Muss ich erst etwas etwas überwinden, um stark zu sein? – Stimmt für mich nicht
Béa hat vor einiger Zeit bei Facebook einen Post gemacht mit dem Spruch:
„Echte Stärke kommt nicht von dem, was du schon kannst. Sie kommt von dem, was du überwindest!“
Da ich authentisch schreibe und sowohl die Arbeitsbeziehung als auch die Freundschaft mit Béa das verträgt (ja, wir haben darüber gesprochen!), hier meine erste initiale Reaktion:
Was für ein Bullshit!
Natürlich bleibe ich bei einem derartigen Gedanken nicht im Kopf stehen. Das ist ja meine Bewertung. Irgendwas wurde ja in mir ausgelöst und ich habe jetzt eine ganze Weile dazu reflektiert. Das Ergebnis meiner Reflexion möchte ich gern mit euch teilen.
Ja, vielleicht wird der eine oder andere am Ende auch denken: „Was für ein Bullshit!“ Und vielleicht spürt ihr dann ebenso in euch rein, was da in euch vorgeht.
Anmerkung: Selbstverständlich habe ich das „Bullshit“ nicht an Béa kommuniziert! Das war nur kurz in meinem Kopf. Ich habe mich mit ihr ausgetauscht, nachdem ich reflektiert habe. Das gehört für mich in jede zwischenmenschliche Beziehung: Reiz und Reaktion erst mal für mich ausmachen und dann darüber reden. Hat für mich vor allem etwas mit Respekt zu tun!
Beginnen möchte ich mit dem Zitat von Nietzsche:
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“ So kennen die meisten sicher dieses Zitat.
Komplett: „Aus der Kriegsschule des Lebens – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“¹
Kriegsschule des Lebens: Ich führe keinen Krieg. Ich führe ein Leben mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen, mit glücklichen Momenten und mit Momenten, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Schmerz und Leid gehören für mich zum Leben ebenso dazu wie Freude und Glück.
Hier kann ich mich mit Nietzsche also überhaupt nicht identifizieren. Was mich stärkt, ist Frieden damit zu machen.
Ich kann mir vorstellen: Für manche ist dieser Spruch eine Art Ansporn für ein Weitermachen.
Dann passt er. Ich begegne mir lieber mit Selbstmitgefühl.
Zweiter Punkt: Nicht jeder Mensch, der etwas erlebt, was ihn umhaut (sei es nun schwere Krankheit, der Verlust eines Menschen, eines Jobs, finanzielle Schwierigkeiten, Traumata etc. etc. Der Möglichkeit gibt es viele) steigt danach wie Phoenix aus der Asche. Ja, viele Filme und die positive Psychologie mögen das zum Inhalt haben, es hört sich auch verdammt gut an! Nur ist es eben nicht so.
Hier spielt auch eine Rolle, in welcher Verfassung der Mensch vorher war, wie stabil sein Umfeld ist, welche Hilfe er bekommt. Manche schaffen es schwer, manche nie. Auch das gibt es. Zum Thema Umstände komme ich später im Artikel noch zurück.
Warum ich allerdings bei dem Spruch: „Echte Stärke kommt nicht von dem, was du schon kannst. Sie kommt von dem, was du überwindest!“ am meisten aufgewühlt war, hat etwas mit meinem Trauma und der PTBS zu tun. (Posttraumatische Belastungsstörung) Und damit, was ich dazu in der Therapie gelernt habe.
Hat mich das Trauma stärker gemacht? Nein!
Mein Trauma hat mich traumatisiert, mir Dissoziationen und Albträume beschert, Vertrauen war ein Fremdwort für mich, ich habe meine Menschenwürde verloren, Übererregbarkeit, Vermeidung, Scham- und Schuldgefühle waren und sind meine Begleiter. Das ist Trauma und noch viel mehr.
Heute, einige Jahre und eine Therapie später kann ich für mich sagen: Ja, ich habe mich verändert.
Auch Achtsamkeit, Meditation, auf Körper und Seele achten, das Erlernen der Gewaltfreien Kommunikation waren für mich hilfreich. Sowie Freunde und Familie, die an meiner Seite waren und sind.
Und genau das hat mein Therapeut gesagt: „Nicht das Trauma hat Sie stärker gemacht, sondern was danach kam.“ Ich hatte Hilfe, habe an mir gearbeitet, bin noch im Heilungsprozess.
An dieser Stelle also: Die Schicksalsschläge machen nicht stärker. Sie hauen oft die Beine weg. Und manchmal, wenn Menschen eine persönliche Katastrophe nach der anderen erleben, sind sie jedes Mal geschwächter.
Wenn ich also das Wort „Stärke“ benutze, dann eher so:
Ich bin stärker TROTZ des Traumas und NICHT DURCH das Trauma.
Was ist denn eigentlich Stärke?
Auch das beschäftigt mich. Hier hat jeder für sich seine eigene Definition. Was denn nun die Stärke genau ist, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Was das bei mir ist:
Ich kann jetzt Grenzen setzen, habe gelernt, mich zu reflektieren, ich kann die Verantwortung für meine eigenen Gefühle übernehmen. Ich habe Selbstfürsorge gelernt und Selbstmitgefühl. Ich habe gelernt, mich zu regulieren. Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren. Ich habe gelernt, meine Selbstheilungskräfte anzuschubsen und Methoden mir selbst zu helfen. Ich musste mit wenig bis keinem Schlaf auskommen über Jahre und habe tagsüber gut für mich und meinen Körper gesorgt. Ich habe gelernt, wieder zu vertrauen und das Trauma in mein Leben integriert. Und ganz wichtig: ICH habe mir meine Menschenwürde wiedergegeben. Und ich kann mich mittlerweile wieder etwas verletzlich zeigen.
Denn genau das ist Stärke für mich: Mich verletzlich und authentisch zeigen zu können und selbst auf meine eigenen Grenzen zu achten!
Stärke hat also für mich nichts mit: „Augen zu und durch! „zu tun, sondern ist das Gegenteil.
Stärke ist für mich nicht: aushalten, ertragen, verdrängen, härter mit mir selbst oder mit anderen zu werden. Stärke ist für mich auch nicht: Mauern bauen, anderen Menschen nicht mehr zu vertrauen.
Stärke ist für mich auch: Jeden Tag auf mich zu achten, Körper und Seele gut zu behandeln. Ich könnte noch ewig weiterschreiben. Ich hoffe, ich konnte mich verständlich machen. Es ist ein Prozess und nicht: Jetzt bin ich fertig, jetzt bin ich stark!
Wenn ich es als anatomisches Bild beschreibe: Einen Muskel stärken, durch Training.
Wenn der Muskel gerissen ist, dann dauert das eben.
Ich habe in der Traumatherapie auch noch etwas anderes gelernt: Trauern.
Auch das gehört für mich zur Stärke dazu.
Ich habe getrauert, dass es so einen gravierenden Einschnitt in meinem Leben gab. Diese Phase war enorm wichtig für mich. Denn auch dieser Spruch: „Krönchen richten, aufstehen und weiter“ ist nichts, womit ich etwas anfangen kann. Weder bin ich ein Prinzesschen, noch stehe ich sofort auf, wenn ich sehr hart auf den Boden geknallt bin. Manchmal ist eben erst ausruhen angesagt und dann sehr langsam aufstehen und vielleicht erst viel später: weiter.
Hilfe von außen, Menschen an meiner Seite, auch das war für mich wichtig!
Demnächst werde ich mal einen Beitrag zu Resilienz schreiben. Das würde hier zu weit führen. Resilienz (was viele auch als Stärke für sich sehen) kommt eben nicht nur aus mir, sondern hat auch viel mit dem außen zu tun. Menschen sind soziale Wesen. Und wer vor einem Schicksalsschlag schon resilient war und danach die entsprechende Hilfe hatte, hat hier eine wichtige Ressource.
Am Ende möchte ich also sagen: Es hätte nicht ein Trauma oder irgendeine Katastrophe in meinem Leben gebraucht.
All das, was ich jetzt gelernt habe, wie ich heute bin, das hätte ich auch anders lernen können. In Liebe, Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen. Und ja, diesen Umstand habe ich auch betrauert. Das war ein Teil der Therapie. Ich bin nicht stärker, weil ich etwas überwinden musste. Das hätte ich nicht gebraucht!
Das war meine Sicht, eine andere Perspektive. Was jedem Menschen hilft, liegt bei ihm. Ich mag, was mein Therapeut zu mir sagte: „Ob der Himmel nun für Sie grün ist oder blau, ist mir gleich. Wenn es Ihnen hilft.“
mindfulsun
P.S. Von Béa: Ich bin unserer Achtsamkeitskolumnistin und meiner Freundin mindfulsun sehr dankbar, dass sie die Stärke hat (ja, dieses Wort habe ich bewusst hingeschrieben) zu einem solchen Spruch zu reflektieren, mit mir darüber zu reden und einen solchen Beitrag zu schreiben. Denn genau das ist, was mich von Anfang an bei ihr fasziniert: Sie hat den Mut, Thesen und Gedanken in Frage zu stellen und für sich anders zu reflektieren. Und das begeistert mich. Jedes Mal.
In diesem Fall hat sie mich auch auf zwei Dinge hingewiesen: Warum die Du-Form? Na klar: Es ist viel besser, wenn ich von mir rede. Und wer den Himmel ähnlich rosa wie ich sieht, kann sich damit identifizieren. Und was ist eigentlich „echte Stärke!? Gibt’s auch unechte? Jetzt muss ich auch, eine Runde Nachdenken später, auch sagen: „Bullshit!“
Danke mindfulsun.
Und noch was: Ja, auch wenn ich finde, dass alles in meinem Leben sich immer wieder gut für mich eingefunden hat, auf eine Kindheit in einer Diktatur, den Tod meiner Eltern als ich noch ein Kind war und noch einige andere Dinge im Leben, die in meiner Seele Spuren hinterlassen haben, hätte ich auch lieber verzichtet.
¹Götzen Dämmerung , 1889, Friedrich Nietzsche
- 05. Feb 2022
- 3 Kommentare
- 5
- Posttrauma, Psychotherapie, PTBS, Resilienz, Stärke, Trauma
Jenny
5. Februar 2022Danke, für den wirklich wahren und ehrlichen Text.
Ich hätte auch gern all das ohne das Trauma gelernt, in Liebe und Achtsamkeit.
Und mich hat es zwar vielleicht dazu gebracht, wieder mehr auf mein Bauchgefühl zu hören.
Aber stärker bin ich dadurch nicht geworden.
Im Gegenteil.
Aber ja, dadurch habe ich gelernt, oder lern es immer noch, mehr auf die Selbstführsorge, Selbstliebe und Selbstachtung zu achten.
Mich selbst mehr zu schätzen.
Aber ich denke auch, dass ich es auch ohne dieses grauenhafte Trauma geschafft hätte.
Vielleicht hätte es länger gedauert als um all das zu verstehen.
Trotzdem wäre es mir lieber gewesen.
mindfulsun
6. Februar 2022Vielen Dank für deine Worte! Ich kann so nachfühlen, dass es dir lieber gewesen wäre, es anders zu schaffen.
Geht mir ja ebenso. Die Trauerphase war deswegen umso wichtiger für mich. Heute schaue ich darauf, wie
ich jetzt mit mir umgehe. Und ich bin stolz. Vielleicht ist das auch Stärke? Dass du jetzt so auf dich achtest?
LG
mindfulsun