Mit Mitte 30 habe ich also – psychisch gesehen – Laufen gelernt: Gastbeitrag von Luisa


/// Als erstes eine Triggerwarnung für Menschen, die in ihrer Kindheit vor allem psychische Gewalt und Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt haben.///

Ich habe hier einen beeindruckenden, bewegenden und ganz besonderen Gastbeitrag: Luisa erzählt uns, wie sie eine lieblose Mutter und einen narzisstischen Mann überwunden hat. Und im „überwunden“ steckt auch das Wort „Wunden“. Sie erzählt uns hier davon – und hoffentlich hilft das Erzählen und respektvolle Rückmeldungen von euch dazu, diese Wunden heilen zu können:

Ich wuchs als mittleres von drei Kindern (meine ältere Schwester Kerstin und mein jüngerer Bruder Robert) in einem kleinen Dorf auf. Ich frage mich bis heute, warum unsere Mutter überhaupt Kinder wollte. Wahrscheinlich, weil es „dazugehörte“.

Aus heutiger Sicht gesehen war unsere Mutter nicht in der Lage, ihre Kinder zu lieben.

Für sie gab es nichts Wichtigeres als sie selbst, ihren Ruf, ihre gesellschaftliche Stellung. Sie hat sehr deutliche narzisstische Züge, die sie in vollem Umfang an uns Kindern auslebte. Sätze wie „es ist schwer, dich zu lieben“ fielen, wenn auch selten. Häufiger war die nonverbale Variante.

Wenn wir ihre Erwartungen nicht erfüllten oder sie enttäuschten, wurden wir übel bestraft. Psychisch. Mit Ignoranz, Verachtung, Missachtung. Es reichte ein Blick von ihr und mir schoss die Panik durch den ganzen Körper. Ich konnte ihr ansehen, was ich falsch gemacht habe, was sie erwartet hätte. Ihre Mimik, ihre Körpersprache, ihre Gestik. Ich war darauf abgerichtet, das zu lesen.

Unser Vater war schwer depressiv, so lange ich zurückdenken kann. Er sah vieles nicht und was er sah, verdrängte er. Er ließ uns Kinder im Stich und zog sich immer mehr zurück.

Meine ältere Schwester Kerstin war das „schwarze Schaf“. Sie war in den Augen unserer Mutter schlicht „falsch“. Nicht das Kind, das sie sich gewünscht oder vorgestellt hätte. Kerstin musste einen Platz einnehmen, der nicht zu einem Kind passt. Sie war Prellbock und Partnerersatz für unsere Mutter. Ihre Geschichte will ich hier aber nicht erzählen, das ist zu gegebener Zeit ihre Aufgabe.

Ich sah und merkte, wie sehr meine Schwester ins Abseits gestellt wurde.

Also schaltete in mir alles auf Selbsterhalt.

Ich passte mich an, so gut es ging: Meine Mutter fand mein Lachen zu laut, also versuchte ich, leiser zu lachen.

Meine Mutter wandte sich gegen meine Schwester, also machte ich das auch.

Ich ließ mich zur Verbündeten machen, stolz darauf, dass ich in dem Punkt Anerkennung bekam. Und merkte nicht, wie groß der Schaden war, der in der Beziehung zu Kerstin angerichtet wurde. Wir kämpfen bis heute mit den Folgen.

Ich musste Höchstleistungen bringen, um zu gefallen. Dafür wurde ich ständig verglichen.

Mit den intelligentesten, fleißigsten, kreativsten, musikalischsten, sportlichsten Klassenkameraden. Jede Leistung – egal wie gut sie war – wurde mit „das hätte aber noch besser sein können“ kommentiert.

Ich war zu dick, zu faul, zu laut, zu anstrengend, zu fordernd. Ich war nie gut genug, habe nie gereicht. Es hat nie ausgereicht, mir ihre Liebe zu „verdienen“. Und wenn ich nicht funktionierte, drohte die Gefahr des Verlassenwerdens. Für ein Kind gleichbedeutend mit Todesangst. Und jede Empfindung in der Richtung wurde abgetan. Das sei nicht so, das hätte alles gute Gründe, das sei nur so, weil ich … was auch immer. Sie war über jeden Zweifel erhaben, machte nie Fehler und alles was falsch lief, bildete ich mir entweder ein oder war selbst schuld dran, hatte es nicht anders verdient.

Mit 9 Jahren wurde ich das erste Mal im weiteren familiären Umfeld missbraucht.

Es zog sich eine Weile, bestimmt ein Jahr. Ich vertraute mich meiner Mutter an. Viele Jahre später erfuhr ich, dass sie im Vorfeld davor gewarnt wurde, ihre Kinder bei diesem Menschen zu lassen. Sie ignorierte die Warnungen genauso wie meine Berichte. Selbst einen Zungenkuss in ihrer Gegenwart ignorierte sie. Das hätte nicht in ihr Weltbild gepasst, also gab es das auch nicht.

Mein Bruder Robert hatte im Kindesalter einen Suizidversuch.
Ich fand ihn und rettete ihm das Leben.

Die einzige Sorge unserer Mutter war die Außenwirkung. Die eingeschaltete Polizei legte die Ermittlungen noch am gleichen Tag zu den Akten, der Ruf unserer Mutter und ihr gesellschaftlicher Stand waren zu gut, als dass man da familiäres Versagen gesehen hätte. Auch hier passte ihr eigener Anteil an seinem Leid und ihr Versagen als Mutter nicht in ihr Weltbild. Sie wollte die Verantwortung für ihn nicht weiter übernehmen und gab sie ab, ohne zu merken, dass ich sie übernahm. Nach seinem Suizidversuch war ich seine Ersatzmutter.

Als ich 12 war, wurde ich also erwachsen, ohne Kompromisse und ohne eine echte Chance.

Keiner half uns, obwohl es viele sahen. Sie sahen unser Elend, depressive, suizidale Kinder.
Ich entwickelte eine Ess-Störung und begann mit Selbstverletzungen.

Unsere Eltern trennten sich, als ich ein Teenager war. Ich wollte zu meinem Vater, aber er wollte mich nicht mitnehmen, das war ihm zu viel Verantwortung. Kerstin ging mit ihm mit, „erwachsen genug“, in seinen Augen. Robert und ich blieben bei unserer Mutter und ich passte weiter auf ihn auf.

Als Robert im Teenageralter bei einem Unfall starb, war ich frei.

Ich wohnte nur noch mit meiner Mutter zusammen und ergriff die erste Chance, ihr zu entkommen, indem ich viel zu früh mit dem falschen Mann zusammenzog. Ein Narzisst, wie ich heute weiß. Der meiner Mutter rückblickend in so vielem so ähnlich war, mich missbrauchte und misshandelte. Ich ließ es zu, denn das war doch Liebe, oder? Genau so kannte ich das, es fühlte sich vertraut und richtig an. Und fühlte es sich mal falsch an, war ich selbst schuld daran oder bildete es mir nur ein.

Ich habe mir oft gewünscht, meine Mutter hätte mich geschlagen.
Das wäre greifbarer gewesen, das hätte ich vielleicht auch als Kind einordnen können.

So blieb immer die existentielle Angst, wenn sie zwar sagte, sie habe mich lieb, mich gleichzeitig aber wie Dreck behandelte. Oder wenn sie mich mal wieder ignorierte.

Wie soll ein Kind das in Worte fassen können? Diese Diskrepanz ist so schwer zu greifen. Und das Vertrauen auf das eigene Bauchgefühl wurde mir sehr früh abtrainiert.

Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich das formulieren konnte. Mit Ende 20 brach ich den Kontakt zu ihr ab.

Noch länger brauchte ich, um zu merken, dass mein Partner ganz ähnlich gestrickt war. Er hatte mich von allen isoliert, die es gut mit mir meinten und mich zu seiner Marionette gemacht.

Mitte 30 und mit 3 kleinen Kindern schaffte ich dann den Absprung.

Mit Mitte 30 habe ich also Laufen gelernt.

Es wird besser und ich stehe mit meinen Kids mit beiden Beinen fest im Leben.

Die Leere und die Sehnsucht nach Liebe, die meine Mutter hinterlassen hat, merke ich aber fast täglich.
Es ist ein anhaltender, innerer Schmerz und ein ständiger Kampf gegen das Gefühl, ich sei es nicht wert, geliebt und angenommen zu werden.

Seitdem setze ich mich dafür ein, dass psychische Gewalt als solche anerkannt wird und dass die Gesellschaft für die Schäden sensibilisiert wird.

Ich weiß, dass Opfer von körperlicher Gewalt das teilweise anders sehen und will darüber nicht streiten. Aber emotionale und psychische Gewalt kommt immer noch viel zu häufig in Familien vor und Kinder leiden massiv darunter. Viele Menschen im Umfeld schauen weg, sind hilflos, können es nicht als Gewalt identifizieren und die Kinder bleiben mit ihrer Not alleine.

Und ich kämpfe täglich darum, dass es meinen Kindern erspart bleibt.

Ich stärke ihr Selbstbewusstsein, ihr Bauchgefühl, ihr Durchsetzungsvermögen.

Sie sollen auf sich, ihre Wahrnehmung und ihre Grenzen achten.

Nur so lernen sie einen halbwegs gesunden Umgang mit ihrem Vater, der ihnen ähnlich zusetzt, wie es meine Mutter mit ihren Kindern gemacht hat.

Eure Luisa

P.S. von Béa: Es fiel Luisa nicht leicht, dieses Text „freizusetzen“. Geht bitte behutsam damit um.

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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6 Kommentare

Justine
Antworten 9. Juni 2021

Danke, meine Geschichte ist deiner sehr ähnlich.
Gut das du dich dafür einsetzt das es anerkannt wird. Ich werde heute auch noch oft mal komsich angesehen und mit dem Satz: "na wenigstens wurdest du nicht geschlagen" getröstet.
Auch mir hat keiner geholfen von Freunden und Familie und auch heute hab ich noch daran zu knabbern.
Ich wünsche dir alles gute 🧡

R.M.
Antworten 9. Juni 2021

Ich kann das so nur bestätigen. Schwere seelische Misshandlungen und keine Reaktionen von Umfeld. Kinder dürften keine mehr zu Besuch zu mir, aber für mich hat sich keine der umgebenden Familien eingesetzt. Meine Oma meinte, es sei "halt Familie", da "gebe es immer Streit" ich "soll das nicht immer so ernst nehmen". Als Rechtfertigung für die Misshandlungen durch meine Mutter. Mein Vater, der sich wegen der krassen Gewaltausbrüche von meiner Mutter getrennt hatte hat mich bitte gefragt ob es mit gut geht und ob die Wut vielleicht jetzt bei mir landet. Und auch ich wusste lange Zeit nicht, was normale Beziehungen sind. I see You. Ich auch.

Simone
Antworten 9. Juni 2021

Hallo Luisa!
DANKE für deine Geschichte!
Wie mutig und tapfer du bist und warst!
Alles, alles Liebe und Gute für dich und deine Kinder auf eurem weiteren Weg! ❤️

Sabine
Antworten 9. Juni 2021

Ich kann mitfühlen. Ich erlebte diesen Kampf um Liebe, welche es nie gab bei meinem damaligen Stiefvater und meiner gleichgültigen Mutter - hauptsache nach aussen hin sieht die Welt heile aus (heute sind wir eine zerrüttete "Familie" ). Mitte 30 brach ich den Kontakt komplett ab, mein Kind war 4 Jahre alt. Bis auf meine Oma, denn sie ist meine eigentliche Mutter, sie gab mir die Geborgenheit, um gedeihen zu können, Gott sei Dank. Das war vor 10 Jahren.
Heute bin ich erwachsen und habe kein Bedürfnis mehr in den Kontakt zurück zu kommen. Dieser Schmerz der Erkenntnis war damals für mich so tief verletzend, dass ich den Rest meines Lebens zu kurz empfinde, diese Wunden heilen zu können. Wenn ich mir vorstelle, eines Tages erhielte ich die Nachricht, meine Mutter sei tot, fühle ich nichts. Das ist das traurigste.

Annika
Antworten 9. Juni 2021

Danke....
Danke für deine Ehrlichkeit und deinen Mut....
Einfach danke für den Text....
Der Satz der mit"es ist ein anhaltender.... " - wie gut ich ihn verstehen kann... Zu gut!

Der Text zeigt mir, dass ich nicht alleine bin, dass es noch mehr gibt die diesen Kampf kämpfen....

Ich wünsch dir alles Gute....
Bzw - es wird alles Gut 🍀

Janny
Antworten 27. November 2021

Liebe Luisa,

ich freue mich für dich, dass du dich freigestrampelt hast und nach so einer Vergangenheit immer noch „lebst“ und nie abgerutscht bist. Das bedeutet du hast eine unglaubliche Kraft in dir. Toll! Das bedeutet auch, du hast noch ein richtig schönes Leben vor dir.
Aus eigener Erfahrung lege ich dir eine Trauma Therapie nahe, denn solche Erlebnisse benötigen sicherlich Unterstützung. Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und Glück 🍀

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