Das Kulturgeschenk – ein Gastbeitrag
Frau, Mitte 40, geschieden, 3 Kinder. Nun kommt Er, der Unbekannte aus einer unbekannten, fernen Kultur. Der eigentlich nur zum Forschen nach Deutschland gekommen ist. Hier begegnet er nun einer Frau mit Kindern und Familie, die ihn alle mit offenen Armen aufnehmen, an ihm interessiert sind.
Warum diese Beziehung keine Chance auf eine Zukunft hat, versuchte unsere Leserin selbst aufzuschreiben.
Lest selbst:
Das Kulturgeschenk
Wenn man betrachtet, wie wenig wir über unsere Kultur nachdenken, sie einfach so nehmen, wie sie ist. Und plötzlich werden wir aus unserem Kulturschlaf geweckt.
Bei allem Eifer mich kulturell zu reduzieren, kam mir eine andere Kultur sehr nah.
Freundschaften zu schließen in unserer bewegten Zeit ist eine Sache, wir füttern uns mit Wissen an *every place we are*. Wir wollen ihre Feste mitfeiern, ihre Früchte essen, ihre Weine trinken. Und wir flippen geradezu aus bei ihren Landesgerichten, wo auch immer und was auch immer. Das deutsche Essen steht im Ranking nicht ganz vorn, sicher. Ein English Breakfast ist als Tagesstart vor einer Sightseeing tour aber erlaubt. Und nicht zuletzt servieren wir die Früchte unserer Erkenntnis noch Wochen nach unserer Rückkehr aus überall unseren Freunden und Gästen.
Was ich aber erzählen möchte ist, dass es da die andere Begegnung mit fremden Kulturen gibt, in der man ungewollt oder besser unterbewusst gewollt der neuen Kultur zu nahe kommt. Genau das ist mir passiert.
Zuvor möchte ich den Tollabea-Artikel zu 10 Jahren Ehepartnerschaft kommentieren. Denn so sehr ich das Wohlgefühl einer stabilen vertrauten Ehe wertschätze und mir gewünscht hätte, meine Ehe hätte die 14 Jahre überdauert, so sehr habe ich auch beschlossen, die anderen Chancen des Lebens zu ergreifen. Was sonst könnte ich mir Gutes tun in diesem einen spannenden Leben…
Diese anderen Chancen sind, das Leben auch ohne Ehemann zu meistern, Freude und Leichtigkeit zu erleben, zu entspannen, auch wenn die Aufgaben des Kinder-allein-erziehens von inzwischen drei erwachsenen Kindern nicht enden. Und dann kam die andere Kultur ins Spiel, als ich so gar nicht damit rechnete… Aber wer rechnet schon mit so etwas.
Da stand er!
Da stand er, andersfarbig, sehr sympathisch, als ich mir mein 20 Minuten Training gönnte. Ich ahnte, da war etwas, was ich zu diesem Zeitpunkt dringend brauchte. Er sprach unsere Sprache noch nicht. Mein Job erfüllte mein quirliges Hirn schon lange nicht mehr und ich fühlte eine Chance, mein Englisch hervorzukramen. Wo war es nur? Sprache, selbst die eigene, war immer mein Steckenpferd, schon in der Schule. Damals faszinierten mich die Altsprachen Latein und Griechisch, aber Englisch ist einfach greifbarer. Zum Glück bin ich eine Frau, eine unterschätzte Voraussetzung zum Sprechen, denn wir haben immer etwas zu sagen.
Ich fragte ihn viel und verstand natürlich nicht alles. Also fragte ich wieder. Heute bin ich ihm dankbar, dass er seinen großen Wortschatz für mich reduzierte, vielleicht war es so für ihn auch leichter. Es ist mühsam alles zwei-, dreimal zu wiederholen.
Wir verbrachten die Zeit nach unserem Personal Training miteinander, sprachen über unsere Jobs, unsere spannende Vergangenheit, unsere lieben Kinder, unsere Freunde und unsere Familien.
Er erzählte mir seine Erwartungen an sein Leben hier, all seine Pläne, mit denen im Gepäck er nach Europa aufgebrochen war und genau genommen wollte er nicht viel.
Abgeworben von einem Kongress auf der anderen Halbkugel, nach Deutschland gelockt mit vielen Versprechen, hatten sich seine Träume nicht erfüllt, trotz harter, zeitaufwändiger und wissenschaftlich hochdotierter Arbeit. Natürlich hatte er sich nicht in alle Richtungen abgesichert, warum auch, man traut anderen immer nur das zu, was man selbst imstande ist zu tun.
Ich habe ihm oft erklären müssen, dass das, was ihm hier passierte, nichts mit seiner Herkunft zu tun hat. Das tun Deutsche auch miteinander und untereinander. Geglaubt hat er mir das wahrscheinlich bis heute nicht.
Seine Sehnsucht zurückzukehren wuchs
Seine Sehnsucht nach Australien zurück zu gehen wuchs von Woche zu Woche. Nur ist Australien nicht das Land seiner Wurzeln, das machte es nicht leichter.
Was ihm aber überall und bei allem Erlebten blieb, war und ist seine Kultur. Auch wenn er sein Geburtsland vor 20 Jahren verlassen hatte zum Studieren und Weiterstudieren, zum Arbeiten und Weiterarbeiten, so kam doch seine Kraft immer wieder durch die Ruhemomente seiner Religion, die tiefe Verbundenheit zu seiner großen Familie. Diese tiefe Erinnerung ist seine Energiequelle. Es hat mich beruhigt, ihn so zu sehen, denn ich konnte seine inneren Konflikte nicht lösen, aber sehen, wie sie sich aus eigener Kraft immer wieder auflösten.
Er hatte in vielen verschiedenen Ländern gelebt, hatte Kollegen in der ganzen Welt, blieb neugierig auf andere Nationen und deren Menschen und er war regelrecht gierig danach, europäische Landschaften und Kulturgüter, Bauwerke und Städte zu erleben.
Es war ein Genuss mit ihm zu reisen. Er staunte an den gleichen Orten über die gleichen Dinge, wie ich. Er hatte das schon gelernt, was ich unbedingt noch lernen wollte – Fotografieren, professionell oder zumindest annähernd und das bedeutet seine Augen zu benutzen.
Irgendwann begannen wir auch die Wochenenden miteinander zu verbringen. Meine Tochter, die letzte noch im Hause, nahm ihn herzlich auf und auch die anderen Kinder, wenn sie mal zu Besuch kamen. An diesen Tagen gab es dann deutsches Frühstück und warme deutsche Küche. Allerdings muss ich gestehen, ich bin kein Braten-und-Kloß-Koch. Für mich darf es auch Vegetarisch oder Trennkost inspiriert aus aller Herren Länder sein.
Einmal jedes Wochenende mindestens gingen wir in ein indisches Restaurant, um „the taste of India“ zu erleben. Dort konnte er in seiner Sprache sprechen, seine Musik aus „alten Tagen“ hören, durchaus auch mal bestimmen, wann die Scheiben gewechselt werden müsse, weil es doch schließlich keine Musik zum Essen wäre. Hier erkannte ich eine andere besondere Seite an ihm, die des starken, selbstbewussten Mannes. Nicht, dass er nur dort stark war, aber das fremd sein und vorsichtig an Neues herantasten, ließ ihn oft sehr zurückhalten erscheinen. Das fiel nun ab. Bei unserem ersten gemeinsamen Besuch mit meinen Töchtern, es war mein Geburtstag, demonstrierte er uns, welchen Wert die Servicekräfte (die indischen) für ihn hatten. Zum Glück wussten wir schon einiges über Kasten und Kastendenken. Wir waren etwas verwirrt, aber frei genug, ihn darauf anzusprechen. Diese Freiheit ist sicher deutsch. Er hat sich entschuldigt dafür, dass er uns dieses eigenartige Gefühl gab und hat das auch nie wieder getan. Im Gegenteil, wir sind beste Vertraute mit allen geworden. Heute ist es wie ein Ausflug zu Freunden, wenn wir Essen gehen. Das ist nicht deutsch.
Was ich zu diesem Zeitpunkt bereits verstand, war, dass es befreiend und entspannend ist, in seiner Muttersprache zu sprechen. Nach unseren ersten gemeinsamen Wochenenden in englischer Sprache brummte mir ordentlich der Schädel. Für meine Tochter dagegen war es großartig. Sie genoss es sichtlich, dass am Wochenende jetzt englisch gesprochen wurde und ging ab sofort ganz entspannt in den Englischunterricht. Ich muss gestehen, dass ich, was das Englisch sprechen betraf, sehr egoistisch war. Er wollte kein Deutsch lernen mit mir, ich würde zu kompliziert sprechen. Woher er das wohl wusste, und er meinte, ich wäre für ihn ein English teacher. Offensichtlich erinnerte ich ihn an eine Lehrerin aus seiner Schulzeit. War das vielleicht ein Kompliment? Eigentlich aber fühlte er sich nicht willkommen in Deutschland. Das Nicht-Deutsch-lernen-wollen war sein Boykott gegen all die Hoffnungen, die sich nicht unerfüllten. Natürlich belegte er online Sprachkurse, aber eben nicht bei mir.
Why are German people starring? Ich spürte es auch.
Wenige Monate später kamen noch viel mehr andere und das machte das bloße Gehen auf den Straßen unserer Kleinstadt unerträglich. Ich wich nicht von seiner Seite. Er war oft verstört und sagte immer wieder „why are German people starring“ und es war wirklich unerträglich, was in dieser weltoffenen von Touristen aller Länder überfluteten Stadt geschah, die Menschen starrten. Ja ich spürte es auch. In großen Städten passierte uns das nicht. Ob deshalb Ausländer lieber in großen Städten leben?
Für mich dagegen war seine Gegenwart eine tägliche Erfüllung. Yoga, Ayurveda, Meditation wurden so greifbar.
Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr praktiziere ich Yoga, mal mehr, mal weniger. Viele Yogapraktiken sind inzwischen automatisiert in meinem Leben und dennoch, gegen ihn bin ich Unwissend. Auch wenn er Yoga nicht oder ganz selten praktiziert, er ist Yoga. Sein entschleunigtes Wesen bremst alle deutsche Hektik oder besser, erstickt sie schon beim Einatmen. Bei jedem anderen Menschen wäre ich ungeduldig geworden, nur von ihm ließ ich mich verlangsamen und genoss es immer wieder. Erstaunlich war, dass er nie einen Zug oder Flug verpasste, die Regionalbusse allerdings fuhren schon mal ohne ihn ab. Ich entschied mich schnell, das zu lieben, war ich doch schon allzu oft über mich selbst gestolpert beim Hasten von einem zum nächsten Lebensabschnitt.
Er bemerkte, wenn ich aufhörte zu atmen. Natürlich fing ich an, mich zu kontrollieren und fragte mich, ob ich etwa zu laut atmete. Bisher wusste ich nicht, wie oft am Tage es mir regelrecht die Sprache verschlug. Auch wenn ich die Bedeutung des Atmens schon lange kenne, atme ich jetzt bewusster.
Mit dem Atmen kam auch Schritt für Schritt mein Interesse an einer scheinbar friedlichen bunten Religion, dem Hinduismus. Aus ihm stammt so viel Wissen. Einige Hausmittelchen meiner Großmutter entstammen der alten Lehre des Ayurveda.
In unserem Wochenendalltag stellte sich heraus, dass ich viel mehr über Ayurveda wusste als er, ich denke, das war aber nur theoretisch. Praktisch wendete er viel mehr an als ich, ohne es ayurvedisch zu nennen.
Über das Wort Ayurveda kamen wir beim Philosophieren zu den Veden und ich stellte fest, weder ich, noch meine Kinder, die durch den Schul-Ethikunterricht mit allen großen Welt-Religionen vertraut sein müssten, hatten irgendeinen Ahnung von der Bhagavad Gita. Das fühlte sich nicht gut an, ich wollte es wissen. Die Bhagavad Gita zu lesen in ihrem Versmaß und der sehr poetischen Übersetzung, war nicht einfach. Sicher ist das Original ebenso poetisch, es kam dem Lesen einer alten Shakespeare-Übersetzung nahe und Goethes „Faust“ schien mir rückblickend ein Kinderbuch dagegen zu sein. Aber ich habe es geschafft, die 700 Verse verteilt auf 18 Kapiteln zu lesen, allerdings habe ich geschummelt und mir eine zeitgenössische Übersetzung besorgt. Beeindruckend während meiner Recherche war, wie viele große deutsche Philosophen über die Bhagavad Gita geschrieben haben. Auch Adolf Hitler muss sie gekannt haben. Er hat schließlich die Svastika, das Sonnenrad, als sein Symbol missbraucht. Vielleicht kam es deshalb zu kurz in unseren Schulbüchern.
Mein Bücherschrank ist nun gefüllt mit Göttergeschichten aus dem Hinduismus, ob ich die allerdings wirklich alle lese, steht in den Sternen.
Apropos Sterne, ich habe während dieser Zeit auch die Astrologen nach meinem Leben befragt, das tut schließlich jeder Inder und lebt nach den Zeichen der Sterne. Da ich schon über 40 war, als wir uns begegneten, konnte ich zumindest die ersten Lebensjahrzehnte mit den Aussagen der Astrologen vergleichen und das hat mich begeistert und erschreckt zugleich. Es ist doch gut zu wissen, die Sterne lügen nicht.
Meine Erkundung durch die Götterwelt habe ich derzeit aufgegeben, denn wenn ein Gott mehrere Namen haben kann und es über 3 Millionen Götter im Hinduismus gibt, wo soll ich da anfangen. Einige kenne ich jetzt, zum Beispiel Krishna, der die 8. Inkarnation Vishnus ist. Ganesha liebe ich, wie jedes Kind, denn er ist einfach lieblich anzusehen, auch wenn die Geschichte hinter seinem Elefantenkopf grausam ist. Shiva ist keine weibliche Göttin, auch wenn der Name auf „a“ endet. Und da viele von ihnen Avatare sind, wurde unsere naive Liebe zu Avatar auch gefüttert.
Und nun? – Auch wenn wir inzwischen die Wochenenden nicht mehr miteinander teilen und seine Familie nie erfahren wird, dass es mich in seinem Leben gab, ist und bleibt er mein Kulturgeschenk.
Ich werde auch zukünftig und vermutlich noch mehr mit und nach den Regeln des Ayurveda leben. Yoga hat wieder Platz in meinem Alltag und zwar an jedem Tag. Ich träume inzwischen von einer Yogareise, am besten in einen indischen Ashram. Ohne Meditation will ich nicht mehr leben und in nächster Zeit erinnere ich mich bei meinen tiefsten Atemzügen.
Vielen Dank, Du uns bekannte Leserin unseres Blogs, dass Du uns an deinen Gedanken hast teilhaben lassen. Genieße das Gefühl, einer anderen Kultur so nahe gekommen zu sein, auch wenn sie zu fremd für diese Welt war.
Habt ihr ähnliche Erfahrungen – die Suche nach Liebe – erlebt? Dann könnt ihr hier sehr gern kommentieren.
Eure Yvonne
Sehr gern veröffentlichen wir auch eure Geschichten.
- 20. Jan 2017
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- Familie, Fremdsprache, Kultur, Liebe
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