Wie meine Mutter mich die radikale Ehrlichkeit gelehrt hat


Da ich wegen der Corona Krise derzeit wieder bei meiner Mutter lebe, habe ich in letzter Zeit viel an meine Kindheit gedacht. Insbesondere über das, was meine Erziehung und Charakterbildung angeht. In diesem Beitrag möchte ich euch gerne erzählen, wie meine Mutter mich die radikale Ehrlichkeit gelehrt hat.

Die meisten Eltern befolgen denselben Plan: Ihre Kinder zu guten Menschen zu erziehen. Wie Eltern diesen Weg gehen, fällt immer unterschiedlich aus. Was das Thema Ehrlichkeit anging, hatte meine Mutter einen ganz speziellen Weg vorgesehen…

Alles begann bei meiner ersten kriminellen Tat. Ich war drei und klaute Traubenzucker aus der Apotheke.

Wobei Klauen vermutlich das falsche Wort ist, denn ich wusste nicht wirklich, was ich tat. Ich erinnere mich kaum noch an den Vorfall, aber meine Mutter hat mir erzählt, dass sie sofort zurückgegangen ist und mich dazu gezwungen hat, sie zurückzugeben. Ich heulte und schrie – teils aus Trauer um mein Traubenzucker, aber hauptsächlich aus Scham. Es war demütigend, der Apothekerin ins Gesicht zu blicken und sie zurückzugeben. Doch mit dieser Aktion lehrte mich meine Mutter bereits, ehrlich zu sein, zu meinen Taten zu stehen, und sie notfalls rückgängig zu machen.

Weiter ging es drei Jahre später, als ich das Klassenmaskottchen vergaß.

Unser Klassenmaskottchen, eine Raupe – denn wir waren die Raupenklasse – hatte die Ehre, das Wochenende mit einem Schüler zu verbringen. Anschließend sollten wir in unser „Klassenbuch“ aufschreiben, was wir mit der Raupe alles erlebt haben. Ich freute mich so, als ich endlich an der Reihe war, und plante im Kopf bereits das beste Wochenende aller Zeiten.

Doch dann geschah das, was einer verplanten Mounia geschehen musste: Ich vergaß das Kuscheltier im Hort. Und der Hort hatte das Wochenende über geschlossen. Die arme Raupe verbrachte das Wochenende also ganz allein im Hort. Ich war so traurig und wütend. Am Montagmorgen fuhren wir vor der Schule zum Hort und holten die Raupe ab. Im Auto war ich gerade dabei, mir eine Geschichte auszudenken, wie wir gemeinsam das Wochenende verbracht hatten, als meine Mutter mich dazu animierte, die Wahrheit zu schreiben. Aber das wollte ich nicht, ich wollte nicht in das Buch schreiben, dass ich mein Wochenende ohne die Raupe verbracht hatte, weil ich zu blöd war. Aber nein, es führte kein Weg daran vorbei. Meine Mutter bestand darauf und so schrieb ich es.

An diesem Tag war ich so wütend auf sie. Warum hatte sie mich dieser Demütigung ausgesetzt? Die Mutter meiner besten Freundin hätte sicher Verständnis gehabt und ihr Kind nicht gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Jetzt war meine Geschichte die langweiligste von allen …

Und es kam noch schlimmer: „Ja, mein Kind hat eine sechs in Mathe!“

Als mein Onkel mich fragte, wie meine Matheprüfung lief, log ich und sagte, dass wir die Prüfungen noch nicht zurückbekommen hätten. Meine Mutter jedoch, die es nicht lassen konnte, grätschte dazwischen. „Natürlich hast du sie bekommen. Du hattest doch eine sechs. Was ist schon dabei? Wir sind doch deine Familie!“

Ich versank im Erdboden, und wollte nie wieder aus meinem Loch kriechen. Am Ende wurde daraus sogar ein lustiges Gespräch, in dem die gesamte Familie darüber lachte, wie schlecht sie in Mathe war. Trotzdem, ich war sauer, sauer, sauer auf meine Mama. Und ihr sprach kein Wort mit ihr. Immer wieder verglich ich sie mit der Mama meiner Freundin, die sicher diskret genug wäre, um ihrer Tochter beizustehen.

Heute bin ich ihr dankbar dafür. Denn meine Mutter hat mich zu einem ehrlichen Menschen erzogen.

Ich lüge nicht. Ich bin ehrlich und spiele mit offenen Karten. Wenn man mir eine Frage stellt, erhält das Gegenüber eine ehrliche Antwort. Die radikale Ehrlichkeit meiner Mutter war hart, aber effektiv. Ich habe gelernt, ehrlich durch die Welt zu schreiten.

Meine alte Schulfreundin hingegen lügt noch immer in allen Lebenslagen. Behütet, wie sie aufwuchs lernte sie gar nicht anders mit ihren „Problemen“ umzugehen, als sie durch Lügen etwas aufzuschmücken. Nicht, dass das die Schuld ihrer Mutter wäre – auf keinen Fall! Ihre Mama war super lieb und stärkte ihr immer den Rücken. Aber alles unter den Teppich zu kehren hat auch seinen Preis…

Ehrlichkeit bringt uns im Leben weiter.

Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass man dreist und korrupt sein müsste, um im Leben wirklich voranzukommen. Aber heute weiß ich, dass man mit Ehrlichkeit im Leben vorankommt. Wann immer ich ehrlich bin „Ich habe verschlafen“, „Ich habe das völlig verplant, „ich wusste nicht, was ich sagen soll“, treffe ich auf Verständnis und Nachsicht. Sowohl im Arbeitsplatz, als auch in der Uni oder bei Freunden.

Ehrlichkeit ist etwas Tolles und ich bin dankbar, dass meine Mutter mich trotz harter Zeiten zu einem ehrlichen Menschen erzogen hat.

Habt ihr auch Geschichten zur Erziehung und Ehrlichkeit?

Liebe Grüße
Mounia

Mounia
About me

Ich - 25 Jahre alt, Studentin, Kinderanimateurin, begeisterte Hobbyköchin und abenteuerlustig! Meine absolute Leidenschaft ist das Schreiben und Festhalten von Momenten.

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