Aus der Sicht einer Mutter. Gastbeitrag
Starten wir mit einer Triggerwarnung: Es geht hier um sexuellen Kindesmissbrauch, aus der Sicht einer Mutter.
…
Eine Leserin hat ihre Geschichte aufgeschrieben, und wie sie als Mutter damit klarkommt, dass ihr Kind missbraucht wurde und sie alle Schritte einleiten musste, um ihr Kind und andere zu schützen. Und ihre Partnerschaft damit beendete.
Ich bitte euch um respektvolle Kommentare. Unsere Gastbeitragende erklärt weiter unten, warum sie das alles aufgeschrieben hat. Ihr könnt vielleicht mit einem Herz als Zeichen des Verständnisses helfen – und indem ihr das teilt. <3
Aus der Sicht einer Mutter.
Ich habe nach der Trennung des Vaters meiner Tochter einen Mann kennengelernt.
Hals über Kopf habe ich mich verliebt. Meine Glücksgefühle waren kaum zu beschreiben.
Er hatte alles, was ich mir je gewünscht hatte, und er erfüllte alles, was ich mir wünschte.
Meine Tochter liebte ihn auch.
Wir beide hatten ihn lieb. Bedingungslos und ehrlich.
Wir waren eine Familie. Wir waren glücklich.
Der Vater meiner Tochter kümmerte sich irgendwann immer weniger um sie. Seine neue Beziehung war ihm wichtiger.
Meine Tochter litt sehr darunter.
Mein damaliger Mann kümmerte sich liebevoll um sie. Betonte immer wieder, dass sie wie eine eigene Tochter für ihn wäre.
Ich dachte, alles wäre ok. Alles wäre in Ordnung. Alles wäre prima.
Wir lebten auf einer rosaroten Wolke, in einem zauberhaftem Schloss.
Bis eines Tages alles zerbrach.
Meine Tochter erzählte mir eines Abends davon. Nach einem Ausflug.
Sie erzählte erst nur einen Teil.
Sie zitterte am ganzen Körper.
Die Welt stand still in diesem Moment. Alle Farben waren fort.
Ich habe ihn konfrontiert. Er hat es als missglückten Aufklärungsversuch abgetan.
Und dann hat er geschlafen.
Er ist einfach ins Bett, und hat geschlafen.
Ich habe gegoogelt. Geschaut, was ich tun kann.
Meine Tochter wollte nirgends hin. Sie wollte, dass niemand es erfährt. Nur, dass es aufhört.
Ich versprach ihr, dass es nie mehr passiert.
Er musste erst mal ins Wohnzimmer ziehen.
Meine Tochter schlief bei mir.
Ich weiß, ich hätte einfach gehen können. Das Kind schnappen, und ab zur Polizei.
Aber sie war verängstigt. Und ich wusste, dass ich das langsam machen muss.
Weil ich wollte, dass er dafür bestraft wird.
Es durfte kein Fehler passieren.
In der Beratungsstelle wurde mir geholfen. Ich bekam am Telefon schon viele Tipps.
Und im persönlichen Gespräch wurde mir sehr einfühlsam geholfen.
Ich plante die Trennung wirklich ganz genau.
Zuerst musste mein Kind zur Oma. Meine Mutter wusste noch nichts.
Es war ein typischer Übernachtungsabend.
Dann fuhr ich mit klopfendem Herzen zurück ins Haus. Ich habe so geweint.
Und er stand nur da, und fragte mich, ob das mein Ernst sei.
Ob ich all die Jahre wegwerfen möchte.
Nach allem was ich heute weiß, ist es unglaublich, wie selbstsicher er sich da war, um mir so eine unverschämte Frage zu stellen.
Ich bot ihm an, alles zu vergessen, was er getan hat, wenn er in zwei Wochen das Haus verlässt.
Er wollte tatsächlich, dass ich ihm darauf die Hand gebe. Heute schüttele ich darüber den Kopf.
Aber über meine Vorgehensweise bin ich dennoch stolz. Auch wenn nicht jeder nachvollziehen kann, wie ich ihn so lange noch frei herumlaufen ließ.
Am nächsten Tag machte ich meine Aussage bei der Polizei.
Einen Tag später meine Tochter. An diesem Tag hörte ich das erste Mal, was alles geschehen ist.
Er kann froh sein, dass ich mich nicht an ihm gerächt habe. Mein Ekel und mein Hass waren heiß und boshaft. Doch ich musste stark sein für mein Kind.
Er wurde zwei Wochen später, nach seinem Auszug, verhaftet.
Seitdem sitzt er.
Er wurde zu insgesamt 8 Jahren verurteilt.
Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Im Gerichtssaal hatte ich ihn das letzte Mal gesehen.
Meiner Tochter hatte ich ein paar Wochen nachdem sie bei der Polizei war einen Therapieplatz bei einer Traumatologin besorgt. Sie durfte nur Stabilisierung anbieten, für den Fall, dass ihre Aussage vor Gericht benötigt wird.
Meiner Tochter geht es übrigens gut. Sie hat keine Flashbacks mehr. Sie entwickelt sich normal.
Einmal im Monat hat sie Therapie. Die Traumatherapie ist längst abgeschlossen. Aber andere Themen bespricht sie gern mit ihrer Therapeutin.
Und wie geht es mir?
Wie geht es einer Mutter, die erfährt, dass die Liebe ihres Lebens ihre Tochter über Monate hinweg sexuell missbraucht hat?
Wie geht es einer Mutter, wenn sie von nahen Angehörigen vorgeworfen bekommt, wie es sein kann, dass sie nichts gemerkt hat?
Es geht mir heute recht gut.
An manch anderen Tagen kämpfe ich mit den Tränen.
Anfangs schlief ich mit weinen ein, und wachte weinend wieder auf.
Später musste ich mich zwingen, aus dem Haus zu gehen.
Ich dachte wirklich, ich könnte nicht mehr leben.
Ich hatte diesen Mann geliebt. Aber aus meinem Mann wurde ein Täter.
Und diesen Täter wollte ich nicht vermissen.
Ich habe an diesem Abend, an dem meine kleine Tochter zitternd vor mir saß,
weil sie Angst hatte, ich würde ihr nicht glauben, alles verloren an was ich glaubte.
10 Jahre, die ich ihn liebte, waren plötzlich wertlos geworden.
Das klingt so überspitzt. Aber all diese Zeit war einfach nichts mehr wert.
Er hatte mein Kind missbraucht. Ich hatte ihm vertraut. Ich hatte sie ihm anvertraut.
Einem kaltherzigen Monster das nur an sich selbst gedacht hatte.
Meine Schuldgefühle quälten mich.
Irgendwann entschloss ich mich, eine stationäre Therapie zu machen.
Ich musste stark für mein Kind sein, und so wie ich war, war ich nur ein Wrack.
In der Therapie lernte ich zu trauern.
Es ist ok, zu trauern. Ich war enttäuscht worden. Sehr enttäuscht.
Aus einem Prinzen wurde ein Monster. Und diesem Prinzen durfte ich nachtrauern.
Es ist ok, zu hassen. Zu schreien. Das alles habe ich getan. Im Wald. Am See.
Heulend. Bis ich zusammengebrochen bin. Und es war eine gute Erfahrung.
Sie hat Kraft gekostet. Aber hat mich auch stark gemacht.
Ich durfte mich in der Therapie schämen.
Und ich habe mich abgrundtief dafür geschämt, dass ich mich so habe täuschen lassen.
Denn durch meine Unachtsamkeit ist mein Kind zu Schaden gekommen.
Ich war manipuliert worden. Das tut sehr weh, wenn man bemerkt, dass einem das passiert ist.
Es tat mir weh. Sehr weh. Ich hatte monatelang einen Druck in der Brust.
Viele Mütter trifft so etwas wie ein Schlag ins Gesicht.
Natürlich gibt es Frauen, die ohne Weiteres weitermachen können.
Den Frauen, den es so ging wie mir, wünsche ich viel Kraft.
Holt euch Hilfe. Macht das alles nicht allein.
Weint. Schreit. Tobt.
Er hat nicht nur euer Kind verletzt. Er hat nicht nur euere Tochter oder euren Sohn missbraucht.
Sondern auch eure Liebe, euer Vertrauen.
Trauert. Und schämt euch in einem geschützten Raum, bis der Schmerz nachlässt.
Was danach kommt, ist einfach nur gut. Ich verspreche es euch.
Und wenn ihr jemanden kennt, der betroffen ist:
Nehmt sie in den Arm. Seid einfach da. Macht ihr oder ihm keine Vorwürfe.
Diese Menschen, die Kinder für ihre Befriedigung benutzen, sind sehr geschickt.
Sie sind Meister der Täuschung. Meistens sind sie sogar sehr beliebt.
Sie haben Charme. Und den nutzen sie auch.
Seid einfach. Bringt Essen vorbei. Helft beim Saubermachen. Macht euch nützlich.
Aber behaltet eure Meinung einfach bei euch. Wenn ihr gefragt werdet, ist es etwas anderes.
Mich haben die Vorwürfe fertig gemacht.
Über Monate habe ich Situationen in meinem Kopf durchgespielt, um herauszufinden, wie ich es übersehen konnte.
Meine Tochter hatte keine Berührungsängste ihm gegenüber. Es lief alles ganz normal.
Sie war selbst in so einem Schockzustand, dass sie einfach funktionierte. Es war nicht zu erkennen.
Das schreibe ich nicht, um mich reinzuwaschen. Sondern, um anderen Müttern zu sagen:
„Du konntest es nicht sehen. Hilf deinem Kind jetzt. Ihr packt das.“
Ich habe gelernt, mir zu vergeben. Und nach vorn zu schauen.
Stark zu sein, nicht weil ich stark sein muss, sondern weil ich es geworden bin.
Ich gestalte mein Leben so, dass es für mich passt. Und nicht für den Mann in meinem Leben.
Ich lebe wieder. Besser als in dieser Ehe, die ich hatte.
Ich lebe. Ich weine. Und ich bin stolz, das alles hinter mir lassen zu dürfen.
Im Internet finden sich nicht viele Artikel über Angehörige von Opfern von sexuellem Missbrauch.
Die Opferhilfe hilft auch den Angehörigen. Um sich auszutauschen, und gegenseitig zu stärken, ist aber kein großes Angebot da.
Deshalb wollte ich meine Sicht schreiben. Es ist viel zu lesen, und dennoch nur ein Bruchteil meiner Gedanken und Gefühle.
Danke fürs Lesen.
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Liebe anonyme Mutter, herzlichen Dank für diese unglaubliche Kraft: Für dein Kind, für andere, für dich selbst.
Ich wünsche euch beiden, dass ihr ein richtig gutes Leben habt, mit Liebe und Vertrauen!
Béa
- 09. Aug 2022
- 3 Kommentare
- 28
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Martina
11. August 2022Meinen allergrößten Respekt und alles, alles Gute weiterhin für Dich und Dein Kind.
Corinna
14. August 2022Mir kamen die Tränen beim Lesen dieses Berichts. Hut ab, dass Sie den Mann, den Sie liebten, verlassen und angezeigt haben. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter ganz viel Kraft und alles erdenklich Gute für die Zukunft!
Claudia
29. August 2022Respekt für diesen tollen Beitrag und das konsequente Handeln für dein Kind. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute, Du bist eine tolle Mama, das hast du bewiesen!