Mein Weg mit Hochsensibilität: Wie ich meine Kindheit als HSP empfand
Auf euren Wunsch hin schreibt hier unsere Kolumnistin mindfulsun zum Thema Hochsensibilität – kurz HSP. Für mich sind das viele neue und besondere Informationen, vielleicht auch für euch?
Wie ich meine Hochsensibilität bemerkt habe? Diese Frage kam an mich aus der Community – und noch einige mehr zum Thema HSP (highly sensitive person). Das Thema ist sehr umfassend und ich werde dazu mehrere Beiträge schreiben, einer wird explizit zu hochsensiblen Kindern sein. Denn auch meine Söhne sind hochsensibel.
Und ich hoffe, ich kann sie auf ihrem Weg begleiten und ihre starken Persönlichkeiten gut unterstützen. Denn eines ist Hochsensibilität ganz sicher nicht: Schwäche. Und gerade auch sensible Männer (und eben die Jungs) sollten das wissen!
Hochsensibilität wird manchmal als Modeerscheinung abgetan und doch ist sie es nicht.
Mittlerweile wird dazu geforscht. Immerhin sind 15 bis 20 % der Weltbevölkerung hochsensibel. Eine gute und fundierte Lektüre ist für mich dieses Buch von Dr. Elaine Aron, eine kanadische Psychologin und Pionierin in der Forschung zu Hochsensibilität:
Auf ihrer Webseite könnt ihr einen ersten Test (auch für Kinder) finden und viele spannende Blogartikel: https://hsperson.com/
Mein „Weg“ als HSP:
Mein ganzes Leben lang glaubte ich, ich gehöre nicht wirklich hierher. Ich war immer anders als andere. Zu emotional, zu empfindlich, habe zu viel gegrübelt, mir über alles Gedanken gemacht. Ich bin melancholischer als andere Menschen, fühle mehr, tiefer und länger, bin empfindlich gegenüber Geräuschen und Licht. Ich habe auch eine niedrige Schmerzgrenze und bin sehr empfindlich gegenüber Medikamenten. Oft genug reicht für mich die Dosis für Babys aus, um zu wirken. Alles andere haut mich um. Mir also zum Beispiel nach Größe, Alter und Gewicht ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, ist mich komplett aus dem Verkehr zu ziehen. Elefantendosis für einen Spatz.
Heute weiß ich, dass andere hochsensible Menschen ebenso reagieren. Gerade die hohe Sensitivität, was Schmerzen betrifft.
Schon früh in meiner Kindheit war ich sehr empathisch. Damals kannte ich das Wort natürlich nicht.
Besonders Schmerz und Traurigkeit haben mich angezogen. Ich kam in einen Raum und habe die Stimmungen von Menschen gefühlt. Oft genug, zum Leidwesen meiner Eltern, bin ich zielgerichtet zu anderen Menschen gegangen, bei denen ich Schmerz und Traurigkeit fühlte. Und habe versucht sie zu trösten. Selbst in einem großen Raum waren solche Gefühle für mich wie ein Magnet. Sehr oft allerdings auch konnte ich mich nicht abgrenzen. Ich spürte diese intensiven Gefühle und dachte, es sind meine Eigenen. Ich war dann extrem traurig und wusste nicht mal warum.
Generell waren meine Gefühle intensiv und ich habe viel gegrübelt.
Selbst als Kind schon habe ich meinen Eltern philosophische Löcher in den Bauch gefragt. Oberflächliche Themen haben mich nie wirklich interessiert. Für mich waren schon frühzeitig soziale Gerechtigkeit, die Auseinandersetzung mit Tod und Krankheiten, wie funktioniert die Welt – die wichtigsten Themen.
Mit einem „Vorurteil“ möchte ich hier aufräumen. Nicht alle hochsensiblen Menschen sind extrem introvertiert und schüchtern. Ich bin es auch nicht.
Hochsensibilität ist individuell, es gibt auch extrovertierte hochsensible Menschen. Und alles in verschiedenen Abstufungen.
Ich habe versucht, mich anzupassen. Für mich banale und oberflächliche Themen, die andere in meiner Altersgruppe mit Begeisterung zelebrierten, waren mir oft ein Graus. Ich konnte nicht begreifen, dass für andere solche Themen so dermaßen wichtig waren. Da war ein großer Unterschied zwischen mir und den Gleichaltrigen. Oft kam ich mir sehr alt vor. Also zog ich mich auch viel zurück: in Bücher, Musik, in meine eigene Welt und habe angefangen selbst zu schreiben.
Was ich schon immer spürte, waren zwischenmenschliche Spannungen.
Für mich war es unerträglich, wenn mir dann gesagt wurde: Es ist alles in Ordnung. Ich konnte Feinheiten wahrnehmen, die kleinsten Schwingungen. Wenn ich es dann wiederholt ansprach, war die Reaktion: „Das bildest du dir ein. Sei nicht so sensibel.“ Was ich mir hier von meinen Eltern sehr gewünscht hätte, wäre altersgemäß: „Ja, mich beschäftigt etwas. Es hat nichts mit dir zu tun. Ja, mir geht es gerade nicht gut.“ Oder Ähnliches. Stattdessen haben mich Doppelbotschaften sehr zermürbt und sie tun es bis heute.
Was ich auch schon immer hatte, war ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach Stabilität. Überraschungen und Veränderungen, Aufregungen (auch positiv) haben mich komplett überrollt.
Viele neue Eindrücke und Informationen überfordern mich schnell und werden zu viel. Äußere Reize konnte ich (und kann ich teilweise noch) nur schwer und langsam verarbeiten.
„Du bist ja nicht belastbar“ habe ich sehr oft in meinem Leben gehört. Heute weiß ich: Wenn ich doch ein Vielfaches an Stimuli aufnehme, mehr als andere in der gleichen Zeit, bin ich natürlich auch eher erschöpft. Erst jetzt lerne ich langsam, damit umzugehen.
Sind Hochsensible schneller erschöpft? Auf mich trifft das 100 % zu. Ich brauche längere Pausen, gerade nach zwischenmenschlichen Interaktionen, die mit unangenehmen Gefühlen einhergehen.
Ich habe vieles meiner Hochsensibilität – auch die ausgeprägte Empathie – als Fluch angesehen. Heute weiß ich: Mich selbst nicht abgrenzen können von den Gefühlen anderer und dem, was in der Welt vor sich geht, hat dazu viel beigetragen.
Auch ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis und die Angst vor Konflikten haben mich schon als Kind begleitet.
Zwischenmenschliche Konflikte waren für mich der Horror. Ich konnte die intensiven unangenehmen Gefühle, die mich dabei überfluteten, nicht aushalten. Niemand hat mir beigebracht, wie das geht.
Verlust verursacht Schmerz – und das wollte ich stets umgehen. Ich wusste, die Gefühle werden sehr intensiv sein. Auch die Erwartung eines Verlustes war für mich deswegen schwer. Natürlich weiß ich heute, das Leben ist voller Veränderungen. Nur konnte ich auch schöne Momente kaum genießen, im Bewusstsein, sie sind wieder irgendwann vorbei. Damit habe ich mich selbst um viele schöne Erfahrungen gebracht.
Mit 16 dann kam die Depression. Diese überwältigenden Gefühle, diese Grübeleien – ohne Hilfe und Beistand und Anleitung, wie damit umgehen – führten in die Depression.
„Du bist zu emotional. Sei doch nicht immer so sensibel! Wieso kannst du nicht normal sein? Du bist das totale Sensibelchen!“
Wie oft ich das gehört habe.
Selbstzweifel und der Verlust von Selbstwertgefühl waren die Folge. Das hat mich mein ganzes Leben begleitet. „Mit mir stimmt was nicht!“ Davon war ich fest überzeugt.
Als dann im Rahmen einer psychologischen Sitzung das Wort: „Hochsensibel“ fiel, war ich überwältigt und erleichtert.
Lange habe ich gebraucht, um mich damit auseinanderzusetzen. Und ich tue es bis heute. Übrigens, die Hochsensibilität ist keine psychische Störung. Die Therapie habe ich aus anderen Gründen gemacht…
Natürlich hat meine Hochsensibilität auch wunderschöne Seiten und die möchte ich nicht missen. Wichtig ist die Balance und damit umgehen zu lernen. Grenzen setzen lernen, ist für mich sehr wichtig geworden. Und mich selbst annehmen, in meiner Hochsensibilität. Ich habe Frieden mit meinen Eltern geschlossen. Denn wohl der größte Schmerz für mich war: Sie haben mich nicht wirklich so angenommen, wie ich war.
Und da ich meinen Söhnen das geben wollte, was mir selbst in meiner Kindheit fehlte, empfehle ich hier noch ein Buch von Elaine Aron: „Hochsensible Eltern: Zwischen Empathie und Reizüberflutung – wie Sie ihrem Kind und sich selbst gerecht werden.“
Ich bin zu vielen neuen Erkenntnissen gekommen: Meine eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen sehr genau kennen und zu kommunizieren, hilft mir sehr! Ich brauche viele Pausen. Und ich muss sehr genau auf die Signale achten, die mir mein Körper und meine Seele schicken. Selbstfürsorge ist ein wichtiger Grundbaustein für mein Wohlergehen geworden.
Jeder hochsensible Mensch ist anders, jede Geschichte ist anders. Mögt ihr ein wenig von euch berichten? Und geht ihr mit eurer Hochsensibilität offen um? Lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen.
Eure
mindfulsun
Britta
9. März 2020Du schreibst mir aus der Seele. Ich bin heute 38 und weiß erst seit kurzem dass ich hochsensibel bin.
das größte Problem dabei ist dass ich zur Gruppe der extrovertierten gehöre und als "rampensau" mit Sicherheit niemals gedacht hätte , hochsensibel zu sein. ich habe mich einfach immer gefragt ,warum ich alles anders fühle und denke als der größte Teil um mich herum... Oft fühlte man sich wie ein außerirdischer unter anderen. So hat man auch viele Gedanken mit sich selber ausgemacht oder an sich gezweifelt. Ich habe auch nie verstanden warum ich so wild um mich geschlagen habe. Aber ich kam einfach mit vielen Situationen überhaupt nicht zurecht. und in der Pubertät wo man ja auch noch mit sich selber noch mehr zugange ist , war es ziemlich schwer. Aber auch mit Anfang 20, das erwachsen werden, schaffte einen ziemlich. Allerdings ist das schöne das man lernt sich selber Grenzen zu setzen. Sich selber mehr beobachtet was einem gut tut und was nicht. und was viel wichtiger ist, lernen Situationen auszuhalten ohne eine krasse Reaktion auszulösen. ich habe oft gedacht warum mich alles so tief traurig macht wie z.b. einen Streit und in dringenden Wunsch diesen zu bereinigen.
Was bei mir auch sehr ausgeprägt ist ist die lichtempfindlichkeit. Ich glaube ohne Sonnenbrille geht fast gar nichts sobald die Sonne scheint., direkt in die Sonne zu sehen fühlt sich an als würde die netzhaut verbrennen.
Ich empfinde Liebe als sehr kostbar und schön und intensiv und bin mir diese auch von Tag zu Tag bewusst. Das was ich schätze schätze ich stetig und nichts ist für mich selbstverständlich.
Ja so ein kleiner Auszug von mir... Ich finde erst klasse wie du die hochsensibilität erklärt und beschrieben hast. und ich hoffe dass es in der Gesellschaft noch mehr Verständnis dafür gibt.
Liebe Grüße Britta
Béa Beste
11. März 2020Antwort von mindfulsun: Liebe Britta, vielen Dank dafür, dass du das hier geteilt hast. Mich berühren die Erfahrungen anderer hochsensibler Menschen sehr.
Auch ich bin nicht die super introvertierte HSP! Ich brauche allerdings dann auch meinen Rückzug und Ruhe.
Und die Liebe, ja, die Liebe ist sehr intensiv. Das ist das Schöne an der Gabe.
Ich möchte mit solchen Beiträgen das Thema anderen Menschen einfach nahe bringen.
Hochsensiblen, die es noch nicht wissen und vielleicht mit sich selbst hadern. Und anderen Menschen, um dafür ein Gespür und Verständnis zu entwickeln. Und ich freue mich, wenn mir das ein wenig gelingt. Denn darüber zu schreiben, ist nicht so einfach.
Liebe Grüße
mindfulsun
Milli
10. März 2020Dein Artikel hat mich sehr berührt. Ich habe ein 8 jährigen Jungen. Bei ihm wurde mit 4 Melancholie diagnostiziert. Er ist auch sehr sensibel, wollte mit 3-4 Jahren kein Fleisch mehr essen. Er hat immer gesagt das er nicht will das Tiere für sein Essen sterben müssen. Das zog sich die Jahre über bis fast zu einer Essstörung hin da er kein Vertrauen mehr hatte und dachte überall wäre Fleisch drin. Mit seinen 8 Jahren hat er das jetzt zum Glück wieder im Griff. Jetzt steht es auch im Raum das er einfach "zu sensibel für diese Welt ist" von HSP hab ich heute das erst mal gehört. Viele der Beschreibungen passen zu ihm. Vielleicht kann ich ihm jetzt besser helfen sein Leben zu meistern, wenn ich mehr über die Krankheit heraus finde. Vielen Dank fürs teilen. Milli
Steffi
10. März 2020Hochsensibilität ist aber keine Krankheit, sondern einfach ein Aspekt des Wesens.
Béa Beste
11. März 2020Antwort von mindfulsun: Liebe Milli. Deine Antwort hat mich sehr berührt. Das Wichtigste: Hochsensibilität ist keine Krankheit! Es ist das Wesen deines Sohnes und es lässt sich nicht weg therapieren. Und das wäre schade, denn es ist auch eine wundervolle Gabe.
Du kannst ihm als Mutter zur Seite stehen und ihm mit Liebe, Geborgenheit, Emotionsregulation sehr viel geben. Ihn annehmen, wie er ist. Ihm nicht sagen, wie falsch seine Gefühle sind! Beibringen, wie er gesunde Grenzen setzen kann. Ich hatte das alles als Kind nicht, im Gegenteil, mir wurde es abgesprochen und ich wurde dafür verurteilt.
Die Autorin in meinem Beitrag hat auch ein Buch über hochsensible Kinder geschrieben und wie Eltern damit umgehen können:
https://amzn.to/3aEnAeu
Und noch eins zum Thema Fleisch. Ich bin hochsensibel und Veganerin. Ich kenne viele hochsensible Veganer. Einige haben sogar schon in der Kindheit auf Fleisch verzichtet, aus genau den Gründen, die deinem Kind am Herzen liegen. Es ist die Empathie mit den Tieren. Daran ist nichts falsch oder schlecht, sondern es ist etwas sehr Wertvolles. Und Kinder können ohne Fleisch ein sehr gesundes Leben führen, da gilt es dann auf einiges bei der Ernährung zu achten.
Ich freue mich jedes Mal wenn ich lese, dass Eltern ihre Kinder mit HSP unterstützen möchten. Diesen Wunsch spüre ich bei dir.
Liebe Grüße
mindfulsun
Rahel
16. November 2021Ich habe vorallem in den letzten Monaten gemerkt, wie viele Gefühle ich fühle und wie belastend das sein kann. Ich war schon immer sehr sensibel und habe mir Worte zu Herzen genommen und darüber nachgedacht. Ich habe immer mehr gemerkt, wie ich sehr ich Zuneigung und Nähe brauche, um dadurch zu versuchen mir ein gutes Gefühl zu geben, um den Alltag bestreiten zu können, der mir oft schwer fällt, weil ich so viel fühle und mir alles schnell zu Herzen geht. Ich bin ein Mädchen im Teenageralter und das macht es natürlich nicht einfacher. Ich fühle mich oft so, als wäre ich anders als alle anderen. In Verdacht kam mir zusätzlich Hochbegabung und Hochsensibilität. Mit beidem kann ich mich sehr gut identifizieren. Meine Eltern haben es nie wirklich verstanden, wenn ich es versucht habe zu erklären, weshalb ich ihnen zwar nicht böse bin, aber es oft verletztend ist. Ich bin noch dabei und relativ am Anfang, dass Ganze zu schätzen und lieben zu lernen,aber ich versuche dran zu bleiben.
Ich hab mich hier etwas mehr verstanden gefühlt, danke dafür! :)
mindfulsun
17. November 2021Liebe Rahel, vielen Dank für deine Antwort und ich freue mich, dass du dich hier verstanden fühlst. Es ist schon schmerzhaft, wenn die Umgebung
und gerade die Eltern das nicht können: sehen, verstehen, akzeptieren, darauf eingehen. Vor allem, weil es auch so schwierig ist, es selbst zu beschreiben.
Es gibt auch Gruppen im Internet, vielleicht auch für hochsensible Teenager. Und es gibt tolle Bücher! Vielleicht kannst du deine Eltern bitten, sie
dir zu kaufen. Und du könntest auch sagen: Ich würde mich freuen, wenn ihr das auch lest. Das würde mir helfen, mich euch verständlicher zu machen.
Bei Fragen bin ich hier! LG und alles Liebe, mindfulsun