Wie ich ein Lern-Junkie wurde – warum Lernen für mich pures Glück ist


Ihr habt gesagt, ich soll euch noch mehr aus meiner Geschichte erzählen… Von der Flucht aus Rumänien und dem Verlust meiner Eltern habt ihr schon gelesen, und die Wurzeln meiner Resilienz habe ich euch auch mal auf sehr emotionale Weise verraten.

Heute möchte ich euch erzählen, warum Lernen an sich etwas ist, was mir Glücksgefühle verschafft – und Unglück verjagt.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Lernen und Bildung ein Wert an sich waren: Mein Papa war Professor für Architektur- und Kunstgeschichte, meine Großmutter mütterlicherseits Lehrerin für Rumänisch und Latein. Ich wurde für jeden Lernfortschritt ermuntert und gelobt!

Aber die Schlüsselerlebnisse kamen in der schwersten Zeit meines Lebens:

Nach dem Tod meines Vaters als ich 12 Jahre alt war und während der schweren Krebskrankheit meiner Mutter in den Jahren darauf merkte ich, dass Hausaufgaben nicht so eine doofe Sache waren, wie ich in meiner unbeschwerteren Kindheit angenommen hatte. Gerade komplizierte Mathe-Aufgaben waren ein Segen, sie lenkten mich ab und ich konnte meine grauen Zellen darin vertiefen, Lösungen finden und…  tadaaa! Ich fühlte mich gut.

Nein, ich wurde nicht zum Streber – ich war immer noch genug draußen mit den anderen Kindern, und auf dem Basketballplatz. Aber gerade Abends wenn ich nur allein mit meiner leidenden Ma war, war so eine knobelige Matheaufgabe die Lösung – nicht nur für mich, auch sie lies sich gut und gern damit ablenken.

Als dann meine Mutter am Krebs starb als ich 15 Jahre alt war und ich nach Deutschland floh zur Familie meiner Schwester, wurde Lernen für mich noch wichtiger: Ich war begeistert von der westlichen Kultur und wollte unbedingt mit den Menschen kommunizieren, eine normale Schullaufbahn haben und integriert sein. Ich war motiviert!

Die Sprache war überall um mich herum, in der Familie meiner Schwester sprachen ihre Kinder (damals 5 und 3, als ich kam) nur Deutsch und schon am ersten Tag drückten sie mir ihre Lieblingsbücher in die Hand mit der klaren Aufforderung: „Lies!“. Ich fing an, den deutschen Text vor mich hin zu radebrechen, und da Kinder ihr Bücher auswendig kennen, konnten sie mich verbessern. Und kugelten sich lachend auf dem Boden, als ich lustige Fehler machte.

Für mich waren die deutsche Sprache und das Lernen an sich meine psychische Rettung!

Wie ein Eichhörnchen lauter Nüsschen so sammelte ich Worte, Ausdrücke, Redewendungen… naja, viele bringe ich bis heute durcheinander, wenn ihr hier klickt, könnt ihr herzlich lachen.

So viele Menschen stöhnen, dass Deutsch eine doofe Sprache ist.
Ich war verzaubert von Anfang an.

Meine grauen Zellen spielten Lego! Ein Wort, noch ein Wort, aufeinander bauen, zack, da haben wir eine Wortkonstruktion: Der berühmte Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän, wow! Essen ist Nahrung, das Zeug zum Essen Nahrungsmittel – und wenn man das ganze nicht abkann ist das eine Nahrungsmittelunverträglichkeit…. cool!

Und hey, welche Sprache hat schon solche Anomalien wie Deutsch? Nehmen wir das Ding, mit dem wir ins Bett gehen: Ja, das Wort Pyjama gibt’s zwar auch, „pyjamas“, „pijama“,  etc – doch was sagen die Deutschen? Schlafanzug! Was für’n Zug? Pennen in der Bahn? Nein, ein Anzug! Ohne Krawatte. Zum Schlafen! Luuuustig.

Ich vergaß, mir Leid zu tun.

Ich war so beschäftigt mit Sprechen, Lesen, Verstehen, dass ich mich nicht als armes Waisenkind fühlte. Auch, wenn ich meine besten Freunde aus Rumänien arg vermisste, fand ich neue Altersgenossen, die es auf sich nahmen, mit mir zu reden, mich ins Kino und zu Parties mitzunehmen und mir ihre Welt zu eröffnen. Daraus entwickelten sich neue Freundschaften. Ich half mit Mathe (haha, die Lernkurve ist nie umsonst), Französisch (meine zweite Muttersprache neben Rumänisch) und Englisch (Jahrelanges TV ohne Synchronübersetzung und nur mit Untertiteln machten sich bezahlt) – und alle halfen mir mit Deutsch.

Natürlich hat es auch Frust-Momente gegeben, vor allem, wenn ich merkte, dass ich die gleichen Fehler immer wieder machte oder mir absolut ein bestimmtes Wissen fehlte… Wie sollte ich wissen, dass Mailand nicht irgendein kleines Reich im Norden ist wie Finnland oder Holland (Hallo? LAND?) sondern das mir bekannte Milano?

Doch im Großen und Ganzen war Lernen, vor allem Sprachen lernen pure Therapie, Glück, Antrieb und Selbstbestätigung.

Bis heute ist es so geblieben.

Ich lerne für mein Leben gern.

Wenn es mir nicht gut geht, schnappe ich mir etwas und lerne. Wenn ich ganz down bin, tut es schon ein Youtube-Video und zack, ich kann auf Vietnamesich oder Kisuaheli bis zwanzig zählen. Und auch wenn es mir gut geht, schnappe ich mir ständig was und lerne: Derzeit programmiere ich unseren Instant-Messenger Bot, mit dem ich euch auf dem Laufenden halte bei sinkender Facebook-Reichweite.

Und da ich in Teneriffa bin, lernen ich seit zwei Wochen Spanisch: Ich gehe brav vier Mal pro Woche zum Unterricht, versuche jede Konversation mit Einheimischen mitzunehmen, die möglich ist (Die Damen und Herren an der Fischtheke des lokalen Supermarktes sind sehr gern für ein Schwätzchen zu haben)… und schaue jeden Abend eine Folge der spanischen Serie Velvet auf Netflix – auf Spanisch, mit spanischen Untertiteln. Yeah! Ich liebe das!

Ich glaube, ich habe auch mein Kind angesteckt… wie genau, erzähle ich euch in einem anderen Blogpost.

Wer von euch liebt das Lernen auch? Und wie vermittelt ihr das euren Kindern? 

¡Saludos desde Tenerife y todo lo mejor!

Béa

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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10 Kommentare

BeaLuisa
Antworten 26. Februar 2018

Dankbar lese ich Deinen Beitrag. In nicht ganz so traurigen aber nicht weniger dramatischen Umständen aufgewachsen, wurde mir Lernen in all seinen Facetten ebenfalls der Rettungsanker und damit auch die Tür zur Welt. Das gute daran: es hört nicht auf!
Danke Dir für den persönlichen Artikel.

    Béa Beste
    Antworten 26. Februar 2018

    Oh ja, genau das finde ich wunderbar: Es hört nicht auf. Ich habe mir vorgenommen, auch noch mit 90 etwas zu lernen. Zum Beispiel KLavier! Oder ein anderes Instrument. Liebe Grüße, Béa

Petra
Antworten 3. März 2018

Hallo Bea,
ein wunderbarer Artikel. Lernen ist auch für mich etwas Fantastisches. Ich lerne andauernd neue Dinge.Habe mit 40 noch angefangen zu studieren und habe das Lernen - was läge auch näher- zum Job gemacht. Ich arbeite mit Kindern, denen es nicht leicht fällt zu lernen und versuche sie auf ihrem Weg ein Stückchen einfühlsam zu begleiten.

    Béa Beste
    Antworten 3. März 2018

    Vielen lieben Dank - du bist also Pädagogin geworden? Wie klasse! Liebe Grüße, Béa

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