Wenn die Großeltern an Alzheimer erkranken – aus der Sicht eines Kindes
Hin und wieder schreibt Yvonne über ihre Erfahrung mit Demenz. All diese Beiträge sind schmerzvoll für mich, weshalb ich sie meistens meide… Nun aber habe ich mich dazu entschlossen, auch meine Erfahrung zum Thema Alzheimer zu teilen, weil ich die Sicht eines Kindes wichtig finde.
Meine Großmutter erkrankte schon in frühen Jahren an Alzheimer.
Sie war vielleicht Mitte bis Ende 60 und noch sehr fit und vital. Aber ihr Gedächtnis ließ stark nach. Die meisten von uns Enkeln erinnern sich gar nicht mehr an ihren „klaren“ Zustand, aber da ich zu den Ältesten gehörte, weiß ich immerhin mehr als die anderen. Zum Beispiel erinnere ich mich an den Geschmack ihrer unglaublichen Nudelsuppe. Oder, wie sie mir die Haare flocht und es dabei nicht so sehr ziepte wie bei meiner Mutter.
Doch die meisten Erinnerungen handeln von ihrer Demenz.
Ich war etwa 5 oder 6, als die ersten Symptome eintraten. Sachen verlegen, wirr sprechen, vergessen. Uns Kindern fiel das alles am Anfang nicht auf. Unsere Eltern bemühten sich, es nicht zu sehr vor uns zu zeigen. Eines Tages aber konnten sie es gar nicht mehr verbergen. Wir wurden dazu aufgefordert, überall im Haus nach Dingen zu suchen, die meine Oma möglicherweise verlegt hatte.
Eines Tages fing sie an, mit ihrem Spiegelbild zu sprechen.
Ich wusste zwar, dass das ungewöhnlich war, aber ich machte mir nichts daraus. Wir Kinder lachten manchmal sogar darüber, unwissend, wie es ihr dabei ging und was sie dachte. Ob sie überhaupt merkte, was sie tat? Ob sie ahnte, dass sie mit sich selbst sprach? Ob sie jemanden in ihrem Spiegelbild erkannte? Ich zerbrach mir den Kopf, ohne, dass mir jemand eine Antwort geben konnte.
Dann verschwand sie immer wieder spurlos.
Es gab eine Zeit, in der meine Schwester und ich die letzten im Hort waren, weil meine Mutter dabei war, meine Oma zu suchen, die einfach nicht mehr zu Hause war. Die Polizei fand sie an den verschiedensten Orten. In der Stadt, auf der Straße, auf den Gleisen…
Meine Mutter war völlig verzweifelt. Sie hatte einen Job, wir Kinder waren in der Kita oder Schule, und meine Oma den ganzen Tag allein zu Hause. Was also tun? Sie in ein Heim zu schicken war für meine Mutter ausgeschlossen. Sie kommt aus einem anderen Kulturkreis, in dem es selbstverständlich ist, sich um seine Eltern zu kümmern, wenn sie alt werden. Außerdem wusste meine Mutter, dass meine Oma das nie gewollt hätte.
Nach langer Überlegung zog sie zurück nach Marokko.
Die Entscheidung war alles andere als leicht, aber bei meinen Verwandten war sie besser aufgehoben. Sie benötigte permanente Betreuung und meine Familie dachte nicht daran, sie in ein Heim zu schicken. Und auch wenn es niemand zugab, war es auch für uns leichter. Die Sehnsucht nach meiner Oma war natürlich trotzdem da, aber ein bisschen Erleichterung empfand ich schon.
Ich unterhielt mich trotzdem gern mit ihr.
Meine Oma wusste zwar nicht, wer ich war, doch sie hörte immer zu und lachte, wenn ich lachte. Oft hatte ich den Eindruck, dass sie in einer anderen Zeit feststeckte. Sie sprach sehr oft von ihrem Vater, den sie schon als Kind verlor. Ihre eigenen Kinder erkannte sie auch nicht. Trotzdem versuchte ich mit meiner kindlichen Naivität, sie zum Erinnern zu bringen.
„Ich bin’s, Mounia! Erkennst du mich?“
Sie nickte, aber ich wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wer ich war. Jedes Mal brach es mir das Herz, denn meine Oma war der niedlichste Mensch, den es gab.
Mit den Jahren wurde es immer schlimmer.
Gegen Ende konnte sie sich nicht mehr ihr Gebiss einsetzen lassen, weil sie zu große Angst davor hatte, dass ihr jemand etwas in den Mund steckte. Also aß sie nur noch brei-artige Kost. Und auch sonst war es nicht leicht. Meine Oma war nicht mehr mobil. Sie konnte keine Treppen mehr steigen und musste getragen werden. Wenn meine Familie einen Ausflug machte, musste immer einer aussetzen und bei ihr bleiben. Es war so schade, dass dieser wunderbare Mensch zu einer Belastung wurde.
Vielleicht denken jetzt einige von euch: „Warum habt ihr sie nicht in ein Heim geschickt?“
Wie gesagt: Andere Kulturen, andere Sitten. Für meine Familie kam es nicht infrage, meine Oma, die sich ihr ganzes Leben lang um andere gekümmert hatte, plötzlich in ein Heim mit anderen Menschen zu schicken.
Als sie von uns ging, hinterließ sie ein riesiges Loch in meiner Brust.
Plötzlich erinnerte ich mich wieder deutlich an die Zeit vor ihrer Krankheit. Alles kam wieder hoch. Das unverkennbare Klatschen ihrer Hände zu arabischer Musik sowie ihre unglaublichen Kochkünste!
Seit ich denken kann, habe ich Angst davor, dass meine Eltern an Alzheimer erkranken könnten.
Jetzt, wo sie immer älter werden, frage ich mich, ob es eines Tages bei ihnen ausbrechen könnte. Wann immer meine Mutter ihre Schlüssel vergisst oder verlegt, gerate ich in Alarmbereitschaft und bekomme Panik. Wann immer mein Vater zu lange nach dem richtigen Wort sucht oder den Faden verliert, bleibt mein Herz ganz kurz stehen. Ich habe riesige Angst davor, dass es sie treffen könnte. Dass sie mich vergessen könnten.
Und auch ich habe Angst, dass ich eines Tages vergessen werde.
Seit ich denken kann, schreibe ich Tagebuch. Ich tue das unter anderem auch, weil ich mich erinnern möchte. In meinem Freundeskreis gelte ich als „Elefantenhirn“, weil ich ein ziemlich gutes Langzeitgedächtnis habe. Ich bemühe mich, die Erinnerung festzuhalten und nicht zu vergessen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich es vermutlich ohnehin nicht verhindern kann.
Ich wünschte, das man mit uns früher über Demenz geredet hätte.
Das soll keinesfalls ein Vorwurf gegen meine Familie sein, denn sie hatten mit diesem Schock gleichermaßen zu kämpfen. Aber all das mit dem Spiegel reden und abhauen war aus der Sicht des Kindes so surreal. Vielleicht hätte ich besser damit umgehen können, wenn ich dieses eine Gespräch gehabt hätte, in dem es mir etwa so erklärt worden wäre:
„Deine Oma hat Alzheimer. Das bedeutet, dass sie vieles vergessen und nicht mehr so sein wird, wie du sie kennst. Im Herzen wird sie sich aber immer an dich erinnern können, sie wird es nur nicht mehr so kommunizieren. Alzheimer ist nichts Ungewöhnliches. Viele Menschen bekommen das im Alter. Es ist leider noch nicht behandelbar, aber wer weiß, was die Zukunft bringt.“
Habt ihr auch Erfahrung mit Demenz? Wie ist das Ganze für eure Kinder?
Falls ihr ein paar Tipps wollt, wie ihr mit Kindern über Demenz sprechen könnt, dann schaut gerne mal hier vorbei!
Liebe Grüße
Mounia
- 18. Dec 2019
- 1 Kommentar
- 2
- Alzheimer, Demenz, Oma Alzheimer
Andrea
19. Dezember 2019Vielen Dank für diesen Artikel, meine Mama ist noch keine 60 und es wurde Alzheimer diagnostiziert. Derzeit ist sie noch recht selbstständig, aber man bemerkt Wesenveränderungen. Sie benimmt sich anders als ich das gewohnt war. Das ist sehr schwer für alle. Unsere Kinder sind 9 und 6 Jahre alt und wir haben es ihnen von Anfang an erklärt was vorsich geht und dass es eine Krankheit ist, dass die Oma anders ist. Die Kleinere wendet sich eher ab, sie meint die Oma sei komisch. Die Große hat Mitgefühl ist immer da um zu helfen. Ich würde es immer Mut den Kindern besprechen, ab einem gewissen Alter natürlich. Ich finde das wichtig.
LG Andrea