Abstand, Maske, Drinnen bleiben, brav Regeln folgen. Was bedeutet die Corona-Zeit für Kinder und Jugendliche??


Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit: Was wird, was kann aus ihnen werden?

Larissa hat sich in die Thesen des bekannten Hirnforschers und Systemkriters Gerald Hüther ein wenig eingefuchst und reflektiert seine Thesen. Und Béa in ihrem altbekannten Optimismus reflektiert mit, jedoch aus der Grundeinstellung des gleichnamigen Film: „The Kids Are All Right“. Wir sind super gespannt auf eure Erfahrungen und Meinungen als Eltern bzw. Menschen, die mit Kindern zu tun haben!

Wie gehen wir in der Krise mit den verletzlichsten Gruppen um?

Larissa: Durchweg werden Kindern und Jugendlichen unliebsame Etiketten auf die Stirn geklebt:
Potenzielle Virusträger, gerade zu Beginn der Pandemie.
Störfaktoren im Homeoffice.
Es geht dauernd darum, Kinder irgendwie wegzuorganisieren, um sich dann um die wichtigen Dinge zu kümmern. Ja schon klar, Schule und Kita müssen öffnen – damit die Wirtschaft läuft!

Hinzu kommt: Kinder und Jugendliche haben keine eigene Lobby, sitzen nicht am runden Tisch bei der Beschliessung von neuen Maßnahmen.

Wie geht’s ihnen in dieser Zeit?

Wo man sich nicht umarmen darf, nicht zu nahe kommen und alles im kleinen Kreis stattfindet? Wo Museum, Schwimmbad und Zoo zu ist?

Wenn die Medien über Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit berichten, dann geht es meistens um eins: Hilfe, der ganze „Stoff“, der verpasst wird – und wie man das alles aufholen soll. Zum Vokabeltest kommt jetzt der Antigen-Test, Szenario A-Z wird weiter durchgespielt, Abiturprüfungen geschrieben. Klar, Schule und Kita ist super wichtig! Da muss viel durchdiskutiert werden. Ich würde sogar sagen, es steht immer noch zu wenig im Mittelpunkt.

Aber die Sache ist ja die: Kindheit und Jugend ist mehr als Kita und Schule!

So viele wichtige Entwicklungsschritte, das gesunde Abnabeln von Zuhause, die soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, Herausfinden wer sie sind… das alles ist momentan nur zum Teil, oder auch gar nicht möglich. Und sowieso: Freundschaften, Hobbies, Freizeit…

Béa: Ich sehe die Probleme…. allerdings: Sind Kinder und Jugendliche nicht wunderbar kreative und anpassungsfähige Wesen? Wir betrachten das Ganze aus der Brille der Erwachsenen, die ihre Kindheit und Jugend mit dem, was die Jugendlichen jetzt haben und nicht haben, vergleicht. De facto das gleiche Entsetzen wie das über die Digitalisierung, die Globalisierung und die Akzeleration, die ich schon bereits aus den 90ern kenne…

Bevor ich das aber bagatellisiere, so nach dem Motto, mich hat MTV auch nicht geschadet, lass mal die Argumentation weiter verstehen.

Larissa: Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther betont nun schon seit einigen Monaten, dass die Corona-Maßnahmen drastische Folgen für Kinder haben können.

Seine Hauptthese in einem Focus Interview:

Kinder und Jugendliche müssen momentan dauerhaft ihre natürlichen Bedürfnisse unterdrücken. Daraus kann folgen, dass sie diese Bedürfnisse irgendwann gar nicht mehr verspüren.

Puh. Das klingt schon erschreckend. Und auch irgendwie befremdlich: Ist die Lage wirklich so schlimm? Unterdrückte Bedürfnisse… ich dachte die klingeln dann erst recht wenn sie nicht satt werden? Ich habe mal auseinandergepuzzelt, was genau Hüther hier meint:

(An dieser Stelle für euch zur Info: Zu dem jetzigen Zeitpunkt ist Hüther unserer Recherche nach der einzige Wissenschaftler, der diesen Standpunkt vertritt. Das liegt vielleicht daran, dass das Thema natürlich noch nicht lange im Diskurs ist?)

1. Flexmeister Gehirn

Zunächst halten wir fest: Unser Gehirn ist super. Wirklich! Weil es ständig dabei ist, umzubauen, Tapeten zu wechseln, neue Pfade zu erkunden und alte zu verlassen. Das heißt: Unser Gehirn ist formbar, flexibel, es verändert sich und passt sich an.

2. Das Problem mit der Lösungsorientierung

Wenn es ein Problem gibt, dann verzieht sich unser Gehirn nicht einfach in die Hängematte und macht sich n schönen Tag. Nein, es rattert und rödelt so lange, bis eine Lösung in Sicht ist. Wenn von außen massiver Druck kommt, dann findet unser Gehirn Lösungsstrategien mit diesem Druck klarzukommen. Das passiert beispielsweise bei Kindern, die Gewalt erleben und diese Erlebnisse dann verdrängen, dass sie sie vergessen. Oder aber, sie sagen sich: Ich muss nur weiter durchhalten, aber mit 18 bin ich weg.

In der aktuellen Lage ist der Druck von Außen natürlich: die Einhaltung der Schutzmaßnahmen.

Darüber hinaus gibt es aber auch viele Kids, die ein innerer Druck belastet: Insbesondere die Angst, einen geliebten Menschen anzustecken.

Daraus folgt das Problem: Sie können manchen ihrer natürlichen Bedürfnissen nicht begegnen. Hüther zählt dazu das Kuscheln mit der Oma, Nähe und Verbundenheit mit Freunden oder Verwandten erleben. Mit anderen gemeinsam spielen und toben, neue Dinge entdecken.

Béa: Aha! Wie löst das Gehirn dieses Problem?

Larissa: Ganz einfach, sagt Hüther, die Bedürfnisse müssen unterdrückt oder gehemmt werden. Das klingt wirklich nach einem Dilemma.

Vor allem der innere Druck ist auf jeden Fall heavy für die Kids und darf nicht klein geredet werden. Aber mit Oma kuscheln? Das ist ja eigentlich eine Strategie, um mein Bedürfnis nach Nähe zu stillen (und hier hat mindfulsun bereits über den Unterschied zwischen Strategie und Bedürfnis gebloggt!). Und natürlich um Oma zu zeigen dass ich sie lieb habe 🙂 Wenn ich als Kind meiner Oma gerade nicht mehr nah sein kann – klar, kann sich das irgendwann auf die Beziehung auswirken. Dann ist es vielleicht erst einmal wieder befremdlich. Aber das Bedürfnis nach Nähe… wird idealerweise ganz viel von Mama und Papa gestillt.

Béa: Kommt auch auf die Oma an. Habe mich mit Kindern unterhalten, die auch ganz froh waren, manche Familienmitglieder nur in der Videokonferenz zu begegnen… Ich frage mich, warum Hüther so pauschal davon ausgeht, dass dieses Bedürfnis bei allen so gleich ist.

Larissa: Und Kinder deren Bedürfnis nach Nähe eben nicht in der Kernfamilie gestillt werden kann? Je nachdem sind manchmal eben auch Betreuer oder Erzieher, Tanten oder Onkel die Schlüsselpersonen – ist aber natürlich ein heikles Thema. Naja, schauen wir mal wie Kinder dieses Dilemma lösen.

3. Unterdrückung der Bedürfnisse

Was passiert da genau? Hüther sagt: Die Vernetzungen im Hirn, die die ganz natürlichen Bedürfnisse der Kinder hervorbringen sind das neue Problem. Sie sind ja nicht erlaubt. Also werden hemmende Strukturen über diese gebaut, die die Bedürfnisse hervorbringen. Klingt hart, aber das Bedürfnis wird sozusagen „weggehemmt“. Der Hirnforscher erklärt, dass das innerhalb ein paar Wochen oder Monaten, zumindest aber innerhalb eines Jahres passiert. Er beschreibt, dass es sein kann, dass das Kind dann gar nicht mehr mit Oma kuscheln will. Oder mit anderen spielen.

Die Crux dabei ist: Die Kids werden damit indirekt dafür gelobt, ihre eigenen Bedürfnisse zu übergehen! So etwas wie:

„Super Paul, du kannst dich schon viel besser an die Abstandsregeln halten als Onkel Timo.“

Hinzu kommt: Viele Kinder entscheiden sich freiwillig etwas zu tun, was eigentlich ihrer Natur widerspricht.

Halten sich vorbildlich an die Regeln. Sind kleine Polizisten mit zwei Meter Maßband.

Béa: Und ist das so schlimm?

Normal ist was anderes: Bei äußerlichen Zwängen setzt sonst der gesunde Eigensinn ein. Dann wehren sich Kinder gegen Dinge, die sie nicht möchten. Hier sieht Hüther den Unterschied zu Generationen von Kindern, die Krieg, Hungersnöte oder Flucht erleben (mussten). Hüther unterstreicht die Besonderheit der Lage, indem er betont, dass dieses Unterdrücken von Bedürfnissen es noch nie „so flächendeckend, so nachhaltig, so global“ in der Menschheitsgeschichte zuvor gegeben hat.

Für ein Siebenjähriges Kind macht das vergangene Jahr 1/7 seines Lebens aus. Für einen Siebzigjährigen würde das bedeuten, als würde dieser 10 Jahre seines Lebens mit den Corona-Maßnahmen leben.

Béa: Okay. Und nun? Was ist die Lösung?

Larissa: Vielleicht hilft diese Gegenüberstellung auch, eine andere Perspektive einzunehmen: Eine, die Kinder und Jugendliche in die Mitte stellt, und nicht links liegen lässt.

Und damit zurück zu „Bedürfnisse weghemmen“: Ich bin zwar keine Hirnforscherin, aber dass unterdrückte Bedürfnisse verschwinden wäre mir neu! Ich weiß, dass es möglich ist, dauerhaft unterdrückte Bedürfnisse irgendwann nicht mehr wahrzunehmen – sozusagen taub dafür zu werden.

Ich persönlich würde mich aber trauen die These zumindest teilweise als überdramatisiert zu betrachten. Sie benennt nämlich nicht den Spielraum den wir haben, genannt Strategien (!) Und verwendet ziemlich absolute Wörter. Natürlich wird das alles erstmal wieder ungewohnt, bei Oma auf dem Schoß zu sitzen oder die Schnitzeljagd mit 10 wilden Kerlen am Geburtstag zu erleben.

Eine Psychotherapeutin sagte mir vor Kurzem:
Das eine total prägende Zeit für Kinder.
Aber was sie noch mehr prägt ist, wie ihre engen Bezugspersonen damit umgehen.

Kinder brauchen euch Eltern oder enge Bezugspersonen, um in dieser Zeit Strategien zu entwickeln!

Hier ein paar „strategische“ Ideen für Eltern:

😀 Eigentlich alles machen was lebendig macht! Dazu gehört: Rausgehen, Musizieren, Tanzen, Schönes entdecken. Blumen pflanzen, Musik aufdrehen, Pyjamapartys veranstalten. Gerade weil ihr Eltern zu den wenigen Kontaktpersonen eurer Kinder zählt, ist es absolut toll, wenn ihr gemeinsam dem Leben nachjagt. Viele Ideen dafür gibt’s hier im Blog 😊
Und auch hier: Werkzeugkasten für Familien, Corona-und-du, Familien unter Druck

😀 Gemeinsam verstehen: An manchen Orten müssen wir uns an die Maßnahmen halten. In der Schule, auf dem Spielplatz, im Supermarkt. Aber es gibt Orte da gilt kein Abstand: Zuhause. In unserem Schrebergarten. Auf dem Sofa. In der Garage. Dort ist es anders. Dort könnt ihr sicher sein, euch frei fühlen, euch bewegen.

😀 Und wenn es mal Zeit ist, sich zurückzuziehen? Legt gemeinsam mit euren Kids einen Rückzugsort fest, wo es ungestört sein darf. Wieso nicht in der Badewanne oder im Kleiderschrank?

😀 Auch: Über Bedürfnisse reden! Ernst nehmen. Vertrauen. Was fehlt mir gerade? Wie können wir gemeinsam schauen, dass wir diesem Wunsch nachgehen? Und gerade jetzt, Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse entwickeln.

Halten wir also fest: An den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen ist nichts falsches! Sie sind natürlich und wunderbar.

Kinder gehen momentan an und über Grenzen, ganz klar. Als Familie dürfen wir die Ersten sein, die sich Zeit nehmen, zuhören, und die Lebendigkeit, das Miteinander und die Entdeckerfreude zu ermöglichen, da wo es geht.

Béa: Aha. Also zum Schluß zählt dich die Beziehungs- und Bindungsebene mehr als die politische und gesellschaftliche, ja?

Larissa: Ja, so wie eigentlich immer! Jede Familie tickt anders und darf sich ganz persönlich die Frage stellen: Was brauchen wir? Trotzdem brauchen wir mutige Stimmen, die sich im politischen Diskurs für Kinder und Jugendliche stark machen.

Was ist eure Meinung zu dem Thema? Sprecht ihr mit euren Kindern über ihre fehlenden Bedürfnisse? Wie nehmt ihr sie darin wahr? Habt ihr noch mehr Ideen, wie ihr euer Familienleben gestalten könnt, um diesen unterdrückten Bedürfnissen zu begegnen?

Liebe Grüße,

eure Larissa – und Béa

Larissa
About me

Studentin, Mentorin, Potenzialentfalterin. Lebt leicht. Liebt alles was mit Entwicklung zu tun hat: Schule, Menschen, Städte... und Blumen! Familienmensch. Hat große Träume für die Bildungslandschaft. Und ein überdurchschnittlich hohes Bedürfnis nach Schnörkeln.

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