Das Tagebuch des Kindes lesen – Auch moralisch verwerflich, wenn es um seine Gesundheit geht?
Ihr Lieben, ich stecke gerade in einem gewissen moralischen Konflikt. Als fleißige Tagebuchschreiberin weiß ich, dass es absolut tabu ist, die Tagebücher anderer zu lesen. Doch was ist, wenn mit dem Kind etwas nicht stimmt und es um seine Gesundheit geht?
In dieser Geschichte geht es nicht um mich, sondern um eine Freundin. Sie hat das Tagebuch ihrer Tochter gelesen, weil sie den Eindruck hatte, dass es ihr nicht gut geht. Auf diese Weise hat sie auch erfahren, dass ihre Tochter sich seit fast einem Jahr selbst verletzt. Obwohl sie zusammenwohnen, war es ihr nie aufgefallen.
Wie sich herausgestellt hat, war das Einbrechen der Privatsphäre das Beste, was sie tun konnte.
Denn von nun an konnte sie besser auf ihre Tochter zugehen. Sie nahm Rücksicht und baute die Beziehung zu ihr so stark auf, dass die Tochter selbst es einige Wochen später mit ihr teilte. Jetzt befinden sie sich wieder auf dem Weg der Besserung. Die Tochter hat einer Therapie zugestimmt und arbeitet an ihrer Gesundheit. Meine Freundin liest allerdings immer noch in ihrem Tagebuch. Es ist fast wie ein Zwang, nichts zu übersehen. Sie macht es nicht aus Neugier, sondern aus Angst um ihr Kind.
So, und nun geht die Debatte los: Lesen oder nicht lesen, das ist hier die Frage!
Ich führe wie gesagt selbst einen Batzen Tagebücher. Und wisst ihr was? Ich bin heilfroh, dass sie noch niemand zu Gesicht bekommen hat. Ich habe immer für mich geschrieben – von meinen tiefsten Träumen und dunkelsten Abgründen. Und da ohnehin nur ich es las, war ich manchmal auch nicht gerade nett. Obwohl ich keine Kraftausdrücke verwende, tue ich es vor meinem Tagebuch schon. Wenn meine Mutter jemals mein Tagebuch gelesen und erfahren hätte, wie ich sie manchmal genannt habe, wären ihr vermutlich die Augen aus dem Kopf gefallen. Aber gerade deshalb konnte ich auch so ehrlich sein – weil ich wusste, dass es niemand lesen würde. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie betrogen ich mich gefühlt hätte, wenn jemand anderes darin gelesen hätte. Nicht nur hätten sie meine verletzlichste Seite gelesen, sie hätten mein Vertrauen missbraucht.
Und doch las auch ich einmal das Tagebuch eines anderen.
Meiner Schwester, um genau zu sein. Ich bin nicht stolz darauf und es war auch nur ein Mal. Der Grund war, dass sie sich in einer sehr schwierigen Phase befand und ich mir Sorgen um sie machte. Sie sprach nicht mehr mit mir, hing mit neuen Freunden ab und machte Dinge, die ganz untypisch für sie waren. Also warf ich meine Moral über Bord, las in ihrem Tagebuch und fand sogar die Quelle des Ganzen.
Als ich ihr beichtete, dass ich wusste was los war, weil ich in ihrem Tagebuch gelesen hatte, war sie verständlicherweise außer sich. Sie sprach tagelang nicht mehr mit mir, doch sie verzieh mir. Und dann sprachen wir darüber und fanden eine Lösung. Bis heute bereue ich die Tat nicht wirklich, weil ich der Meinung bin, dass es das einzig richtige war. Meine Freundin fühlt sich auch nicht schuldig. Sie liest darin nicht aus Interesse, sondern aus Sorge.
Und doch fühlt es sich nicht richtig an.
Was wäre, wenn unsere Mails und Telefonate von nun an immer abgehört werden würden? Was, wenn jeder wüsste, was ich meiner Freundin ins Ohr flüsterte? Was wenn jemand meine Gedanken lesen könnte? Was bliebe mir noch, wenn alles von mir aufgedeckt wäre?
Ich habe keine Ahnung. Und auch keine Lösung. Ich schreibe Tagebuch und will nicht, dass jemand darin liest. Wenn ich ein Kind hätte, dass Tagebuch schreibt, würde ich es nicht lesen wollen. Aber wenn es um die Gesundheit geht?
Ich schließe diese Debatte mit ganz vielen Fragezeichen im Kopf und gebe das Mikro nun an euch weiter. Was ist eure Meinung? Findet ihr es „okay“, in Sonderfällen ins Tagebuch des Kindes zu schauen?
Hier findet ihr meinen Beitrag zu meiner Tagebuchliebe:
Das Tagebuch – mein Freund, Ventil und Begleiter in der Jugend
Liebe Grüße
Mounia
Doreen
1. Juni 2020Das geht gar nicht, das Tsgebuch zu lesen. Und mich schlimmer ist, dass die es immer noch macht.
Deine Freundin sollte einen Weg finden eine gesunde, vertrauensvolle Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen und der Tochter dann zu Vertrauen, das sie mit ihr spricht, wenn es notwendig ist . Wieso war es erst notwendig in dem Tagebuch zu lesen, um anschließend Feinfühlig auf die Tochter einzugehen.
Das hört sich für mich alles sehr nach einer wenig gleichwürdigen Beziehung an.
Angst ist nie ein guter Ratgeber.
Mounia
1. Juni 2020Danke für deinen Kommentar, liebe Doreen. Dein Satz, dass Angst nie ein guter Ratgeber ist, finde ich sehr wahr und treffend! Ich bin sehr zwiespaltigen, was das Ganze angeht, aber ich glaube, ich finde es auch nicht okay, dass das Lesen weiterhin stattfindet. Es ist eben ein krasses Einschreiten in die Privatsphäre.
Liebe Grüße!
Trexler Roswitha
1. Juni 2020ich habe lange Jahre auch Tagebuch geschrieben ...ich hätte nicht wollen, das das jemand liest.... ab 18Jahren: auf keinen Fall
darunter: wenn ich den absoluten Verdacht als Mutter habe, dass mein Kind Suizidgedanken hat....
Mounia
2. Juni 2020Ich glaube, deine Entscheidung ist nachvollziehbar. Wenn es um das Leben des Kindes geht, werden so manche Normen über Bord geworfen. Liebe Grüße!
Steph
2. Juni 2020Mein Tagebuch wurde gelesen, als ich Teenager war. Auch, um zu "helfen". Und bis heute hat das eine Auswirkung auf unsere Beziehung. Das Tagebuch schreibe ich in der Annahme, dass es niemand liest (sofern ich es nicht selbst zum Lesen freigebe). Dementsprechend ist es ein absolutes No-Go, das ungefragt zu tun.
Dies mit der Begründung zu tun, man wisse nicht, was los sei, macht es nicht besser. Denn dann stimmt ja generell in der Beziehungsebene nicht und es bedarf ganz anderer Herangehensweisen als der Vertrauensbasis noch einen Knacks zu verpassen. Wenn man wirklich helfen möchte, hilft nur eine offene Kommunikation. Das Übermitteln der eigenen Sorgen, ohne die betreffende Person in die Enge zu treiben. Und mit ernsthaften Interesse an deren Gefühlen, Gründen usw. Und ohne Verurteilungen.. Ich hätte mir damals einfach jemanden gewünscht, der mir zuhört und mich ernst nimmt. Das hätte die Situation durchaus entschärfen können.
So neugierig, wie ich bin, würde ich das nie bei meinen Kindern tun. Aber aus mir spricht eben auch ein gebranntes Kind.
Mounia
2. Juni 2020Danke für deine ehrlichen Worte! Ich kann dir eigentlich nur zustimmen - offene Kommunikation ist unsagbar wichtig! Alles andere ist eine Verletzung der Privatsphäre. Liebe Grüße!
Nina
3. Juni 2020Meine Eltern haben mein Tagebuch auch zu einem Zeitpunkt gelesen, an dem ich Suizidgedanken gehegt habe, weil es mir mit ihnen so schlecht ging. Geändert hat sich zu Hause nichts, aber als meine Schwester mir verraten hat, dass unsere Eltern mitlesen, konnte ich nicht mehr schreiben. So haben sie mir dieses Ventil, um mit dem ganzen Ärger und Frust umgehen zu können, genommen. Danach ging es mir noch schlechter.
Wenn dieser Vertrauensbruch genutzt wird, um dem Kind zu helfen, mag das vielleicht okay sein. Sonst definitiv nicht!
Mini
3. Juni 2020Meine Mutter hat mein Tagebuch gelesen als ich 13 war. Sie war anschließend sehr wütend auf mich da in dem Tagebuch Dinge über sie standen, zb dass ich traurig wegen ihr war weil sie mir grundsätzlich nicht erlaubte zu anderen Kindern zu gehen. Sie war sehr gluckig und hatte einen Kontrollzwang. Aber anstatt über sich nachzudenken, ob sie vielleicht etwas falsch machte, wurde ich bestraft weil ich etwas "böses" über sie geschrieben habe.
Aus meiner Sicht ist es einfach nicht in Ordnung das Tagebuch einer anderen Person zu lesen. Ich habe übrigens danach nie wieder Dinge aufgeschrieben, die mich belastet haben, aus Angst jemand könnte sie lesen.
Liebe Grüße
S.Scholz
3. Juni 2020Ich fand es schrecklich - Meine Mutter konfrontierte mich auch mit dem Inhalt und hatte gar kein Verständnis für meine Situation- reden konnte ich mit ihr nicht. Es ging da auch um die Scheidung meiner Eltern .Letztendlich hab ich eine Geheimschrift entwickelt, da war ich 14. Den Vertrauensbruch konnte ich ihr nicht verzeihen- ich denke sie hat sich sehr geargert, als sie da nicht mehr an Informationen kam.Ich beherrsche die Schrift immer noch...Ich hab mich natürlich noch mehr von Ihr zurück gezogen.. Ich zog mit 19 aus..so schnell wie es ging. Vielleicht hätte sie das auch lieber für sich behalten sollen..wer weiß - wie sich unser Verhältnis entwickelt hätte- wenn ich das Gefühl gehabt hätte- Ihr vertrauen zu können. Ich schreibe bis heute kein Tagebuch mehr..
Sabrina
5. Juni 2020Hallo, ich würde sagen mittlerweile ist es nicht mehr die Sorge sondern der Drang nach Kontrolle, der sie weiterlesen lässt und das ist für beide nicht gesund. In meinen Augen ist einmal vertretbar, wenn man merkt, dass mit einer geliebten Person etwas nicht stimmt, diese es aber einfach nicht schafft sich zu öffnen. Der Kern des Problems wurde in diesem Fall aber doch erkannt und die Beziehung bessert sich, also sollte die Vertrauensbasis auf beiden Seiten gefestigt werden. Bekommt die Kurze irgendwie raus, dass ihre Mutter in ihrem Tagebuch liest, ist wahrscheinlich die komplette Vertrauensbasis dahin und wer weiß, ob sich der Bruch dann noch mal reparieren lässt.
Mounia
5. Juni 2020Liebe Sabrina, da stimme ich dir zu. Vermutlich hat sich die Angst so sehr manifestiert, dass sie alles (auch Grenzüberschreitungen) rechtfertigt. Ich will mir auch nicht vorstellen, was passiert, wenn das jemand rauskommen sollte...
Liebe Grüße, Mounia
Sue37
25. Januar 2022Ich habe in meiner Jugend auch meine Gedanken und Gefühle aufgeschrieben. Als ventil und Hilflosigkeit. Dinge die ich nie sagen oder erwähnen konnte . Und im Nachhinein wenn ich überlege hätte ich mir gewünscht dass es jemand liest. Und mir hilft und mich daraus holt aus diesem loch.. wenn es jemand getan hätte aus Sorge könnte ich sehrwohl damit leben