Aber anderen geht es viel schlechter!


Heute Abend hat unsere Kolumnistin mindfulsun einige Reflektionen zu einem wichtigen Thema: Opfer-Wettbewerb.

Nicht erst seit der Corona Pandemie fällt es mir – besonders – auf Social Media auf:

Menschen berichten von ihren Problemen, erzählen was sie gerade belastet und in den Kommentaren findet sich manchmal:

„Aber anderen geht es viel schlechter!“

Auch in unserer Tollabea Facebook Community ist mir das aufgefallen. Als Kolumnistin für Tollabea liegt mir diese Community am Herzen und ich greife das Thema heute auf. Wir haben auch einige Zuschriften dazu erhalten.

Wenn ein Mensch sich öffnet und darüber berichtet, was ihn belastet stecken ja Bedürfnisse dahinter: Vielleicht das Bedürfnis nach Unterstützung oder mit dem Schmerz und den Problemen gesehen zu werden. Vielleicht ist es auch das Bedürfnis sich mitzuteilen, weil es sich dann weniger bedrückend anfühlt. Gehört und gesehen zu werden, ist vielen Menschen wichtig. Auch Scham spielt manchmal möglicherweise eine Rolle. Dinge teilen, die im direkten Umfeld auf Unverständnis stoßen würden.

Ein: „Das habe ich auch erlebt!“ und mitfühlende Worte können viel bewirken.

Wohlwollen, Austausch, Teilnahme und Mitgefühl können dabei helfen, sich wieder kraftvoll zu fühlen.
„Aber anderen geht es viel schlechter“ kann sich dagegen invalidierend, abwertend und schmerzvoll anfühlen.

„Ich verstehe dich. Ich kann das nachfühlen UND mir geht es auch nicht gut.“ (verkürztes Beispiel)
Das ist für mich die wertvollere Reaktion.

Dass ein Mensch in einer unangenehmen Lage ist, schließt nicht aus, dass es andere auch sind.
Es gibt für mich keinen Wettbewerb: Wem geht es schlechter? Wer sollte da auch der Richter sein?

Einen anderen Menschen zu beurteilen und zu bewerten – zu entscheiden, dass das was ihn belastet nicht so schlimm sein kann: Warum?
Auch diese Frage habe ich mir gestellt, als ich mich für diesen Artikel entschieden habe. Noch vor zwei Jahren hätte ich an dieser Stelle wahrscheinlich die Worte: empathielos, rücksichtslos, unverschämt… benutzt.

Heute weiß ich: Auch hinter einem „Aber anderen geht es schlechter“ stecken Bedürfnisse.

Und die versuche ich dann jeweils zu erkunden. Hat der Mensch, der das schreibt gerade selbst etwas, was ihm auf dem Herzen liegt und möchte sich mitteilen? Fühlt es sich nicht gut an, wenn er dann liest, dass die Themen von anderen die Aufmerksamkeit bekommen, die er sich selbst wünscht? Es kann so viele Gründe geben.

„Wer im Internet schreibt, muss mit Antworten rechnen.“ lese ich dann oft.

Für mich gilt auch die Kehrseite: Wenn ich im Internet kommentiere, besonders wenn es einem Menschen nicht gut geht, dann mit Mitgefühl und aus dem Bedürfnis heraus, etwas beizutragen. Wenn ich das Leben dieses Menschen nicht bereichern kann, dann verkneife ich mir jeglichen Kommentar. Bevor ich antworte, reflektiere ich: Was wurde in mir ausgelöst? Wie würde ich reagieren, wenn dieser Mensch vor mir steht?
Im Internet fehlen Mimik und Gestik, die machen einen Großteil einer Kommunikation aus.
Es ist sehr einfach, hier eine Grenze zu überschreiten und den Menschen nicht als eben diesen zu sehen.

Wie würde ich reagieren, wenn dieser Mensch vor mir steht und ich ihm in die Augen schaue? Das hat mir viel geholfen, anders zu kommentieren.

Online Communities – auch unsere Tollabea Community – sind oft ein wundervoller Ort des Austausches. Gehört werden, anerkannt werden, respektvoll mit den Standpunkten anderer Menschen umzugehen, mitfühlend zu reagieren, Neues zu erlernen: Das bedeutet nicht, nicht auch mal Dampf abzulassen!

Und das geht für mich ohne andere zu bewerten, zu verurteilen und zu beschimpfen.

„Ich möchte gern deine Geschichte hören und ich möchte verstehen, warum du so fühlst.“

Statt Argumente aufeinander zu knallen und die eigene Meinung zu untermauern, auf den anderen Menschen zugehen. Einfühlen: Warum reagiert er so? Was steckt dahinter? Wo kommen der Frust und die Verärgerung her? Wirklich hinhören und nachfragen, mit Empathie und der Bereitschaft, verstehen zu wollen.
Das empfinde ich als wertvoll, so entstehen Verbindung und Austausch.

Wir Menschen haben alle die gleichen Bedürfnisse, auch die Bedürfnisse nach Anerkennung, Sicherheit und respektiert zu werden.

Polarisierung und Diskussionen wird es wohl weiterhin geben, nicht immer sind wir der gleichen Auffassung. Wir haben alle unsere Erfahrungen im Leben und unsere Werte.
UND wir können miteinander in einen Kontakt treten, der unsere Menschlichkeit zeigt. Wir können achtsam dafür sein, wie wir miteinander umgehen und was wir sagen.

Zum Abschluss möchte ich noch auf eine Bewertung aufmerksam machen, die auch oft lese:
„Er / sie jammert.“

Wenn ich das, was ein anderer Mensch sagt oder schreibt, als jammern empfinde liegt das bei mir.
Das ist meine Bewertung! Hier schaue ich in mich: Was löst es in mir aus? Warum empfinde ich so?
Was steht da wirklich? Wenn jemand seinen Schmerz teilt, mitteilt, wenn er traurig ist, dann hat das womöglich auch Überwindung gekostet. Und dieser Mensch hat wahrscheinlich das Bedürfnis nach Mitgefühl und Zuwendung. Wenn ich dann genervt bin, oder überfordert mit dem was ich lese, scrolle ich weiter und bewerte das nicht in einem Kommentar.

Wir alle gehen durch schwierige Phasen im Leben und Solidarität ist etwas sehr Wertvolles. Mitfühlende Worte und offene Ohren sind es ebenso. Ein achtsamer und respektvoller Umgang miteinander kann viel bewegen: offline und online.

Namasté
mindfulsun

P.S.: Habt ihr schonmal gedacht: „Aber anderen geht es viel schlechter!“? Was steckte da für ein Bedürfnis dahinter? Was habt ihr empfunden?

Ich würde mich freuen, wenn ihr das mit uns teilt.

Béa Beste
About me

Schulgründerin, Mutter, ewiges Kind. Glaubt, dass Kreativität die wichtigsten Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist und setzt sich für mehr Heiterkeit beim Lernen, Leben und Erziehen ein. Liebt Kochen, reisen und DIY und ist immer stets dabei, irgendeine verrückte Idee auszuprobieren, meist mit Kindern zusammen.

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