Das beste Opfer ist das schweigende: Mit Kindern offen über Sexualität reden!


Als wir den Tweet von Mamazweipunktnull.de der Facebook-Community gezeigt haben, herrschte große Aufregung. Eine ganz besondere Nachricht mit einer extremen Erfahrung zum Thema „Mit Kindern über Sexualität reden“ hat uns auch erreicht, und wir dürfen sie an euch weitergeben.

Achtung: Triggerwarnung für sexuell misshandelte Kinder oder Sektenopfer! Allerdings: Wie diese Mutter ihre Themen angeht ist mehr als empfehlenswert: Daher, wenn möglich, vielleicht doch lesen…

Die anonyme Mutter schreibt dazu:

Ich gehöre genau der Minderheit an, deren Eltern diesen Zettel nicht unterschrieben hätten.
Ich bin in einer fundamentalistischen bibeltreuen Sekte groß geworden (ähnlich den Zeugen Jehovas). Jegliche Körperlichkeit war bei uns mit Scham besetzt, es fand keine Aufklärung statt, es wurden Körperteile nicht benannt, es gab keine Nacktheit, wer sich selbst lustvoll berührte riskierte körperliche Züchtigung. Als es dann in der Schule Richtung Aufklärung ging, sorgten meine Eltern dafür, dass ich daran nicht teilnahm, was selbstverständlich gegen das Gesetz ist – man darf sein Kind dem Unterricht nicht fern halten.

Als Kind, das in einem solchen sexualfeindlichen Umfeld groß geworden ist, bin ich ein leichtes Opfer gewesen für Sexualstraftäter.

Ich hätte Taten niemals benennen können, und durch die Prüde meiner Eltern wären derlei Äußerungen direkt abgestraft worden. Genau, dieser Biologielehrer, der für den Aufklärungsunterricht verantwortlich war, hat in mir dann auch ein leichtes Opfer gesehen. Um sexualisierte Gewalt kommunizieren zu können, müssen Kinder die betreffenden Worte kennen, mit denen sie ihre Erfahrungen schildern können.

Das beste Opfer ist das Schweigende.

Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt in der Prävention, zum Schutz unserer Kinder. Was passiert wenn man das als Eltern verweigert? Ich wünsche mir für die Zukunft sehr sehr viel mehr Sensibilität von Seiten der Institutionen um genau bei solchen Verweigerern hellhörig zu werden, und sich die Kinder genauer anzuschauen. Das erfordert Zivilcourage, laut werden bei Verdacht! Schweigen hilft niemandem. Wir Opfer sexueller Gewalt haben keine Stimme – das Verbrechen findet im Verborgenen statt, es ist auf Verschwiegenheit, Verleugnung und bagatellisieren ausgelegt. Ich weiß auch nicht genau, wieso ich das jetzt hier schreibe, aber der Tweet hat soviel ausgelöst in mir. Die Opfer sexueller Gewalt sind mitten unter uns, und ebenso die Täter.

Ich sehe eine Zeugin Jehovas schreibt, dass „intime Dinge zuhause besprochen werden sollten“. GENAU wegen solcher Familienverhältnissen MUSS es die Schulpflicht geben!

Noch zur eigenen Geschichte:

Um den weltlichen Einflüssen des säkularen Deutschlands zu entkommen sind meine Eltern in ein abgelegenes Dorf in Ostafrika ausgewandert, dort wohnten ausschließlich Sektenmitglieder, und wir Kinder lernten nichts anderes kennen. Ich habe mit 19 angefangen mich zu distanzieren, Zweifel hatte ich schon lange, aber den Mut den „breiten Weg“ zu gehen… Ich hab es mit der Gefahr aufgenommen für immer in der Hölle zu brennen und habe mich von der Gemeinschaft distanziert. Von meinen Eltern erst sehr sehr viel später, da hatte ich selbst schon zwei Töchter. Auch heute kämpfe ich mit vielen Unwegsamkeiten…

Ich lebe mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung durch sexuelle Übergriffe, weil meine Familie den besten Nährboden dafür geschaffen hat.

Ich lebe mit Angststörungen, denn die Gehirnwäsche sitzt tief.  Von eben jener Struktur von der Religion lebt, nämlich: der Mensch ist schlecht, und kann nur durch Leistung, nur durch Leugnung seiner selbst, den Weg zu etwas Höherem finden. Oder: Das irdische Leben ist wertlos, gegen den Jubel, den wir im Himmel mit Jesus vereint erleben dürfen.

Es ist schwierig für mich, im Hier und Heute zu leben, mich Genuss hinzugeben, mich Lust hinzugeben, mich von dem Gedanken an Sünde frei zu machen und zu begreifen, dass DAS Leben ist. Dass das Leben ein Fest sein kann.

Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern, Gespräche sind nicht möglich. Für mich sind sie Gewaltverbrecher, die weder mir, noch meinen Kindern weiteren Schaden zufügen dürfen. Darin sehe ich meine Mutterpflicht. Ich muss meine Kinder schützen. Ich habe (bisher) weder meine Eltern, noch die Sexualstraftäter angezeigt, weil unser Rechtssystem ein opferfeindliches ist. Ich kann diesen Kampf nicht aufnehmen. Ich bin in der Beweispflicht, und der einzige Beweis den ich habe, bin ich selbst. Meine Angst, meine Erinnerungen, meine Alpträume, meine Psychosomatik, meine Abwesenheit, meine Kraft.

Was hilft?

Die Kommission für Aufarbeitung leistet gerade hervorragende Arbeit und ist eine gute Stimme für die Opfer: Sie erheben Daten, und setzen sich für eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung bei der Aufarbeitung ein.

Die PTBS Therapie ist vor allem im Militär sehr vorangetrieben worden. Das ist eine große Errungenschaft für uns Frauen. Ich habe sehr lange gebraucht um eine Therapeutin zu finden, der ich vertrauen kann, meine Antennen sind sehr fein ausgeprägt, nenn es Misstrauen, aber das war bisher ein notwendiges Werkzeug für mich.
Natürlich hilft mir meine  Trauma-Therapie, ich bekomme dort nützliches Werkzeug an die Hand um in den Stress-Situationen weder innerlich noch äußerlich völlig zusammenzubrechen.

Ich habe gute Freunde, die meine Geschichte kennen, manche kann ich mich mehr, anderen weniger anvertrauen.

Hirnphysiologisch ist Trauma heute gut erklärbar, und damit kann man gut arbeiten.

Ich habe eine wunderbare neue Familie kennengelernt, das ist das Highlight meiner letzten Jahre, ich wurde in eine Familie aufgenommen, die so ganz anders ist als meine.

Was hilft mir also? Wärme, Liebe, Verständnis, aber auch die moderne Traumaforschung, um meinem Gehirn einen Weg aus der Stress-Schleife zu bieten.

Die anonyme Mama

P.S. von Béa: Wir wünschen alle dieser Mutter, dass sie weiterhin so tapfer, reflektiert, klug und weise ihre Themen löst und sie ein glücklicher Mensch sein darf, der glückliche Menschen großzieht! Ihr wollt auch gute Schwingungen schicken? Hinterlasst bitte ein Kommentar, sie liest mit.

Liebe Grüße,
Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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9 Kommentare

Siddi
Antworten 30. Juni 2017

Hallo, ich wünsche dir viel Kraft und ein glückliches Leben.
Dein Text ist sehr ergreifend. Ich habe keine Ahnung weshalb aber ich hatte anfangs tatsächlich Probleme meinen Kindern sexualität näher zu bringen. Irgendwann habe ich mir dann gesagt -
ich habe ein Problem damit - nicht meine Kinder. Und damit es nicht zu ihrem Proble wird, muss ich die Sache für mich lösen. Und siehe da...mein Knopf ging auf. Dein Text bestärkt mich nur in meiner Entscheidung. DANKE ??

Anne Freitag
Antworten 1. Juli 2017

Das ist eine beeindruckende Geschichte und unfassbar zugleich.Ich bewundere den Mut aus dieser ganzen Misere auszubrechen, sich zu trauen den eigenen Weg zu gehen.Dafür mein größter Respekt, denn ich stelle es mir wirklich schwierig vor und ich glaube man braucht sehr viel Kraft dies alles zu bewältigen!! Umso mehr freut es mich, dass du eine Therapeutin gefunden hast, der du vertrauen kannst.Und auch andere Menschen die dir helfen und nicht schweigen.Du gehst jetzt deinen Weg und ich wünsche dir für dich und deine neue Familie alles erdenklich Gute!!!Liebe Grüße

Lina
Antworten 1. Juli 2017

Liebe anonyme Mutter,

Ich schicke Dir viel Kraft und wünsche Dir und Deiner Familie ein wundervolles glückliches Leben! Wie wichtig Deine Worte sind! Ich selbst bin in der Sowjetunion geboren, wo es "kein Sex gab". Das sagt man so bei uns, und es ist gemeint, darüber wurde nicht gesprochen! Aufklärungsunterricht gab es, in der postsowjetischer Zeit wohlgemerkt(!), viel zu spät. Die meisten in der Klasse waren längst reif für Geschlechtsverkehr und ein paar hatten bestimmt schon dir Erfahrung damit. Dabei saßen immer noch ein paar Einzelfälle, die an einem Storch glaubten.
Heute hat sich einiges positiv verändert. Dennoch gibt es bis heute Eltern, wie im Artikel beschrieben. Aber alleine dieser Blogbeitrag ist schon Gold Wert!

Danke.

Anja
Antworten 1. Juli 2017

Ich danke dir für deinen Text, der mich sehr berührt. Es ist unfassbar was mitten unter uns passiert. Was die Gesellschaft nicht sehen will?! Zivilcourage ist selten geworden. Ich freue mich mit dir, dass du Wege und eine neue Familie gefunden hast, die dir helfen!

Meine "Große" ist 2,5 Jahre. Sie weiß dass "Buben" eine Penis haben und Mädchen eine Scheide. Hier wird nichts umspielt... es beschäftigt sie, warum ihre Freunde von der Tagesmutter, der Papa und ihr kleiner Bruder einen Penis haben und sie nicht. Auch wenn sie es nicht begreifen kann, beantworte ich ihr jede ihrer Fragen immer und immer wieder. Und hoffe, dass sie natürlich mit Sexualität aufwachsen kann und Selbstbewusstsein entwickelt.
Weiterhin alles Gute,
Anja

Lily
Antworten 1. Juli 2017

Danke für deine sehr berührende und ehrliche Geschichte. Ein sehr wichtiges Thema, vor dem niemand die Augen verschließen sollte. Liebe Grüße, Lily

Maria Aichinger
Antworten 1. Juli 2017

Ich danke dir für diese Offenheit und Ehrlichkeit, sie muss dir viel Überwindung gekostet haben. Umso mehr meine Hochachtung fit dich, dass du es dich erzählt hast. Es braucht Menschen genau wie dich, du siehst was du bewirken kannst und redest! Angesichts dessen, dass ich mir kaum vorstellen kann, was dir alles widerfahren ist, ist meine Bewunderung für diesen Schritt schier grenzenlos. Es bestärkt mich darin, meinen Kindern zu sagen, wie alles heißt und mich schlau zu machen wie ich es erklären kann, bevor sie fragen wie das jetzt geht mit dem Baby im Bauch. Sprich: jetzt Buch suchen, Info finden usw.

Ich wünsche dir von Herzen dass du dran bleibst, dass du weitermachst, damit du Menschen wie mich bestärkst und andere aufmerksam machst, es besser zu machen. Und ich wünsche dir Glück, eine glückliche Familie, lebensfrohe Kinder mit einer strahlenden, selbstbewussten Mami. Alles alles Liebe!

Meike von Neonzwerge.de
Antworten 2. Juli 2017

Danke! Eine aufrüttelnder, brennender und gleichzetig so wichtiger Beitrag für ALLE Eltern und deren Kinder. Wenn wir Themen mit unseren Kindern (bewusst oder unbewusst) aussparen und vermeiden, dann werden wir nie, wirklich NIE eine gesellschaftliche Atmosphäre der Offenheit schaffen können. Weiter so - ich lese hier gerne!

Lexel
Antworten 2. November 2017

Meiner 3 Jährigen Tochter ist es passiert sie wurde von einer vertrauten Person im Intimbereich berührt.Sie hat so grosses Vertrauen dass sie mit mir ganz normal drüber geplaudert hat ohne wirklich zu wissen was passiert ist.Ich handelte zeigte an aber das Ende vom Lied in deinen Deutschland? Keine Beweise keine Straftat dass ist auch der Grund warum es noch immer so oft an kindern passiert was nützt es wenn das Kind etwas erzählt? Ohne Beweise ist es wertlos und der Täter lebt freudig weiter.

Tanja
Antworten 31. Juli 2020

Liebe "anonyme Mama"!
Ich danke Dir für diesen offenen Text, der so wichtige Perspektiven aufzeigt.
Deine Offenheit über das, was Du erleben musstest hat mich sehr berührt... und beeindruckt hat mich Deine Klarheit.
Ich selbst war an einer PTBS erkrankt und hatte fantastische Hilfe durch kompetente Ärztinnen/Ärzte und Therapeuten/innen. Ich bin dankbar, das Schlimmste überstanden zu haben. Doch es bleibt ein Teil meines Lebens... und wenn damals Kinder als Menschen gleichwürdiger ernst- und wertgeschätzt worden wären, hätte es nicht so schlimm kommen müssen.
Ich danke Dir für das Gefühl, nicht alleine zu sein und wünsche Dir von Herzen, dass Du die Angst auch überwindet... es ist möglich 💚
Alles Liebe und Gute von Tanja

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