Die Verbotskultur verhindert das Klarstellen von Lügen… und vieles mehr


Kennt ihr das Gefühl der Befreiung und Erleichterung, wenn ihr – aus welchen Gründen auch immer – gelogen und dann die Lüge klargestellt habt? Also, was im Englischen „to come clean“ bezeichnet wird?

Leider geht das in einer Verbotskultur nicht wirklich. Warum das so ist, erfahrt ihr in diesem Beitrag.

Wir alle haben schon mal gelogen. Vielleicht ist uns die Lüge rausgerutscht, vielleicht wollten wir jemanden nicht kränken. Doch dann gibt es zwei Optionen: Alles zugeben oder schweigen und weiter lügen. Ich bin prinzipiell immer für Variante 1 und habe das Gefühl, dass Aufrichtigkeit in den meisten Fällen belohnt wird.

Aber leider gilt das nicht für die Verbotskultur. Denn da MUSS man lügen. Klingt irgendwie krass, und ist es auch.

Aber erst mal von vorn:

Was ist überhaupt eine „Verbotskultur“?

Der Begriff ist im Grunde selbsterklärend und bezeichnet das Aufwachsen in einer Kultur, die mit diversen Verboten auferlegt ist. Demnach werden bestimmte Regeln vorgegeben, die nicht überschritten werden dürfen. Viele von denen sind jedoch veraltet und häufig auch sehr diskriminierend.

In Deutschland erlebe ich die sogenannte Verbotskultur eher seltener, und wenn, dann nicht im sozialen Kreis. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass auf die eigene Verantwortung plädiert wird, ohne, dass ein direktes Verbot auferlegt wird. Nach dem Motto: „Du willst rauchen? Mach, was du willst – du weißt ja, welche Konsequenzen es hat.“

In anderen Kulturen kann jedoch durchaus eine stärkere Verbotskultur herrschen, und bevor ich gleich in die Materie einsteige, möchte ich darauf hinweisen, dass jede Kultur anders ist. Das bedeutet nicht, dass die eine besser, schlechter, fortschrittlicher oder zurückgebliebener ist. Abgesehen davon sind Verbotskulturen auch sehr individuell. Es gibt Menschen aus meinem Kulturkreis, die ganz anders als ich aufgewachsen sind, deshalb lässt sich das Phänomen unmöglich pauschalisieren.

Soo, und nun zu den Verboten und Lügen …

Ich bin in einer sehr starken Verbotskultur aufgewachsen.

Das bedeutet im Klartext, dass ich viele Dinge einfach nicht tun durfte. Die Begründungen waren oft lächerlich und fernab jeder Logik. Mal lag es an meinem Alter, und mal daran, dass ich ein Mädchen war. Die Verbote reichten von „Du darfst das nicht anziehen“ bis hin zu „Du darfst nicht dahin gehen.“ Heute kann ich sagen, dass jenseits der Verbote sehr viel internalisierter Sexismus und Misogynie lag, denn gerade als Mädchen wurden mir sehr viele Verbote auferlegt, die das Ziel hatten, so „rein“ wie möglich zu bleiben. Klingt ziemlich mittelaltermäßig, und war es leider auch …

Die Konsequenz: Lügen und Geheimhalten

Denn das waren die einzigen Möglichkeiten, um sich fernab der Verbotskultur etwas Lebensqualität zu verschaffen. Das lief dann wie folgt ab: Alles wurde heimlich gemacht.

Als Jugendliche durfte ich mich noch nicht schminken, und tat des deshalb hinter dem Rücken meiner Eltern. Bevor ich nach Hause kam, schminkte ich mich wieder ab.

Das Gleiche mit bestimmter Kleidung, die ich nicht anziehen durfte, weil sie zu freizügig war. Wenn ich aus dem Haus ging, trug ich noch eine Leggins, und als ich außer Sichtweite war, zog ich sie aus.

Von bestimmten Events, wie Partys oder Konzerten, verriet ich meinen Eltern auch nichts. Ich erfand dann immer Ausreden, wie „Ich lerne mit meiner Gruppe“, und ließ mich von irgendjemandem decken.

Was ich nicht durfte, habe ich heimlich getan.

Ein Geflecht aus Lügen

Das Problem war, dass ich ein doppeltes Lügenspiel trieb, denn ich belog nicht nur meine Familie, sondern auch meine Freund:innen, die nicht wissen sollten, wie streng meine Eltern waren. Wenn ich also irgendwo nicht hingehen durfte, musste ich mir eine Ausrede überlegen, aber meistens sagte ich nur, dass ich keine Zeit oder Lust hatte.

Ich erinnere mich noch an einige Streitmomente mit meinen Freundinnen, die einfach nicht verstanden, warum ich einfach nie mitkam. Wenn ich mich offenbarte, sagten sie Dinge wie: „Na und? Du bist schon vierzehn. Deine Eltern können dir das gar nicht verbieten.“ Und da begriff ich, dass es überhaupt nichts brachte, mich zu erklären, weil sie aus einer völlig anderen Kultur kamen und es einfach nicht verstanden.

Die Verstrickung von Unaufrichtigkeit

Doch was passierte, wenn die Lüge mal rauskam? Einfach zugeben und sich entschuldigen?

Nein, in einer Verbotskultur ist das keine Option, denn Lügen haben große Konsequenzen. Ich müsste euch das vorstellen, wie ein Gesetz, das gebrochen wird. Wenn ihr bei Rot über die Ampel fahrt und erwischt werdet, reicht eine Entschuldigung meist auch nicht aus – es gibt Konsequenzen.

Wenn eine Aufrichtigkeit also nicht akzeptiert wird, muss das Lügen weitergehen, und das ist super schade, denn so verstrickt mich sich mit der Zeit in ein Geflecht aus Lügen, das immer instabiler wird. Zumal ist die ständige Geheimniskrämerei auch nur halb so aufregend wie man es sich vielleicht vorstellt. Aber in einer Verbotskultur gibt es keine andere Möglichkeit – das soll keine Ausrede sein, es ist einfach so.

Mit den Jahren ist die Verbotskultur in unserem Haushalt immer schwächer geworden – was hauptsächlich daran lag, dass meine Schwester durch all die Verbote sooo heftig rebelliert hat, dass meine Eltern die Verbote aufheben mussten, um sie nicht zu verlieren. Es war aber auch ihre persönliche Entwicklung. Menschen ändern sich, und so auch sie.

Damals empfand ich natürlich sehr tiefen Frust wegen all der Verbote. Heute weiß ich, dass sie es auch nicht besser wussten. Sie stammten aus einer anderen Kultur, und erzogen uns so, wie sie erzogen wurden. Meine Mutter sagte früher oft, dass sie uns im Gegensatz zu ihrer Mutter mit viel mehr Freiheiten erzog. Und ich dachte mir nur: …Welche Freiheiten?!😂

Eine Narbe aus der Erziehung ist allerdings bis heute bestehen geblieben: Ich kann mich meinen Eltern so gut wie nichts anvertrauen, zumindest nicht, wenn es um ernste Themen geht. Meine Mutter findet das total schade, und hat sich schon oft für all die Verbote von früher entschuldigt, aber dieses „Ich darf das nicht erzählen!“, steckt noch so tief in mir drin, dass ich einfach nicht davon rauskomme. Ich belüge meine Eltern nicht, aber ich verheimliche ihnen noch vieles. Und ich weiß nicht, ob das besser ist …

Die Verbotskultur verhindert das Klarstellen von Lügen

Das ist der gemeine Teufelskreis. Man MUSS lügen und darf es nicht zugeben. Und wenn man erwischt wird, muss man wieder lügen. Damit will ich Unehrlichkeit keinesfalls relativieren, aber wenn es keinen Raum für Aufrichtigkeit gibt, kann man auch nicht aufrichtig sein. Was bleibt einem dann anderes übrig?

Leider lebt eine enge Freundin von mir (US-Amerkikanerin) schon seit Jahren in einem Geflecht aus Lügen. Ihre Eltern sind sehr christliche orthodox und dürfen nicht wissen, dass sie lesbisch ist (inzwischen sogar verheiratet!). Sie führt ein Doppelleben, mit dem sie sich arrangiert hat, denn Outing wäre keine Option, ohne ihre Familie zu verlieren.

Was also tun?

Das Aufbrechen der Verbotskultur!

Um das Lügengitter zu durchbrechen, muss erst die Verbotskultur weg. Das ist ein komplizierter Prozess, weil das viel Arbeit für alle bedeutet – vor allem für jene, die die Verbote auferlegen. Stichwort: Eltern und Familie. Sie sind es, die den ersten Schritt machen und sich mit verinnerlichten Regeln auseinandersetzen müssen.

Puh, das wurde jetzt doch emotionaler als gedacht. Aber mir war es wichtig, auf dieses Phänomen hinzuweisen, da diesen Blog hauptsächlich Eltern und Pädagog:innen lesen.

Alles, was ich sagen kann, ist, dass die Verbotskultur bääh ist und das Leben so viel schöner ohne sie und der Zwang zum Lügen ist.

Was sind eure Gedanken dazu?

Hier noch ein Beitrag, der zwar nicht wirklich mit einer Verbotskultur einhergeht, wo aber dennoch die ein oder anderen kulturellen Unterschiede herrschen!

Schuhe drinnen ausziehen oder anbehalten?

Liebe Grüße
Mounia

Mounia
About me

Ich - 25 Jahre alt, Studentin, Kinderanimateurin, begeisterte Hobbyköchin und abenteuerlustig! Meine absolute Leidenschaft ist das Schreiben und Festhalten von Momenten.

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