Statt Helikoptern oder Vernachlässigung: Eltern-Kind-Bedürfnis-Balance
Bedürfnisorientiert erziehen? Ganz oft bekomme ich mit, wie Eltern stets in Extreme verfallen: Einige üben viel Kontrolle aus, und beschatten, coachen und managen ihr Kind.
Das sind die berühmten Helikopter-Eltern, oft beschrieben und belächelt. Andere Familien, aus welchen Gründen auch immer, ob aus einem Zuviel oder Zuwenig an Wohlstand heraus sei dahin gestellt, überlassen Kinder im Übermaß sich selbst oder elektronischen Medien.
Natürlich ist beides nicht gut, und es wird mir fast jeder theoretisch beipflichten, dass weder das eine Extrem noch das Andere richtig ist. Was ist aber, wenn man plötzlich keine Lust hatte im Nieselregen auf dem Fußballplatz das Kind anzufeuern, im Warmen Kaffee trinken war und die anderen einen empfangen mit Vorwurfsblick: „Jetzt hast du verpasst, wie dein Kind ein Tor geschossen hat!“? Was ist, wenn Eltern müde und abgearbeitet sind und einfach nur noch wortlos das Ipad überreichen können, wenn die Kleinen wieder mal „Langeweile!!!“ nölen? Na, wo sind wir dann angelangt? Für welchen Stil haben wir uns wirklich entschieden?
Ich habe mich ganz einfach für Menschsein im Mama-Dasein entschieden
Als meine Tochter auf die Welt kam, war ich recht jung – gerade 21 – und habe mir nicht zu viele Gedanken gemacht, welchem Erziehungsstil ich haben sollte oder welche Erziehungsgrundsätze meine Umwelt von mir erwarten würde. Ich habe einfach aus dem Bauch entschieden… Das Baby kam, ich überstand mit Bravour die Verunsicherung der ersten Tage (Ist das wirklich ein Mensch oder ein Alien? Trinkt es genug? Wird es mich je anschauen und Mama zu mir sagen? Oder will es nur für immer schlafen? Vor allem Letzteres hat sich schnell erledigt!) und dann waren wir schon recht schnell ein Team, meine Tochter Carina und ich!
So konnte ich mir schnell selbst klar machen, dass ich einen wunderbaren Menschen gezeugt habe, den ich mit seinen ganzen Bedürfnissen wirklich verstehen möchte. Und gleichzeitig habe ich mir auch klar gemacht, dass auch ich ein Mensch mit Bedürfnissen bin, die auch, wenn möglich, berücksichtigt werden sollten.
Mein Erziehungsstil würde ich also als „bedürfnis-orientiert“ bezeichnen, aber für beide Seiten.
Ich habe mir gedacht: Mein Kind ist in mein Leben gekommen – nicht umgekehrt. Ich möchte alles, was ich für mein Kind tue, mit der Überzeugung tun, dass es gut ist für uns beide, und nicht im Sinne eines Opfers. Was ich „zurückgesteckt“ habe, habe ich als Investition gesehen, nicht als Mangel. Und ich habe versucht, genau heraus zu finden, was sie wirklich gebraucht hat und was nur Erwartung von Außen war. Gleichmaßen habe ich auch meine Bedürfnisse sichtbar gemacht, in der Überzeugung, dass eine zufriedene Mutter auch etwas Gutes fürs Kind ist.
Hier einige Beispiele:
Nähe oder eigenes Bettchen beim Schlafen, Einschlafen, Durchschlafen?
Wir haben das mal so, mal so gehandhabt. Ich war nach meiner gescheiterten Ehe in einer neues Beziehung, da stand mir nicht der Kopf nach „Familienbett“. Dennoch, als ich gespürt habe, dass sie die Nähe braucht, durfte sie in mein Bett und auch mal die ganze Nacht darin schlafen. Aber nicht als Regel, sondern als Ausnahme. Allerdings: Schreien lassen ist für mich definitives NoGo – das ist das Ignorieren eines elementaren Bedürfnisses nach Nähe und Geborgenheit. Das habe ich nie gemacht. Allerdings zu Schulzeiten, als die „Durst – Pipi -Hunger – zu warm – zu kalt“-Arie ausgespielt wurde, konnte ich auch mit festen UND liebevollen Ansagen signalisieren, dass es auch dafür einen Schlusspunkt gibt.
Gemeinsam spielen?
Gern. Aber nicht mit Puppen, die habe mich auch als Kleinkind selbst nie interessiert. Wir haben verhandelt: Lego, Mikrowellenexperimente und Basteln war der gemeinsame Nenner. Wollte sie dennoch, dass ich mit den von mir weniger geschätzten Barbies mitspiele? Na gut, das haben wir gegen Museumsbesuche eingetauscht (Bedingung: ohne Nörgeln).
Ausschlafen?
Ich bin eine Langschläferin und gerade am Wochenende ist es für mich Folter, früh aufzustehen. Schon ganz früh habe ich folgendes versucht: Ich habe mich aufgerafft und meine Tochter gewickelt und gefüttert! Als sie noch klein war, waren Laufstall und ganz viel spannende ungefährliche Spielsachen die Lösung. Später: Das Kinderprogramm auf SAT.1. Und ich bin wieder ins Bett gegangen ohne schlechtes Gewissen! Gegen 10:00 war ich dann eine ausgeruhte Mutter, bereit zu wunderbaren Aktivitäten und Wochenende-Ramba-Zamba. Heute würde ich in diesen Augenblicken Tablets und Co beileibe nicht verteufeln…
Fußball- oder Tennismama sein?
Später, als die Trainings und Turniere in den verschiedenen Sportarten anfingen, habe ich versucht zu verstehen: Wann ist es ihr wichtig, dass ich wirklich am Spielfeldrand mit einheize, und wann kann sie darauf verzichten? Schnell hatte ich raus, dass ich mich besonders gut machte bei „echten“ Spielen, da sollte ich laut sein und pfeifen und das gegnerische Team einschüchtern… während meine Präsenz beim Üben und Trainieren sogar weniger willkommen war, da wollte sie lieber auch Fehler machen und ausprobieren und auch nicht alles beobachtet und kommentiert haben.
Unterbrechungen?
Wie oft habe ich für mich eingefordert, dass ich ein Gespräch beenden möchte, bevor mich meine Tochter unterbricht. Ich habe sie ermahnt und versucht, ihr klar zumachen, dass sie warten sollte. Und dann habe ich mich allerdings selbst dabei ertappt, wie ich mitten in ihr Spielen platzte und etwas von ihr wollte… weil wir dringend weg mussten, weil ich eine Frage hatte, etc. Dann habe ich das anders gehandhabt: Ich habe mich langsam neben sie gesetzt und etwas gewartet, dass sie mich wahrnimmt. Ich habe sie Spiele beenden lassen und dann gefragt oder angetrieben. Und siehe da, sie hat sich das dann bei mir abgeschaut und dann, nach einer Weile, genau so mit mir gemacht.
Die Beispiele-Liste ist groß, aber mein Punkt wird hoffentlich klar:
Elternsein ist keine Selbstaufgabe, es ist ein ständiger Balance-Akt für Bedürfnisse aller Beteiligten.
Es hilft in jeder Situation, sich selbst klar zu machen, wer was genau braucht. Und nach der Babyzeit lässt sich das sogar mit etwas Zeit und Muße und vor allem Kommunikationswillen ganz gut verhandeln. So kann man damit nicht nur gut mit seinen Kindern auskommen, sondern ihnen ein großes Geschenk mitgeben: Bedürfnisse erkennen und Lösungen aushandeln – die Grundlage für gute Beziehungen zu anderen Menschen.
Und? Wie handhabt ihr das Thema? Ich freue mich über Kommentare und Fragen!
Liebe Grüße,
Béa
- 09. Aug 2016
- 9 Kommentare
- 2
- Achtsamkeit, Bedürfnisorientierte Erziehung, Beziehung, Erziehung
Ilona
10. August 2016Sehr schön geschrieben und im Prinzip möchte ich genau so mit meinen Kindern zusammenleben. Teilweise funktioniert das auch ganz gut, aber teiweise scheint es auch fast ein Ding der Unmöglichkeite, die Bedürfnisse von allen 5 Familienmitgliedern ausreichend zu balancieren. Aber unsere Babyzeit ist auch noch nicht ganz vorbei, und Übung macht sicher den Meister :)
MaDe
31. Dezember 2016Das hört sich alles schön und gut an. Fast zu perfekt. Du schreibst nicht was war, wie es NICHT geklappt hat. Im Prinzip möchte ich das genau SO handhaben. Aber wie du schreibst. ...die Außenwelt ist so dermaßen beeinflussend. Oder man findet sich selbst in der Opferrolle wieder etc
Momentan ist es einfach festgefahren bei uns. Obwohl eigentlich jeder in Frieden auskommen möchte und den anderen seinen Freiraum geben will. Aber es vergeht kein Tag an dem es nicht knallt ??
MaDe
31. Dezember 2016Das hört sich alles schön und gut an. Fast zu perfekt. Du schreibst nicht was war, wie es NICHT geklappt hat. Im Prinzip möchte ich das genau SO handhaben. Aber wie du schreibst. ...die Außenwelt ist so dermaßen beeinflussend. Oder man findet sich selbst in der Opferrolle wieder etc
Momentan ist es einfach festgefahren bei uns. Obwohl eigentlich jeder in Frieden auskommen möchte und den anderen seinen Freiraum geben will. Aber es vergeht kein Tag an dem es nicht knallt ??
Ach ja...meine Mädels sind 8 und 6.
Marisa
9. Februar 2017Witzig, habe gerade letztens mit einer Mama-Freundin darüber geredet, wo bei der bedürfnisorientierten Erziehung (die wir beide größtenteils so handhaben) eigentlich die Bedürfnisse der Eltern bleiben :) Du hast die Balance sehr schön beschrieben, ich wünschte, das hätte ich auch schon mal früher so gespürt. Aber der Einfluss von außen... Ich war immer da, habe sie z.B. in den Schlaf begleitet und stundenlang an ihren Betten gesessen. Wenn sie dann endlich schliefen, hatte ich keine Zeit mehr, was für mich schönes zu tun.
Auch ein großes Problem: Sie erwarten das "Da-Sein" mittlerweile so extrem und sehen meine Bedürfnisse gar nicht. Ein Beispiel: Mein Großer (7) geht eine Stunde zum Judo, nebenan ist ein Shopping-Center, durch das ich mal bummeln könnte ich der Zeit. Aber er besteht darauf, dass ich bleibe und zugucke. Nun ja, wir arbeiten dran. ;)
Jil Haberstig
16. April 2017Ich bin gerade über deinen Artikel gestolpert, als ich für einen neuen Blogbeitrag recherchiert habe. Ich danke dir für diesen Beitrag! Ich werde ihn auf jeden Fall teilen, weil ich es so verdammt wichtig und richtig finde, was du schreibst :)
Liebe Grüße und frohe Ostern,
Jil
beabeste
16. April 2017Vielen Dank, liebe Jil - so ein Feedback tut gut! Liebe Grüße, Béa
DuDaDaMama
3. Februar 2018Ich bin gerade über diesen doch schon ein paar Tage alten Beitrag gestolpert. DANKE! Und zwar danke für den Absatz "Unterbrechungen". Dies war mir bisher selbst nicht bewusst. Ich erwarte auch von den Kindern, dass sie mich mein Gespräch oder was auch immer beenden lasse. Wenn aber ich etwas von ihnen will rufe ich sie und möchte, dass sie dann sofort angelaufen kommen, was ja völlig paradox, mir bisher aber nicht bewusst war. Ich möchte das in Zukunft anders handhaben und mir ein Beispiel an deiner Methode nehmen. Das sollte ja eigentlich nicht so schwer sein. :-)
Christian Mueller
9. März 2023Dieser spricht ein sehr wichtiges Thema an, das für Eltern von großer Bedeutung ist. Es ist eine sehr feine Balance zwischen dem Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes und der Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse als Elternteil. Der Autorin des Artikels, die sich für eine "Menschsein im Mama-Dasein" entschieden hat, möchte ich für ihre Ehrlichkeit und Offenheit danken.
Die Entscheidung für einen Erziehungsstil kann für Eltern sehr schwer sein, insbesondere für junge Eltern wie die Autorin. Es gibt so viele Meinungen und Ratschläge, die oft überwältigend sein können.