Homeschooling Erfahrungen: Unsere blinde Tochter hat zu ihrem Glück Eltern, die Gestalter sind


Wer von euch hat Kinder mit besonderen Ausgangsbedingungen und Bedürfnissen? Ihr habt bestimmt schon immer mit euren Kindern steile Lernkurven gehabt… jetzt schießen sie bestimmt ins Unermessliche. Die Gestalterin Ellen Schweizer, Mama einer blinden Tochter, beschreibt ihre Erfahrungen – und wie ihre berufliche Sonderqualifikation ihr dabei hilft:

Unsere Tochter Hanna ist 11 und geht in die 6. Klasse einer bilingualen Grundschule. Dort wird sie inklusiv beschult, denn sie ist blind.
Homeschooling findet Hanna super — keine Freundinnen treffen jedoch ganz und gar nicht. Beim Homeschooling brauchen alle Verantwortlichen und die Kinder klare Strukturen, einen Plan, ein System. Wenn man nicht strukturiert arbeitet, dauert alles viel länger.

Generell ist bei blinden Kindern das Strukturieren sowieso noch wichtiger als bei sehenden Kindern.

Ich sehe, wie gut meine Tochter sich und ihre Arbeiten organisieren kann und wie stolz sie dabei ist. Ich bin überzeugt, wir könnten uns alle etwas für unseren Arbeitsalltag abgucken.

Hanna war sehr aufgeregt am letzten Schultag und überlegte sich fürs Homeschooling ihren ganz eigenen, idealen Stundenplan — frei nach ihren Wünschen:

Der Schultag beginnt um 10:30 Uhr (gute Idee).
Jede Schulstunde dauert 30 Minuten (auch gute Idee).
Danach beginnt direkt die nächste Stunde.
Mittagspause ist von 12:30 bis 13:30 Uhr.
Der Schultag endet um 14:30 Uhr (sehr gute Idee), aber manchmal auch etwas später, wenn Hanna noch Klavier üben muss oder mit einer Aufgabe nicht fertig geworden ist.

Ob das mit unserer Arbeitszeit im eigenen Büro kompatibel war, wurde von unserer Tochter leider genauso wenig berücksichtigt wie vom Virus. Nur über die Mittagspause wurden wir informiert und gefragt, ob wir es wohl schaffen, sie in dieser Zeit zu bekochen.

Unser Homeschooling, was man wohl eher als Officeschooling bezeichnen sollte, würde im besten Fall so funktionieren:

Die Fachlehrer hinterlegen über Microsoft Teams in den Aufgabenkanälen ihres Faches die Aufgaben als Text oder Textdatei. Die Schülerin lädt die Dateien herunter oder legt passend zu den Aufgaben Dateien an, bearbeitet diese und lädt sie zu den Aufgaben hoch und drückt auf „Abgeben“, wenn sie alle Aufgaben des jeweiligen Fachs erledigt hat. Manche Dateien oder Mails von einem Lehrer/in möchte Hanna auf Papier lesen und wir drucken sie dann auf dem Brailledrucker aus.

Tatsächlich läuft es so:

Die Fachlehrer schicken gemischt mal Aufgaben, mal Dateien oder auch Nachrichten. Wenn die Lehrer die Aufgaben nicht als Text schicken, sondern als Bild, Film oder PDF, muss die Schulhelferin die Dokumente überarbeiten, damit diese barrierefrei sind und von unserer Tochter auf dem Computer mithilfe ihrer Braillezeile und VoiceOver gelesen und bearbeitet werden können. Die überarbeiteten Dokumente der Schulhelferin kommen auf anderem Wege: per E-Mail.

Eine Blindenpädagogin, die blinde Kinder auf der Regelschule unterstützt, schickt ihre Aufgaben per Papier-Post oder auch per Mail. Am Ende verliert man den Überblick, was die überarbeitete Version für welche Originaldatei ist und zu welcher Aufgabe diese gehört. Drei Wege also, wie Aufgaben übermittelt werden. Überblick behalten klappt bei uns nicht immer. Aber bei wem würde das funktionieren?

Unsere Tochter hat zu ihrem Glück Eltern, die Gestalter sind.

Experten, die sich auf „Design for all“ spezialisiert haben, also Design, das so viele unterschiedliche Personen wie möglich einschließt, oft auch „Inclusive Design“ oder „Barrierefreies Design“ genannt. Wir haben unter anderem bereits 13 taktil illustrierte Bilderbücher für blinde Kinder gestaltet und arbeiten für Museen und Bauherren bessere, ästhetische Lösungen aus, die für alle Besucher*innen zugänglich sind.

Fach Science: Bar Chart umgesetzt mit Hilfe von Lego (Days of Self-Isolation // Numbers of movies seen on Netflix)

 

Lego Line Graph (Number of Sandwiches sold in Canteen week 1 to 3. Calculate the average.)

Unser Kind hat also das seltene Glück, dass wir sie gemeinsam mit den Lehrern besser unterstützen können als manch anderes blinde Kind.

Ihre Lehrer machen das sehr gern und mit viel Neugier — auch wenn sie oft nicht daran denken, was es für Schwierigkeiten bereitet, wenn Aufgaben in unpraktischen Formaten und Wegen daherkommen. Die Lehrer lernen aber viel für eine bessere Vermittlung ihres Stoffes für alle Schüler*innen.

Mondfinsternis? Umbra? Penumbra? Didaktisch und taktil erklärt für blinde Schüler*innen.

Wer sich auf Unbekanntes einlässt und seinen Horizont erweitert, kann Vieles dazulernen. Jede*r, die Entscheidungen treffen darf, hat die Verantwortung, etwas zu verbessern, wenn es machbar ist. Seine Grenzen definiert jeder für sich selbst — und nicht für andere! Die Möglichkeiten, die wir eröffnen, wenn wir an alle denken, sind grenzenlos!

Jede Entscheidung, die wir als Gesellschaft (Pädagogen, Gestalter etc.) treffen, kann Hindernisse für die Teilhabe von Menschen erhöhen oder verringern. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, diese Hindernisse durch inklusive Beschulung, Produkte, Dienstleistungen, Umgebungen und Erfahrungen zu verringern.

Ich freue mich also auf eure Ideen und Anregungen: Wie und woran wollen wir gemeinsam in diesem Sinne arbeiten?

Unser neuester Streich:

Das erste inklusive ABC-Buch »Das Alphabet der unsichtbaren Dinge«. Denn: Gibt’s was noch nicht, dann muss man’s erfinden. Zum Beispiel ein Alphabet-Buch für alle Kinder! Von A wie Autsch bis Z wie Zeit.

Ellen Schweizer, schweizergestaltung.de
Design, consulting and support for an inclusive future.
#goinclusive

Heute ist übrigens Internationaler Kinderbuchtag!
Gerade an diesem Tag — und natürlich an jedem anderen — ist es wichtig, Aufmerksamkeit zu schaffen für die vielen fehlenden Bücher für blinde Kinder!

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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1 Kommentare

Tanja
Antworten 17. September 2020

Hallo!
Was für ein phantastisches Buch: Das Alphabet der unsichtbaren Dinge.

Der Opa unseres Sohnes ist vor 10 Jahren erblindet. Gerne würde ich etwas haben, dass er zusammen mit seinem Enkelkind (1. Schulklasse) zusammen »erfahren« kann und unserem Sohn deutlich macht, was Blind sein eigentlich alles bedeutet und wie man damit umgehen kann.

Habt ihr noch andere Tipps für uns? Das oben erwähnte Buch ist uns leider zu teuer. :( Der Opa kann auch keine Blindenschrift lesen, aber vielleicht gäbe ein gemeinsames Erleben ihm Antrieb, diese auch im Alter noch zu erlernen. Er ist eh ein belesener Mensch und pensionierter Lehrer.

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