Selbsthilfegruppe „Weltrettung“
„Hallo Bea“ … schreibt unsere unvergleichliche Marlene Hellene, mit deren Texten ihr hier schon mal sehr viel Spaß hattet…
„Dies ist ein Text“ …. au ja, ein Text, ein Text, ein Text von ihr!!!
„der auch in meinem neuen Buch, das im Juni 2020 bei Rowohlt erscheint, erscheinen wird.“ … darauf warten wir ALLE doch!
„Gerne kannst Du ihn auf den Blog nehmen unter Hinweis auf das alte und neue Buch“… so, wer jetzt das alte Buch Man bekommt ja so viel zurück: Leitfaden für verwirrte Mütter * von Marlene nicht hat: Es wird langsam Zeit! Und was das Neue anbelangt: JA, MARLENE, auch dazu wird’s langsam Zeit!
„Er knüpft an das Küchenrollen Thema an, das ihr kürzlich hattet.“
So und hier ist DER Text! Von DER Marlene! Viel Spaß!
Selbsthilfegruppe „Weltrettung“
Stellen Sie sich einen karg eingerichteten Raum im Keller eines beliebigen Gemeindezentrums vor. Eine Gruppe von Menschen aller Altersklassen sitzt in einem Stuhlkreis. Manche halten Kaffeebecher in ihren Händen. Manche essen trockene Kekse. Auf den ersten Blick erschließt sich nicht, was diese Leute da machen, was sie zusammenführt. Bis eine blonde, mittelalte (aber sehr jung aussehende) Frau sich zaghaft erhebt und die folgenden Worte sagt:
„Hallo, ich heiße Marlene und ich bin süchtig nach Küchenrolle“.
Applaus ertönt, „Willkommen, Marlene“-Rufe erklingen.
So könnte ein Film beginnen. Ein Film über mein Leben (interessierte Filmproduzenten richten Ihre Anfrage gerne an mich, ach aber bitte nicht die Ferres als Marlene). Seit ich Mutter bin ist mein Verbrauch von Küchenrolle um tausend Prozent angestiegen. Ich habe Küchenrollenherstellern durch meinen Bedarf Villen und Luxusautos finanziert. Manchen sogar Koks und Nutten.
Küchenrolle eignet sich nämlich hervorragend dazu, schnell mal Kinderkotze, verschüttete Getränke, Pippi neben der Toilette und Nudelauflauf auf dem Fußboden zu beseitigen. Sogar die Kinder selbst bekommt man damit prima sauber. Schokomünder und Matschehände lassen sich mit Küchenrolle einfach und effektiv reinigen. Auch Rotznasen können damit geputzt werden. Ich gebe es zu, ich habe mir sogar mit Küchenrolle manchmal die Hände abgetrocknet. Ja, ich liebe Küchenrolle.
Aber damit muss Schluß sein. Küchenrolle ist nämlich nicht nur super praktisch, sondern auch super schlecht für die Umwelt.
Die Papierindustrie gehört laut Umweltbundesamt zu den fünf energieintensivsten Branchen in Deutschland. Zur Herstellung von Papier bedarf es einer enormen Menge an Wasser, Strom und Chemikalien. Und was wirklich erschreckend ist: Jeder fünfte Baum, der gefällt wird, verliert sein fröhliches Baumleben für die Herstellung von Papier.
Ich mag Bäume.
Und nicht nur, weil sie schön aussehen und mir so manches leckere Obst schenken. Bäume produzieren Sauerstoff. Das ist diese Photosynthese Sache. Sie erinnern sich? Biologie siebte Klasse. Ein Baum produziert am Tag ungefähr den Sauerstoff für fünfzehn Menschen (ZDFtivi, logo!).
Ich für meinen Teil atme wirklich sehr gerne. Und richtig gut finde ich es auch, wenn die Menschen, die ich liebe, atmen.
Meine Kinder sollen zum Beispiel noch viele viele Jahre atmen können. Und wenn man sich diese ganze Baumsterben und Sauerstoff Sache mal so durch den Kopf gehen lässt, fällt das Küchenrolle aufgeben gar nicht mehr so schwer, oder?!
Es ist ja auch jetzt nicht so, dass es keine Alternativen zum Einwegpapier gäbe. Die Kinderkotze muss trotzdem nicht für immer auf ihrer Schulter kleben bleiben. Man kann einfach ein wiederverwertbares Stofftuch benutzen, einen Schwamm oder beliebigen Lappen.
Das Zauberwort heißt dabei wiederverwertbar.
Natürlich muss so ein Tuch gelegentlich gewaschen werden. Das belastet die Umwelt aber weit weniger, als ein Wegwerfprodukt es tut.
Inhaltlich bin ich schon einmal überzeugt vom Küchenrollenverzicht, jetzt muss ich nur noch meinen Ekel vor bereits benutzen Tüchern in den Griff bekommen. Ich stelle mir beim Anblick von Schwämmen und Lappen nämlich unzählige Bakterienfamilien vor. Widerliche, mikroskopisch kleine Wesen, die sich im dreckigen, feuchten Textil pudelwohl fühlen und nur darauf warten, auf meine Hände übersiedeln zu dürfen.
Brrrrrr! Bei der Vorstellung schüttelt es mich richtiggehend.
Allerdings fasse ich ohne Ekelprobleme die Türklinke des Kindergartens an. Und die ist wahrscheinlich das Mutterschiff aller Bakterien. Da wird der Lappen und seine kleinen lebendigen Bewohner mich bestimmt nicht gleich umbringen. Eher sterbe ich an Sauerstoffunterversorgung durch das Fehlen von Bäumen.
Das Thema Umweltschutz begegnet einem seit einigen Jahren verstärkt. In den sozialen Netzwerken tauschen sich Menschen über „zero waste“-Themen und Nachhaltigkeit aus, auf den Straßen versammeln sich Schüler, um sich für den Erhalt des Planeten einzusetzen und auf der ganzen Welt sorgt eine junge Frau mit ihren Forderungen zum Klimaschutz für Aufruhr bei alten weißen Männern in Chefsesseln (Greta Thunberg, I you read this, I love you).
Und auch als Mutter wurde ich plötzlich von allen Seiten damit konfrontiert, ich müsse etwas ändern.
Ich müsse Müll vermeiden, ich müsse auf mein Auto verzichten, ich müsse mein Konsumverhalten umstellen. Puh, hat mich das anfangs genervt. Was sollte ich denn noch alles tun? Eine gute Mutter, Ehefrau, Freundin, Arbeitnehmerin und Autorin sein und jetzt auch noch die Welt retten?
Mich setzte das total unter Druck.
Ich wollte mein Waschmittel nicht unter Zuhilfenahme von Kastanien selbst herstellen oder an meine Gäste Daunenjacken verteilen, damit ich auf das Heizen des Hauses verzichten kann. Ich war sowieso schon gestresst bis zum Anschlag. Durch Kinder, Arbeit und eigenes überleben. Sollte doch jemand anderes Bienen züchten und Kröten über die Straße tragen. Ich hatte keine Zeit für so etwas.
Ja, ich war richtig sauer. Wie viel Druck sollte denn noch auf die Schultern junger Mütter geladen werden?
Ständig wurde ihnen vermittelt, nicht gut genug zu sein. Weil sie keine Stoffwindeln benutzen, das Auto nicht stehen lassen oder beim Discounter einkaufen gehen. Ich sah überall Dogma und Extreme. Und doch ist etwas in mir passiert. Gegen meinen Trotz sind Erkenntnisse in mir gewachsen. Und zwar, dass wirklich jeder etwas ändern kann.
Dazu muss man sich auch gar nicht gleich radikalisieren.
Keiner erwartete von mir, in eine Selbstversorgerkommune in Brandenburg zu ziehen und nur noch von eigenem Kohl und Spiritualität zu leben. Es ist überhaupt nicht so schwer, seinen Alltag ein wenig umzustellen. Man kann sich einer anonymen Küchenrollenabhängigen Gruppe anschließen und Lappen benutzen. Feste Seife kaufen statt Duschgel in Plastikflaschen. Häufiger das Fahrrad oder die eigenen Beine benutzen und dem Auto Ruhe gönnen. Jute statt Plastik und Tupper statt Alufolie verwenden. Statt vier Spritzer Putzmittel reichen bestimmt auch zwei und für den Kaffee unterwegs nutzt man den hübschen Mehrwegbecher.
Ich könnte jetzt noch unzählige weitere derartige Ratschläge geben, aber das können andere viel besser, als ich (fragen Sie einfach mal unseren Freund das Internet, das ist voller toller und leicht umsetzbarer Tipps). Ich bin selber noch Anfängerin beim Thema Umweltschutz.
Und ich habe noch eine eigene große Baustelle zu bearbeiten. Es ist nämlich auch noch so:
„Hallo, ich heiße Marlene und ich bin online shopping süchtig.“.
Es wäre schön, wenn Sie mir jetzt etwas Applaus schenken würden. Danke. Meine Shopping-Sucht beschränkt sich hauptsächlich auf Bekleidung. Und das hat mein Internet mittlerweile auch schon verstanden mit seinen ganzen lustigen Algorithmen. Ich bekomme demnach ständig Werbung für coole Hosen, Blusen oder Kleider angezeigt, wodurch mein Begehren ständig aufs Neue geweckt wird.
ICH MUSS KAUFEN! Auf meiner Schulter sitzt eine kleine Vogue Moderedakteuerin und flüstert: „Nur noch dieses Teil, dann bist Du glücklich. Dann bist Du perfekt. Dann bist Du für jeden Anlass optisch gerüstet.“
Was die kleine Vogue Moderedakteuerin aber verschweigt ist, was übermäßiger Klamottenkonsum mit der Umwelt macht. Für die Herstellung von einem Kilo Baumwolle (zum Beispiel für Jeans oder Shirts) werden zehntausend Liter Wasser benötigt (umweltdialog.de). ZEHNTAUSEND LITER! Wie krass ist das denn? In nicht nur der hohe Wasserverbrauch ist belastend für die Umwelt. Für das Färben der Stoffe werden Chemikalien verwendet, die erstmal im Abwasser gelandet, Mensch und Umwelt massiv schaden können.
Seit ich mir das bewusst mache, schaffe ich es immer besser, meinen Konsum zu reduzieren beziehungsweise nachhaltiger zu konsumieren. Zum Beispiel second Hand. Auf Flohmärkten finden sich häufig die tollsten Schnäppchen. Mich macht ein Ausflug auf den Flohmarkt mittlerweile richtig glücklich. Das Stöbern und Schätze finden. Geld sparen und dabei nette Begegnungen haben.
Und auch bei Kinderkleidung finde ich second hand ideal. Schließlich wachsen Kinder in der Regel sowieso total schnell aus ihren Klamotten raus, sodass sich Neuware häufig schon finanziell gar nicht lohnt. Außerdem sind gebrauchte Kleidungsstücke schon oft gewaschen worden und dadurch mit viel weniger Chemie belastet, als erst kürzlich gefärbte und behandelte Produkte. Und auch meine Kinder lieben Flohmärkte. Sie dürfen selber aussuchen und finden häufig neben den notwendigen Klamotten noch ein tolles Buch oder heiß ersehntes Spielzeug. Denn auch Bücher oder Spielzeuge können durchaus durch mehrere Kinderhände wandern und müssen nicht nach einem Besitzer auf dem Müll landen. Denn auch dabei ändern sich Geschmäcker und Vorlieben meist recht schnell. Was dem einen nicht mehr gefällt, kann aber durchaus für den anderen noch einen Schatz darstellen. Damit sparen wir nicht nur Ressourcen zur Herstellung von neuer Ware, sondern vermeiden auch Müll.
Natürlich überkommt es mich manchmal noch und ich bestelle mir ein neues Teil für meinen Kleiderschrank. Das ist auch völlig in Ordnung. Ich darf mich daran auch ohne schlechtem Gewissen erfreuen. Wichtig ist, dass sich mein Bewusstsein verändert hat.
Ich überlege vor dem Konsum, brauche ich das, gibt es eine Alternative, kann ich vielleicht verzichten? Ich habe in meinem Haushalt kleine Änderungen eingeführt, die mir nicht weh tun, keine Zeit oder Geld kosten, aber dem Umweltschutz dienen. Und dieses Bewusstsein pflanze ich weiter. In die Köpfe meiner Kinder. Kinder lieben die Natur. Kinder wollen sie nicht zerstören.
Und wegen unserer Kinder geht Umweltschutz uns alle an. Ihnen eine Zukunft zu ermöglichen, ist unsere Hauptaufgabe.
Jeder geht diesen Weg anders, jeder individuell. Ob Selbstversorgerkommune oder einfach erstmal nur bewusster mit Gütern umgehen, Müll vermeiden oder Fahrrad statt Auto fahren. Wir gehen alle in die selbe Richtung. In dem Tempo, in dem es uns möglich ist. Und dafür haben wir alle Applaus verdient.
Nur stehen bleiben und Augen verschließen, das gilt nicht.
Eure Marlene Hellene
Mit dem „alten Buch“: Man bekommt ja so viel zurück: Leitfaden für verwirrte Mütter*
und ich, Béa, bin gespannt, wie das neue Buch dann heißen wird.
Wie seht ihr das mit der Küchenrolle und den Klamotten? Seid ihr Teil der Selbsthilfegruppe „Weltrettung“?
*Affiliate Links, also Mini-Werbung – die Bücher gibt’s aber auch in Buchhandlung…
Laura
29. Oktober 2019keiner kann ernste Themen so humorvoll und doch tiefgründig beschreiben wie du, du Goldstück. Wären alle Menschen im Internet so, der Weltfrieden wäre nah. Danke!
Rainer Ostendorf
20. November 2019Wow! Das ein Baum täglich für 15 Menschen Sauerstoff produziert hätte ich nicht gedacht. Vielen Dank für den humorvollen und informatieven Artikel. Schöne Grüsse aus Osnabrück