Der Satz war freundlich gemeint, weil ich ja gefragt hatte, warum da bisher noch keiner drauf gekommen ist, aber angefühlt hat es sich wie ein Schlag in die Magengrube.

Ja, und nun? Sollten wir ihn plötzlich behandeln, wie es für Autisten empfohlen wird?

Mit strengsten Tagesablaufregeln, sozialem Kompetenztraining und umstellen des ganzen Lebens? Wir haben geredet, reden konnten wir ja immer gut miteinander. Starre Tagesablaufregeln gibt es bis heute nicht. Papa hat verstanden, das er mit Junior gerne in den Tierpark gehen kann oder prima mit ihm zusammen zocken kann, Junior sich aber weigern wird, mit Papa aufs Volksfest zu gehen. Menschenmassen fallen einfach aus. Auch sonst hat sich im Umgang Zuhause sehr wenig geändert. Ich glaube, für uns Familie ist er eben immer noch einfach er selbst. So wie er es immer schon war. Für die Schule war es gut. Jetzt dürfen die Lehrer auf seine Besonderheiten Rücksicht nehmen. Einige Jahre hatte er auch einen Schulbegleiter. Inzwischen benötigt er ihn aber nicht mehr.

Am dankbarsten bin ich der Kirche.

Bitte nicht falsch verstehen, ich bin zwar ein gläubiger Mensch, ich bin nur mit den Meisten vom Bodenpersonal nicht so wirklich glücklich. Aber mein Autist hat in der Kirche seinen Platz gefunden. Dort wird er einfach angenommen wie er ist. Dort darf er als Konfibegleiter Verantwortung übernehmen und erfährt echte Freundschaft und Dankbarkeit für seine Anwesenheit. Er glaubt zwar auch nicht wirklich an die Kirchen, aber er glaubt an seine Kirchengruppe.

Jetzt wird er bald volljährig. Ich werde gefragt, ob ich Angst davor habe, wie er als Erwachsener zurecht kommen soll.

Nein, ich habe keine Angst. Er ist zwar ein wenig hinterher was seine Schul- und Ausbildung angeht, aber ich denke, wir haben es geschafft, ihm das nötige Rüstzeug für ein Selbstbestimmtes Leben mitzugeben.

Allen Eltern die vor der Diagnose Autismus bei ihrem Kind stehen möchte ich sagen, es ist auch nach der Diagnose das gleiche Kind wie vorher. Manche Eigenheiten bekommen durch die Diagnose einen Namen, was sehr gut ist, und mit genügend Hartnäckigkeit bekommt man mit der Diagnose auch Hilfe für die Schule, für Therapien und alles was sonst noch nötig sein könnte, das ist noch besser. Aber:

Die Diagnose verändert das Kind nicht. Es ist weiterhin euer Baby, mit all seinen Schwächen und vor allem mit all seinen Stärken.

Es gibt nicht „den Autisten“. Es gibt Autisten die wunderbare Fotos machen, es gibt Autisten, die wunderschöne Musik erschaffen und es gibt die Rechenkünstler, wie meinen. Jeder Mensch hat mindestens eine ganz besondere Gabe. Bei Autisten ist diese meistens sogar ganz besonders ausgeprägt.

Ja, als Eltern braucht man gute Nerven, aber es ist das alles wert.

Am Schluss möchte ich noch eine Frage weitergeben, über die ich mit meinem Autisten seit dem Kindergarteneintritt diskutiere:

Wer bestimmt eigentlich, was normal ist? Sind wir nicht alle individuell und einzigartig?

Liebe Grüße
von einer stolzen Mama eines Autisten

P.S. Liebe stolze Mama deines wunderbaren Autisten, vielen lieben Dank für dieses Bericht, für deine Sicht aufs Leben und auf deine Kind!

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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1 Kommentare

Tine
Antworten 26. April 2019

Danke für diesen tollen Artikel! Mein Sohn hat mit großer Sicherheit auch Autismus, bisher hab ich mich aber strikt geweigert, dies endgültig diagnostizieren zu lassen (ich bin "vom Fach" und weiß, wovon ich rede und auch was ich tun kann... :-)), weil ich keine "Schublade" für ihn will. Ich bin sehr froh, dass manche Autismusformen nun endlich bis 2021 aus dem Bereich "Krankheit" herausgenommen werden und wieder als ganz normale Variante des menschlichen Seins gelten dürfen, wenn auch ein Hilfebedarf notwendig ist. Leider muss ich jetzt, im Übergang zur Klasse 5, doch eine gesicherte Diagnose stellen lassen, damit er angemessene Unterstützung in der Schule bekommen kann. Die Grundschule hat er mit einer tollen Lehrerin so hinbekommen. Danke an alle Super-Eltern, die sich für ihre Kinder so einsetzen, dass sie soziale und sehr mitmenschliche Wesen werden, auch unter ungünstigen Vorraussetzungen!

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