Von Nestling zu Frau Leben über ein Geheimnis und die Frage nach dem Orgas-Muss – Interview mit Kathrin


Wer ist „Frau Leben“? Vor einigen Jahren habe ich schon mal von Kathrin Szabo ein Interview gebracht, damals ging es vor allem um Kinder-Schlaf und ihre Haltung zu Schlaflern-Programmen. Inzwischen hat sich die in USA lebende Bloggerin und Autorin selbst über die Kinderthemen entwickelt und hat sich etwas ganz Großes vorgenommen:

Das Leben.

Ein zentrales Thema ihres neuen Blogs Frau Leben ist die – vor allem weibliche – Sexualität. Aber nicht nur.

Zum Entstehen ihres Blogs habe ich Kathrin interviewt, und ihre Antworten sind unglaublich spannend:

1.Von Nestling zu Frau Leben über ein Geheimnis: Woher kam dein Mut, dich der Wahrheit zu stellen und dann auch einen anderen Fokus fürs Bloggen zu suchen?

Der Leidensdruck wurde irgendwann so groß, dass ich zumindest in meiner Beziehung nicht anders konnte. Wir haben uns kurz vor meinem Geständnis so oft wegen Kleinigkeiten gestritten und das nur, weil ich dieses Geheimnis mit mir herumtrug, was mich innerlich zerfraß…

Ich habe meinem Ehemann Thomas viele Jahre lang Orgasmen vorgespielt – mir nicht getraut, ihm zu sagen, dass ich beim Sex nicht kommen kann. Nicht weil ich total scharf darauf war, die große Nummer im Bett zu spielen, nein. Ich dachte, mit mir stimmt was nicht. Dass ich die einzige Frau bin, bei der das nicht funktioniert. Denn ich hatte keine Vorbilder und das meiste „Wissen“ aus Film und Pornos, wo überall die gleiche Geschichte von der immer lustvollen und stets mit dem Partner gemeinsam kommenden Frau erzählt wird.

Eines Morgens wachte ich auf und ich wusste, dass ich ihm endlich die Wahrheit erzählen muss. Um mich von meinen selbstangelegten Fesseln zu befreien UND um unsere Beziehung wieder aufleben zu lassen:
Siehe auch Weibliche Sexualität: Meine wahre Geschichte. 

Als ich später so viel über weibliche Sexualität gelesen hatte und wie oft wir Frauen unsere wahren Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle unterdrücken, konnte ich nicht einfach weiter über bedürfnisorientierte Erziehung unserer Kinder schreiben. Für mich war es eine ganz natürliche Entwicklung den Fokus von den Kindern auf uns Mütter bzw. uns Frauen zu richten. Denn genau hier – bei unseren eigenen Baustellen – fängt meiner Meinung nach bedürfnisorientierte Elternschaft bzw. Familienleben an.

Wie sagte Liezel Graham so schön: „Every woman, who heals herself, heals her children’s children.”

2. Zu deiner Vergangenheit gehört auch eine Essstörung, richtig? Hast du sie überwunden? Woher kam sie?

Ja, das ist richtig. 2006 wurde ich mit Bulimie diagnostiziert. Zu dem Zeitpunkt steckte ich schon ca. 13 Jahre lang in der Sucht. Ich fand mein Elternhaus zum Kotzen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Es war Thomas, der mich zum Therapeuten geschickt hat. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, erwischte er mich und sagte: „Ich will, dass du damit aufhörst, denn ich kann nicht dabei zusehen, wie sich der Mensch, den ich liebe, kaputt macht.“ Das saß.

Die Therapie sortierte meinen Kopf, Thomas bewachte mich zu Hause wie ein Schießhund – was mich furchtbar nervte, mir gleichzeitig allerdings auch enorm half. Den letzten nötigen Stupser zum Ausstieg hat mir allerdings unsere Tochter verpasst.

2011 – in der Schwangerschaft mit ihr – hatte ich drei Rückfälle und mein Körper reagierte mit heftigsten Schwindelanfällen und Übelkeit. Ich dachte nur: „Was zum Teufel mache ich hier? Ich setze meine Beziehung, meinen Therapiefortschritt und das kleine Leben in mir aufs Spiel!“

Kinder verändern das Leben ihrer Eltern heißt es doch. Durch meine Tochter habe ich mein Leben überhaupt erst zurückgefunden.
Siehe auch: Mein Weg aus der Bulimie. 

3. Was ist in wenigen Sätzen deine Erkenntnis zum Orgas-MUSS?

Puh, wenige Sätze bei so einem komplexen Thema…

1. Ich muss gar nichts!
2. Ich darf bei diesem Thema Druck rausnehmen
3. Der Weg ist das Ziel, so abgedroschen es auch klingen mag…
4. Sex ist kein Rennen zu einem Ziel
5. Der Orgasmus ist kein Qualitätssiegel

4. Was sollten wir Jugendlichen, die gerade ihr Sexleben anfangen, am besten mitgeben?

Meiner Meinung nach sollten wir auch hier zuerst in unserem eigenen Beziehungs- und Sexleben aufräumen, damit wir ihnen vorleben können wie gesunde und aufrichtige Beziehungen funktionieren. Denn auch bei Jugendlichen gilt, dass sie in der Regel nicht machen, was wir ihnen sagen, sondern, dass sie uns stets beobachten und daraus ihre Schlüsse (und unbewussten Glaubenssätze) ziehen.

Davon abgesehen finde ich es gut und wichtig Kinder von klein auf, offen bei all ihren Fragen und Körpererkundungen zu begleiten. Ihnen von Beginn an, ein positives, unverklemmtes Körpergefühl zu vermitteln und sich wirklich die Zeit zu nehmen, intensiver in bestimmte Themen wie z.B. Menstruation einzutauchen. Und zwar nicht nur einmal, sondern regelmäßig, damit sie nicht nur lernen „Ah, meine Eltern hören mir zu, sie kann ich immer fragen!“, sondern dass es total normal ist, darüber zu reden.

All das macht es später leichter auf Pornos und ähnlich brisante Themen einzugehen. Es sei denn du willst, dass dein Nachwuchs durch Pornos aufgeklärt wird…

5. Was rätst du Frauen, die auch (mal) Orgasmen vorspielen?

Ich war sehr neugierig, warum Frauen spielen und habe neulich eine Umfrage mit über 1300 Frauen gemacht, von denen 63% schon mal einen Orgasmus vorgespielt haben. Aus drei Gründen:

1. Aus Angst zu langsam/ nicht ok zu sein
2. Damit es schnell vorbei ist (weil es keinen Spaß macht)
3. Damit sich der Mann gut / bestätigt fühlt

Ich fand ihre Antworten furchtbar traurig, weil sie deutlich zeigen, dass wir Frauen unser Sexleben eben nicht an unseren Bedürfnissen ausrichten und dem, was wir brauchen und uns gut tut.

Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern?

Spüre doch mal in dich hinein und frage dich: „Warum mache ich das? Tut mir das gut? Was will ich wirklich?“

Und dann beobachte, was für Antworten kommen…

6. Du hast geschrieben, du wünschst dir mehr Frauen-Kreise, die über solche Themen wie Sexualität reden… Wie sollen wir anfangen? Wie kann ich dir, wir als Tollabeas helfen?

Oh ich wünsche mir so sehr, dass Frauen anfangen offen, tief und ehrlich über Tabuthemen zu reden. Dazu gehört nicht nur die Sexualität, sondern alles, was uns bewegt und was wir normalerweise mit uns selbst ausmachen. Dinge zu benennen und aussprechen zu dürfen ist so heilsam. Auch für diejenigen, die zuhören, weil sie sich sehr oft in den Geschichten wieder erkennen.

Anfänge lassen sich ganz klein setzen – im aufrichtigen Austausch über bislang unausgesprochene Themen mit deinen liebsten Lieblingsmenschen zum Beispiel. Denn auch viele, kleine Wellen können große Bewegungen verursachen!

Ich persönlich freue mich allerdings auch immer, wenn Frauen mutig sind, ihre Geschichte öffentlich zu teilen zum Beispiel in meiner neuen Rubrik „Gastartikel“, in der Frauen (gerne auch anonym) demnächst zu Wort kommen dürfen. Und ich zeichne gerade Podcast-Interviews auf. Auch hier öffne ich die Türen weit für Gesprächspartner*innen, damit wir gemeinsam die Welt ein bisschen bunter, facettenreicher und ehrlicher gestalten.

Habt ihr Fragen zu diesem Thema? Welche Themen aus dem Leben, Sexualität inklusive, interessieren euch? Und wie steht ihr zur Frage Nr. 5?

Dazu ein Geständnis von mir: Ich habe das auch gemacht, einen Orgasmus vorgetäuscht. Mit 17 bis ca. 20. Und dabei kam ich dann richtig, überraschend. Sozusagen das „Fake it till you make it“. Und dann kam Harry & Sally in den Kinos, und sobald ich dann wieder ansetzte, bekam ich einen Lachflash. Dann habe ich es gelassen… aber dabei hatte ich entdeckt, wie das wirklich geht, was ich dazu brauche – und auch nicht. Vielleicht erzähle ich mal mehr bei Kathrin im Blog, als Gastbeitrag!

Liebe Grüße,

eure Béa – mit Kathrin von Frau Leben

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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