Ein Brief an meinen Großen
Hey Kerl,
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Du machst mich wahnsinnig. Du machst uns alle wahnsinnig! Mami, Papi, Schwester, Oma und Opa.
Warum ist das Leben mit Dir nicht genauso wundervoll und berechenbar, wie mit anderen Kindern?
Warum muss jeder von uns ständig auf der Hut sein, dass gleich im nächsten Moment irgendetwas – und seien es nur Worte, selten Taten – geschieht?
Ruhig bleiben, ist leichter gesagt, als über Stunden oder Tage getan!
Wir versuchen doch nun wirklich alle, Dir alle möglichen Werte vorzuleben. Aber Du lebst einfach in Deiner Welt, die hauptsächlich aus Zahlen und körperlichen Herausforderungen besteht. Das ist für Außenstehende sehr oft nicht zu greifen und nachvollziehbar. Warum sonst gehst Du so oft freiwillig zum Sporttraining, spielst Dein Instrument absolut sauber und ohne Fehler nach Noten. Du willst das alles von allein, Du merkst, dass du auch nach der Schule noch lange nicht ausgepowert bist. Beim Sport, beim Musizieren, bei Deinen Freunden den Zahlen siehst Du Erfolge und erhältst Wertschätzung. Aber Du bist nicht das einzige Kind. Nicht die einzige Person, um die sich das Universum dreht!
Schon als Kleinkind gaben wir Dir Zeit und Raum. Wir merkten, dass Du anders bist! Klar, jedes Kind ist anders..
Mittlerweile haben wir unterschiedliche Experten konsultiert, wir haben Gewissheit, dass Du noch besonderer bist. Wir sehen Dich seit über einem Jahr mit anderen Augen. Vieles ergibt jetzt einen Sinn.
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Aber nun bist Du auch in einem Alter, in dem Du langsam die Grundsätze des Zusammenlebens begreifen solltest. Wir sprechen oft und ausführlich mit Dir – über Verhalten, über Werte, über Vertrauen. Unser Credo bei Dir ist „Steter Tropfen höhlt den Stein!“ – aber irgendwann ist ein Loch im Stein oder der Stein ist aufgebraucht!
Langsam wird es für uns alle wirklich sehr gefährlich in jeglicher Hinsicht.
Bitte, du Kerl – Du wunderhübscher Junge mit dem Zahlenkopf, nimm Teil an der Gesellschaft, am Familienleben! Du bist Teil von uns, von dieser Welt!
Wir lieben Dich, auch, wenn die Einschläge krasser werden!
Deine Mami und Dein Papi
Jetzt Yvonne, denn ich habe diesen Brief unter meinem Namen veröffentlicht:
Dieser fiktive „Brief“ soll eine Darstellung von Gedanken sein, die auch in Familien vorkommen können. In meinem Bekanntenkreis habe ich ein paar dieser Situationen miterlebt, die ich hierin beschreiben wollte. Das Kind, von dem ich ganz speziell schreibe, hat im IQ-Test beim logischen Denken über 140 Punkte. Auch, wenn vom Großteil angenommen wird, dass es sich hier um ein Kind mit diagnostiziertem Asperger-Syndrom handelt – dem ist (aktuell) nicht so. Dieser Schluss liegt einzig und allein im Auge des Lesenden.
Ich möchte die Leserschaft um einen weiterhin höflichen Umgangston bitten. Niemand, der nicht in derart Situationen ist, kann sich aus meiner Sicht Urteile über Mutter, Eltern und Familie erlauben.
Alles Liebe, Yvonne
- 16. May 2018
- 11 Kommentare
- 10
- Brief, Familienleben, Leben mit Kindern
Catharina
17. Mai 2018Oh man. Das klingt heftig. Habe den Text schon dreimal gelesen, jedesmal bekomme ich Gänsehaut. Ich wünsche Dir Kraft und Geduld, um all die Brocken die noch vor Euch liegen, zu bewältigen. Bei uns geht auch gerade alles drunter und drüber. Ewige Gespräche mit dem Großen, keine Veränderung in Sicht und die ständige Frage: was machen wir falsch? Ich hoffe, dass es zumindest bei uns „nur“ eine Phase ist, die irgendwann vorbei ist...
Yvonne Petzke
20. Mai 2018Liebe Catharina,
vielen Dank für Deine Nachricht. Und ich wünsche euch viel Kraft. Das Leben mit Kindern ist nun einmal nicht immer rosarot.
Alles Liebe, Yvonne
Gerda
17. Mai 2018Hallo,
danke für diesen sehr intimen Einblick in euer Familienleben. Das Lesen hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Euch allen wünsche ich viel Kraft und dass ihr die Freude, die Kinder machen, nie aus den Augen verliert.
Grüße
Gerda
Yvonne Petzke
20. Mai 2018Liebe Gerda,
vielen Dank für Deine Nachricht. Mit diesem fiktiven Brief habe ich die Familiensituation von Freundinnen geschildert. Ich kann Dir versichern, dass sie die Kraft haben, dies gemeinsam durchzustehen.
Alles Liebe, Yvonne
Katja
18. Mai 2018Oh Mann, ist das schlimm. Hoffentlich liest er das nie. Eine ganzer Brief voller Vorwürfe und erst ganz am Ende ein "wir lieben dich trotzdem". :'(
Und dann das Ganze auch noch im Namen der jüngeren Geschwister, die das mit ihren Kinderaugen sicher ganz anders ausdrücken würden.
Ich kenne die Situation nicht und will darüber nicht urteilen. Aber dieser Brief, hier öffentlich geteilt, würde mir als betroffenem Kind das Herz brechen und das Vertrauen zu meiner Familie gänzlich zerstören.
Jette
20. Mai 2018Warum am Ende "Wir lieben dich" (ohne trotzdem!) steht? Weil dieses Liebe nie angezweifelt wird und wurde. Weil man sein Kind liebt und es trotzdem (!) nicht immer versteht. Weil man manchmal nicht weiter weiß, hilflos ist und vielleicht sogar verzweifelt. Was aber zusammenhält ist die Liebe: zu den Eltern und zu den Geschwistern. Sich dieser immer sicher sein zu können, ist ein großes Glück und darum ist das kein Brief, der ihm das Herz brechen wird, sondern ein Liebesbrief, der ihm deutlich machen könnte, dass er da eine verdammt gute Familie hat. Eine Familie, die immer für ihn da sein wird.
Yvonne Petzke
20. Mai 2018Liebe Katja,
danke für Deine Worte. Nach all den Reaktionen auf diesen Text habe ich jetzt am Schluss eingefügt, dass dies ein fiktiver Brief ist. Nur durch einige Gespräche mit Freundinnen habe ich erfahren, dass es in einigen Familien nicht immer rosig ist und derartige Probleme durchaus bestehen. Diese werden von der Öffentlichkeit aber nur all zugern weggeschoben, zum Therapeuten verlagert. Aber was ist mit den Familienmitgliedern?? Diese Frage wollte ich einfach mal aufwerfen.
Alles Liebe, Yvonne
Natalia
20. Mai 2018Der Kommentar von Katja macht mich wirklich traurig. Der Brief ist wunderschön und ehrlich. Eine Mutter hat nie das Ziel ihr Kind zu verletzten, aber die kann sich sehr wohl überfordert fühlen. Ich habe auch ein Kind, dass eigentlich so viel Aufmerksamkeit fordert, wie die beiden anderen zusammen nicht. Man kann dann seine anderen Kinder nicht hinten anstellen und nur noch für ein Kind da sein und sich gerecht aufzuteilen und allen gerecht zu werden ist sehr aufreibend. Ich wünschen Yvonne weiter Mut und Kraft für alle Kinder da sein zu können und dem kleinen Matheköpfchen zu helfen, damit er seinen Weg meistern kann.
Liebe Grüße
Natalia
Yvonne Petzke
22. Mai 2018Liebe Natalia,
vielen Dank für Deine warmen Worte.