Wenn sich richtig so richtig falsch anfühlt: Der große Bruder vom Lernen heißt Verlernen!


Ich wüsste nicht, wie ich meinen Alltag ohne Himmelsrichtungen meistern würde. Wirklich! Ich brauche diese 4 Ecken, um zu wissen wo ich gerade bin – und wo ich hin will, um mich in der großen weiten Welt durchzuschlagen. Oder durch den Großstadtdschungel.

Mein Kopf ist so angelegt, dass ich mich ständig auf meine innere Karte berufe.

Erzählt mir jemand von seinem neuen Job in Frankfurt, dann pinne ich innerlich eine Stecknadel irgendwo in die obere Hälfte des links unteren Quartals von Deutschland. Wenn mein Nachbar mir von seinen dicken Tomaten aus der Schrebergartensiedlung am Kanal erzählt, dann rechne ich nebenher aus, wie weit der Garten wohl fußläufig sein muss. Auch nachdem ich jetzt schon drei Jahre in der derselben Stadt wohne, rattert mein Kopf während den Fahrradfahrten unermüdlich: Er spult sämtliche Routen ab, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich die Schnellste (und nicht nur die Kürzeste!) genommen habe.

Ich bin super sensibel dafür, wenn der Zeigefinger meiner Mitbewohnerin auch nur einen Hauch danebenliegt, wenn sie gestikuliert und sagt sie fährt zur Uni.

Hinweisschilder an Bahnhöfen oder Flughäfen ignoriere ich aber gekonnt, das würde meiner lässigen this-is-my-hood Art wohl nicht entsprechen (Das Problem dabei: Ich ignoriere sie auch außerhalb von meiner Hood).

Kurzum: Ich habe einen ausgeprägten Wert (und meistens auch Sinn!) für Orientierung. Alles was mit Lokalisieren zu tun hat, ist für mich ein Wettbewerb. In den allermeisten Fällen kann ich mich drauf verlassen.

Für Google Navigation bin ich schlichtweg zu stolz – wenn ich einen Weg noch nicht gefahren bin, dann schaue ich ihn mir halt vorher auf der Karte an.

Tja, und manchmal haut es mich echt in die Pfanne.

Ich habe ein paar Monate in Hamburg gelebt, und wollte meine Bachelorarbeit in der Bibliothek schreiben. Die war nur 15 Minuten mit dem Rad entfernt. Wie immer prägte ich mir die Strecke vorher ein, radelte los und kam ohne Umwege an. Nach einem arbeitsreichen Tag machte ich mich wieder auf den Rückweg – der dauerte allerdings knappe zwei Stunden.

Ich traue es mich kaum zu sagen… Ich hab mich tatsächlich verfahren!
Es fühlte sich unglaublich erniedrigend an – weil ich doch meinem Gefühl gefolgt bin.

Nach meinem Gefühl musste ich einfach südlich fahren, dann kam diese dreispurige Straße, rüber und dann ein bisschen links orientieren und knick knack geradeaus. Tja, das war leider falsch. Mein Handy hatte keinen Akku mehr – ich hätte mir auch kaum vorstellen können, den Rückweg nicht zu finden. Nach einstündiger Kurverei überwand ich mich dann doch einmal anzuhalten, um auf die Karte im Bushäusschen zu gucken.

Waaaas, DA bin ich? Die Karte stimmt wohl nicht! Oder hat eine verzerrte Ansicht. Ist ja für Busse, die nehmen das vielleicht nicht so genau (ja, ich bin sehr überzeugt von meinem Orientierungssinn!). Wieder aufs Fahrrad, ab in die falsche Richtung. Dann fing es an zu regnen. Im nächsten Bushäusschen guckte ich dann doch noch einmal auf die Karte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu glauben.

Es war UNGLAUBLICH schmerzhaft, gegen mein Gefühl zu fahren.
Mein Kopf schrie förmlich: Dreh um!

Aber siehe da, die Karte rettete mich und ich kam triefend nass zuhause an. Am nächsten Tag saß ich wieder in der Bibliothek. Und lud mein Handy auf. Plante die Route bei Google Maps und drückte auf Navigation, als ich mich auf den Sattel schwang.

An jeder Kreuzung, an der mein Inneres mich woanders hinlenken wollte, sagte ich mir: Sorry, leider falsch, es geht HIER entlang! Um mir die richtige Route einzuprägen, musste ich bewusst die falsche Route als falsch identifizieren. Und mein Gefühl aktiv überschreiben.

Ein demütigendes Erlebnis. Ich lag falsch bei einer Sache, bei der ich NIE falsch liege.

Ich musste erst VERLERNEN, und dann UMLERNEN.

Ihr könnt euch freuen, denn jetzt komme ich endlich mal zum Punkt! Wir leben in einer Welt die sich rasant verändert! Dein Produkt von Morgen ist übermorgen vielleicht schon wieder Schnee von gestern. In eigentlichen allen Branchen ist Anpassungsfähigkeit eines der wichtigsten Skills, um mitzumischen. Das Haltbarkeitsdatum wird geringer. Die Halbwertszeit auch. Deshalb ist es so wichtig, dass wir nicht nur das Lernen lernen, sondern auch das Verlernen lernen.

Learning, Unlearning, Relearning: Alte Dinge durch Neue zu ersetzten ist oft gar nicht so easy!

Das können schlechte Gewohnheiten sein. Oder Vorurteile. Oder Beliefs. Das Problem ist: Veränderung ist ungemütlich. Ungewiss. Kostet richtig Zeit und Geld auch noch. Ich habe mich zum Beispiel echt gesträubt, Windows 10 zu benutzen – dieses vertraute, farbige Flaggensymbol fehlt mir immer noch.

Und selbst wenn wir Dinge verändern, vergessen wir etwas: Das Alte zu verlernen! Verlernen, die Haustüre nicht abzuschließen. Verlernen, Babys schreien zu lassen, um sie abzuhärten. Verlernen, nach der Plastiktüte beim Einkaufen zu greifen.

In der Marketingwelt, die soziale Medien, die Tech-Industrie – sie alle mussten sich verändern und Bewährtes bewusst verlernen – um offen zu sein für Neues! So wie beim Tapetenwechsel! Da wird auch erst die alte Schicht abgelöst, bevor die neue drauf kommt. Ich bin froh! Sonst würden Filmdosen und diese winzigen Blackberry-Tastaturen wohl noch immer herumgeistern.

Unlearning heißt eigentlich: Lebenslanges Lernen.

20 Jahre Erfahrung sind nicht immer ein Schatz.
Dafür ist unsere Welt zu schnelllebig.
Manchmal ist es auch harte Arbeit in der harten Realität, das was wir gelernt haben, was Erziehung ist, was Nachhaltigkeit bedeutet, was Erfolg ist, zu verlernen.
Um wieder neu zu lernen.

Wann musstet ihr mal eine Sache bewusst verlernen? Wie habt ihr euch dabei gefühlt? Welche Chancen haben sich dadurch geöffnet?

Grüßle,

eure Larissa

Larissa
About me

Studentin, Mentorin, Potenzialentfalterin. Lebt leicht. Liebt alles was mit Entwicklung zu tun hat: Schule, Menschen, Städte... und Blumen! Familienmensch. Hat große Träume für die Bildungslandschaft. Und ein überdurchschnittlich hohes Bedürfnis nach Schnörkeln.

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